Erklär«»«. Der Parteivorstand schreibt uns? Bei Gelegenheit der Erörterungen über die Vorgänge in der Redaltion der„Neuen Zeit " ist in einem Partciblatt die Behaup- hing aufgestellt worden, es habe schon längst in weiteren Parteikreisen der Gedanke Raum gefaßt, daß der„Vorwärts" und die„Neue Zeit" infolge Ab- hängigkeit vom Parteivorstand zuweilen das nicht sagen, was im Interesse der Partei zu sagen notwendig wäre. Da Andeutungen ähnlicher Art auch an anderer Stelle ge- macht worden sind, so sieht sich der Parteivorstand, um Partei- schädigender Legendenwirkung vorzubeugen, zu folgender Erklärung genötigt: Der Parteitvorstand hat in die Unabhängigkeit der Redakteure in keiner Weise eingegriffen. Er betrachtet den„Vorwärts" und die„Neue Zeit" nicht als offiziöse Organe, und es übt auf seine Haltung keinen Einfluß aus, ob der Inhalt von Artikeln ihm mißfällt oder nicht. Er erwartet vielmehr, daß die Redakteure stets das sagen, was im Interesse der Partei zu sagen notwendig ist. Der Parteivorstand müßte einen Redakteur als ganz ungeeignet für seinen Posten halten, der bei Abfassung seiner Artikel erwägen mürde, ob sie den Beifall des Genossen Bebel oder der übrigen Mitglieder des Parteivorstandes finden. Der Parteivorstand kennt auch in der gesamten Parteipresse keinen Redakteur, der sich vom Parteivorstand abhängig fühlt und der Charakterschwäche fähig wäre, seine eigene Meinung aus Rücksicht für den Parteivorstand zu unterdrücken oder abzuschwächen. Hat der Parteivoisstand so die freie Meinungsäußerung im vollsten Umfange gewahrt, so hat er doch die Verpflichtung nicht außer Auge gelassen, die ihm der Parteitag in> Jena 1305 aus- drücklich auferlegt hat, nämlich, dahin zu wirken, daß eine gehässige persönliche Art der Diskussion nicht Platz greife. Von diesem Gesichtspunkte aus hat er einmal, und zwar im vorigen Jahre, sich auch mit einem Artikel der„Neuen Zeit" be- schäftigen müssen Er hat damals aber keineswegs der Redaktion einen scharfen Tadel ausgesprochen, sondern hat nur in einem freundschaftlich gehaltenen Schreiben bedauert, daß der Artikel, der offene und versteckte persönliche Spitzen enthalte und— wie mildernd hinzugefügt wurde— wohl nur auf Grund ungenügender Zeitungsberichte geschrieben worden sei, unveränderte Aufnahme gefunden habe. Er hat dabei den dringenden Wunsch ausgedrückt, daß„persönliche Auseinandersetzungen, die der Partei selten nützen, nach Möglichkeit vermieden werden sollen". Der Partei- vorstand hat also seine Pflicht in schonendster Weise erfüllt. Aus der Stellung des„Vorwärts" als Zentralorgan und der „Neuen Zeit " als wissenschaftliche Zeitschrift der Partei ergibt sich, daß der Parteivorstand pflichtgemäß zu Beratungen über große Aktionen der Partei die Vertreter dieser Organe zuzieht. Das ist geschehen und wird fernerhin geschehen, ohne ihre Selbständigkeit irgendwie einzuengen. Berlin , den 11. Mai 1S12. _ Der Parteivorstand Vom amerikanischen Sozialismus. Der nächste Parteitag, dem wegen der Teilnahme einer Anzahl Delegierter mit nichtenglischer Sprache einige Uebersetzer beiwohnen werden, wird sich namentlich mit der Einwände- rungsfrage zu befassen haben. Der vorige Parteitag, 1313, hat eine Resolution H i l q u i t t angenommen, die sich gegen dir Einfuhr von Streikbrechern und den Massenimport von Arbeitern behufs der Schwächung von Organisationen wendet, im übrigen aber jede Ausschließung mit Rücksicht auf Nation oder Rasse ablehnt und die Ausrechterhaltung der Freistatt für alle wegen ihrer Nation, Religion oder politischen Gesinnung Verfolgten fordert. In diesem Jahre erwartet man die Stellungnahme zahl- reicher Delegierter gegen jede orientalische Einwände. r u n g. Wortführer dieser sind die Vertreter der Pacificküste Wilson und Untermann. Dort gilt bekanntlich die„gelbe, d. h. chinesische und japanische Gefahr" als eine Lebensfrage, die die in California sonst sehr aussichtsvolle sozialistische Partei zu einer ganz bestimmten Stellungnahme drängt. Die entgegengesetzte Ansicht, die nichts von der östlichen(dort westlichen� Einwanoerung fürchtet, wird von Spargo vertreten. Eine Resolution zugunsten des indu st r teilen UnioniS- m u s und gegen den korporativen Egoismus der alten Verbände wird die Vertretung des Staates Montana vorlegen, eine? Sitzes des nordwestlichen Erzbergbaus und eines der Ausgang?- punkte der syndikalistischen Bewegung. Zum Internationalen Soziali st ischen Bureau Kurde in der Urabstimmung eine Frau, Genossin Kate Richards O' H a r e, mit 8030 Stimmen gewählt. Auf den bisherigen Ver- treter M. H i l q u i t t entfielen 6887 Stimmen. Eine Zweidreiviertelmillionenauflage hat die Nummer 386(27. April) des in Girard, 5dansas, erscheinenden „Appeal to Reason", die speziell den Sünden und Ver- brechen der im Dienste der großen Ausbeuter stehenden Bundes- geeichte und einer Reihe ihrer Mitglieder gewidmet ist. An der Spitze steht ein Wort des jetzigen Präsidenten Taft:„Die Ver» waltung der Justiz in den Vereinigten Staaten ist eine Schande für unsere Zivilisation", dem dann freilich eine Lobrede desselben Taft auf dieselbe Justiz, die er sogar mit der von ihm im Himmel erhofften vergleicht, folgt. Eine Reihe Artikel und Notizen zeigen den beherrschenden Einfluß, den die„Interessen" auf die Recht- sprechung üben, natürlich vornehmlich zum Nachteil der Arbeiter, wie die infame Rechtsprechung in Haftpflichtfällen beweist. Der normale Abonnentenstand des„A. t. R." ist auf 437 303 gestiegen, steht also dicht vor der halben Million, trotzdem die Gründung neuer sozialistischer Wochen- und selbst Tagesblätter jetzt im Sturm- schritt vor sich geht._ Sozialistische Blindenliteratur. Von der„Neuen Zeit, Organ zur Pflege sozialistischer Welt- anschauung unter den Blinden deutscher Zunge" ist die Nr. 4 deS dritten Jahrganges erschienen. Das Heft hat folgenden Inhalt: Kapitalistische Sozialreform von Luise Zieh; Der Zukunftsstaat von A. Pannekoek: Der Kampf der Grubcusklaven von P. Richtsteig; Lesefrüchte; Blindenwesen. Hierzu die wissenschaftliche Beilage. Der Abonnemcntspreis der Zeitschrift, die in Braillescher Kurz- schrift gedruckt wird, beträgt bei sechsmaligem Erscheinen jährlich 3,60 M. für Deutschland u.<d Oesterreich-Ungarn und 4,60 M. für die übrigen Staaten. Anfragen und Bestellungen sind an A. Mendt, Berlin N. 39, Sprrngelstr. 1 zu richten. DaS Blatt wird nicht im Buchhandel Vertrieben, sondern kann nur durch die obige Adresse bezogen werden. Die Parteigenossen werden gebeten, die ihnen bekannten Blinden auf das Organ auf- merlsam zu machen._ potizeiUches, Gerichtlicbeo ulw. Der beleidigte Reichsvcrband. DaS Schöffengericht zu Altenburg verurteilte den Geschäfts- führer der„Altenburger Volkszeitung", Genossen Str'�ke, zu 300 Mark Strafe wegen angeblicher Beleidigung p-S Vor- standeS des Reichsverbandes, der Herren Liebert und Genvg�. Die Beleidigung wurde in einem Gedicht des humoristischen Silvester- blattcs„Silvesterglocken" gefunden, für das Genosse Stritzke der Ver- leger war. Auch das Leipziger Schöffengericht hatte die ramponierte Reichsverbandsehre wieder herzustellen. Angeklagt war der verant- wortliche Redakteur der„Leipziger Volkszeitung", Genosse Müller. Reich-verbandsgeneral v. Liebert fühlte sich durch einen Stichwahl- ' Dergntwortlichrr Mdsttruri SlHxi Mach?, Berlin . Für de» aufruf in der„Leivziger Volkszeitung" beleidigt. Gen. Müller soll 200 Mark Strafe zahlen._ Dr. Möller abgeblitzt. Herr Dr. Möller- München , bekannt geworden durch sein Buch gegen die. Ortskrankenkassen und durch seine Prozeffe gegen eine Anzahl Parteiblätter, fühlte Ende vorigen Jahre« das Bedürf- nis. auch den verantwortlichen Redakteur der Mannheimer „BolkSstimme" zu verklagen. Das Schöffengericht zu Mann- heim erkannte aber auf Abweisung d e r K l a g e, da sie zu spät anhängig gemacht wurde. Die Strafkammer bestätigte am Frei- tag die Verjährung._ Jugendbewegung* Zu« Kamps gegen die Arbeiterjugend. Am 28. Januar d. I. drang die Polizei zu Schkeuditz bei Leipzig in das dortige Arbeiteriugendheim, stellte die Namen der mit harmlosen Spielen beschäftigten jungen Leute fest und löste die„Versammlung" auf. Gegen sechs junge Leute wurde ein polizeilicher Strafbefehl über je 3 M. erlassen, weil sie an einer politischen Versammlung teilgenommen und gegen ß 17 des famosen Reichsvereinsgesetzes verstoßen haben sollten. Aus er- hobenen Einspruch kani das Schöffengericht zu einer Frei- s p r e ch u n g. Die Polizeibeamten mußten in der Verhandlung selbst zugeben, daß keine Bersamnilung stattgefunden hatte. die jungen Leute sich vielmehr nur mit Spielen beschäftigten. Arbeiterjugend. Aus dem Inhalt der soeben erschienenen Nr. 10 heben wir her- vor: Die Jugendpflege im sächsischen Landtage.— Auch ein Prole- tarier.(Schluß.) Von Roland.— Adam Smith . Von Wilhelm Schröder.— Etwas von der Apfelsine.(Illustriert.)— Ein bürger- liches Jugendheim. — Vom Kriegsschauplatz. Die Gegner an der Arbeit. Aus der Jugendbewegung usw. Beilage: Der Zeitungsjunge. Erzählung von Edgar Hahne- Wald.— Die Zaubersprüche von Merseburg . Bon Otto Koenig.— Der Brief und seine Geschichte. Von R. Wagner. (Illustriert.)— Wie verschaffen wir uns Nachtquartier bei Jugendwanderungen? Von G. Engelbert Graf.— Die Rose. Gedicht von Otto Krille. — Der Giftpilz. Märchen von C. Manfred Khbrr.— Geländespiele. Soziales* DaS Kinberschutzgefrtz steht auf dem Papier. I« Jastr««(Westpreußen ) unterzog unlängst der Gewerbe. inspektor die Bäckereibetriebe einer Revision darüber, ob vor 8 Uhr morgens schulpflichtige Kinder mit dem Austragen von Backware beschäftigt würden. Die Folge der Ermittelungen war. daß gegen sämtliche Bäckermeister der Stadt ein Verfahren wegen Ueber- tretung des Kinderschutzgesetzes eingeleitet werden mußte. Bei ungültiger Kündigungsfrist gilt die sechswöchige zum Quartalsschluß. Eine Kammer deS Berliner KaufmannSgerichtS und auch daS Chemnitzer Kaufmannsgericht haben beide entschieden, daß bei Vereinbarung einer ungültigen Kündigungsfrist für Handlungs- gehilfen, etwa einer vierzehntägigen, nur die einmonatige Kündi. gungSfrist an deren Stelle tritt. Die überwiegende Anzahl der deutschen KaufmannSgerichte und die oberen Gerichte sind aber der zutreffenden Ansicht, daß in einem solchen Falle nur die sechs- wöchige vor dem Quartal in Frage kommen kann. In einem dieser Tage für daS Berliner Kaufmannsgericht erstatteten Gutachten hat sich nun auch das Aeltestenkallegium der Berliner Kaufmann- schaft mit Recht auf denselben Standpunkt gestellt. Auf die an das Aeltestenkollcgium gestellte Frage der kaufmännischen oder gewerb- lichen Zugehörigkeit einer Schlächtcrmnnisell erwiderte erstcrcs, daß, wenn es sich um reine Verkaufstätigkeit handelt, auch die Schlächtermamsell kaufmännische Angestellte ist. Sie hat dann, so sagt das Gutachten weiter, Anspruch auf Gehaltszahlung bis zum Ende des laufenden und, wenn nicht sechs Wochen vorher gc- kündigt ist, bi« zum Ende des folgenden Kalendervierteljahres. Auch ändern daran Vereinbarungen nichts, wenn sie nicht wenigstens eine einmonatige Kündigungsfrist zum Schluß des Kalendermonats vorsehen._ Anfechtung eines Arbeitsvertrages wegen Irrtums. Der Hausdiener O. war von dem Apothekenbesitzer Oskar Fuchs gegen einen Wochenlohn von 23 M. bei achttägiger Kündigungs- frist engagiert, aber schon nach einigen Tagen ohne voraufgegangene Kündigung wieder entlassen worden. Er klagte deshalb beim Ge- Werbegericht auf Zahlung eines Wochenlohnes. Der Beklagte wandte ein, er habe erst nachträglich erfahren, daß gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen Diebstahls schwebe. Hätte er vorher davon Kenntnis gehabt, dann wäre der Kläger nicht ein- gestellt worden. Die vom Gewerbegericht eingeforderten Polizei- alten bestätigten, daß gegen den Kläger ein Strafverfahren schwebe. Dieser gab auch zu, in einer Stellung Gegenstände genommen zu haben, aber nicht unrechtmäßigerweise. In der Stellung bei dem Beklagten ist nichts vorgekommen, was den Verdacht der Unehrlich- keit aufkommen lassen konnte. Die Kammer 8, unter Vorsitz deS Magistratsrats Schultz, be- schloß, die Sache bis zur Erledigung des Strafverfahrens aus- zusetzen. Werde der Kläger verurteilt, dann sei seine sofortige Entlassung berechtigt gewesen, denn nach Z 113 des Bürgerlichen Gesetzbuches könne eine Willenserklärung, die im Irrtum ab- gegeben wurde, angefochten werden. Als Irrtum gelte auch die Unkenntnis über solche Eigenschaften der Person, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden. Bei einem Hausdiener müsse aber als im Verkehr wesentlich angesehen werden, daß er ehrlich ist. Unberechtigter Lohnabzug durch dis„Deutsche Tageszeitung". Die„Deutsche Tageszeitung" beschäftigt eine Anzahl ZeitungS- Händler, die für bestimmte Stunden des Tages verpflichtet sind, nur diese Zeitung �u verkaufen, während es ihnen gestattet ist, in der übrigen Zeit für eigene Rechnung auch mit anderen Zeitungen zu handeln. In einem Vertrage, den der Verlag der „Deutschen Tageszeitung" mit den ZeitungShändlern abgeschlossen hat, steht unter anderem auch der Passus, daß jeder Händler sofort entlassen werden kann, der dabei betroffen wird, daß er andere Zeitungen in den für die„Deutsche Tageszeitung" bestimmten Stunden verkauft. Als solche galten die Stunden von?L8 bis 9411 Uhr vormittags und von bis 8 Uhr nachmittags. Die Entschädigung beträgt 3 M. pro Tag; den Erlös für die Zeitungen behalten die Händler für sich. Ein Zeitungshändler, der sofort entlassen worden war, weil er auch die„Tägliche giundschau" verkauft haben sollte, klagte gestern beim Gewerbegericht gegen den Verlag der„Deutschen Tageszeitung" auf Zahlung des Lohne ? für einen halben Tag, Aus- stellung einer Arbeitsbescheinigung und Schadenersatz infolge nicht rechtzeitiger Ausstellung einer solchen. Außerdem wurde noch die Rückerstattung von 80 Pf. Jnvalidenbeiträge geforderr. Die Beklagte hatte dem Kläger nicht weniger als 6 Beiträge vom Lohn abgezogen. Die Kammer 8 unter Vorsitz des Magistratsrats Schultz an- erkannte, daß ein Anstellungsverhältnis vorliege, weil die be- treffenden Händler für eine bestimmte Zeit des Tages nur für die Beklagte Dienste zu verrichten verpflichtet waren. Der Kläger war demnach berechtigt, eine Arbeitsbescheinigung zu verlangen. Einen Schadenersatz könne er aber nicht beanspruchen, da es im all- gemeinen nicht üblich sei, daß Zeitungshändlern eine solche Arbeits- bescheinigung ausgestellt werde. Auch auf den halben Tagelohn könne Kläger keinen Anspruch erheben, da er die Vertragsaufhebung verschuldet habe. Die Rückerstattung der Bettrage für int Yn. validenversicherung aber stehe ihm unbedenklich zu, da nach dem Gesetz höchstens zwei Beiträge nachträglich in Abzug gebracht werdenydürfen. �.... Die„Deutsche Tageszeitung" sollte eigentlich das Berbet pcs Abzuges der Jnvalidenmarken in größerer Höhe kennen. Liebesopfer einer Universitätsstabk. Aus Halle a. S. schreibt man uns: ES dürfte eine Darlegung von Interesse sein, die zeigt, welche ungeheuren Opfer hier inner- halb eines Monats„auf dem Gebiete der Liebe" in Strafgerichts- sälen von jungen Proletarierinnen gefordert wurden. Ein Referendar Richter hatte mit einer L0jährigen Modistin Schellwien ein Liebesverhältnis angebändelt. Nach reichlichem Genuß der Liebesfreuden kam es zwischen beiden in einem Theater zu einem Auftritt, bei dem er den Mut fand, der Geliebten vor- zuwerfen, sie möge sich hüten, daß sie nicht unter Kontrolle komme. In ihrer Verzweiflung zog die Modistin einen Revolver und schoß nach dem Referendar, der unerheblich verletzt wurde� Sie kam vor das Schwurgericht und wurde wegen versuchter Tötung unter Berücksichtigung ihrer verzweifelten Lage zu einem Jahre Ge- fängnis verurteilt. Die Ltjährige Schneiderin Ella Schmidt hatte sich mit einem Einjährigen eingelassen. AIS sie ein Kind gebar, tötete sie eS in ihrer Notlage. Das Schwurgericht verurteilte sie nach unter Aus- schluß der Oeffentlichkeit stattgehabter Verhandlung wegen Kindes- mordes zu der niedrigst zulässigen Strafe von zwei Jahren Gc- fängnis. Ein hier studierender sehr wohlhabender Agronom knüpfte mit der jungen Verkäuferin Karl ein Verhältnis an. Beide bewohnten in einem„vornehmen Stadtteil" eine ganze Etage. Nach genossenen Liebesfreuden erklärten sich Verwandte des Studierenden gegen das Verhältnis. Wie könnte auch ein Großagrarier eine arme Verkäuferin heiraten. Er bot ihr eine Abfindungssumme von 1500 M. Sie bedrohte den Bermögensverwalter ihres Geliebten mit einem Revolver und wurde von der Strafkammer zu acht Wochen Gefängnis verurteilt. Beantragt waren neun Monate. Der cand. jur. und Fähnrich der Reserve Mileck von hier floh wegen eines Vergehens nach Antwerpen . Zu seinem Amüse- ment nahm er seine Geliebte, eine junge Kontoristin, und ein junges Dienstmädchen mit. Als die beiden Mädchen von ihm dort gemein und schlecht behandelt wurden, vergriffen sie sich an den Barmitteln des Rechtsgelehrten und fuhren wieder nach Halle. Er stellte fern vom Schuß gegen die beiden Mädchen Strafantrag; die Unglücklichen wurden wegen Eigentumsvergehens vom Schöffen- geeicht zu vier bczw. zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Kuhftall als SchulhauS für Zoppök. Am Strande der Ostsee liegt, eine gute Meile von Danzig ent. fernt, das Luxusbad Z o p p o t. Die Riviera der Ostsee nennt eS sich und für die Angehörigen der besitzenden Klassen gibt es dort allen erdenklichen Komfort. Ein gedeckter Reitsaal, Tennisplätze, Wäldoper, Segeljachten u. a. sorgen für Zerstreuung der„Er- holungsbedürftigen". Und als Krone des ganzen darf das neu- erbaute Kurhaus betrachtet werden. Dieses Kurhaus, das bisher 2 346 316 M. gekostet hat, das noch nicht fertig ist und von dem nie eine spezialisierte Abrechnung der Stadtverordneten- Versammlung unterbreitet werden wird, weil, wie der Magistrat in der Stadtberordnetensitzung vom 26. April dieses Jahres aus- führte,„anläßlich des jetzigen Verhältnisses zur Bauleitung eine positionsweise Abrechnung nicht zu erreichen ist". Mit dieser Er- klärung gaben sich die Stadtverordneten zufrieden. Der Bau, der viele Hunderttausende mehr kostete, als vorgesehen wurde, ist da- mit bis auf die»och ausstehenden Rechnungen erledigt. Aber nun die Kehrseite des ganzen. Dasselbe Zoppot , das für die Neichen nie mit der Bewilligung von Geldmitteln kargt, besitzt noch heute kein Krankenhaus. Verunglückt jemand, dann muß er nach Danzig oder Neustadt geschafft werden. Ein solcher Transport mittels Sanitätswagens bringt außer der Verschlechte- rung im Befinden für den Patienten 13—28 M. Unkosten mit sich. In dem gleichen Zoppot lehnten die Stadtverordneten im Jahre 1310 eine Vorlage des Magistrats ab, in der dieser für die Er- bauung eines Armenhauses 40 000 M. beantragte. Das ac» schah in derselben Sitzung, in der die Stadtväter für eine Fest» schmauserei zur Einweihung des neuen Kurhauses 6287 M. bewilligten. Alle diese Dinge werden neuerdings durch die Tatsache überboten, daß die Zoppoter Kommune einen Kuhstall als Bolks- schule einrichten läßt. Vor einiger Zeit kaufte die Stadt Zoppot daS Gut Carlikau, daS dem verstorbenen freisinnigen Abgeordneten R i ck e r t gehörte. Die Zoppoter Volksschule ist zu klein; mehrere Klassen mußten be- reits in gemieteten Räumen untergebracht werden. Für den ge- planten Neubau eines Schulgebäudes war kein Geld vorhanden. So wurde die Genehmigung zum Umbau eines auf dem ehemalige» Gutshof befindlichen W i r t s ch a f t s gebäubeS in ein Schulgc- bäude nachgesucht. Das Wirtschaftsgebäude erwies sich dann für einen Umbau zu baufällig, da eS bereits über 100 Jahre alt ist. Nun ging man an die Ummodelung des Stalles, der noch im Jahre 1310 zur Unterkunft von Rindvieh und während des Manövers 1311 zur Einstallung von Militärpferden diente. Das Gebäude wird in seinem Innern etwa 1,20 Meter tiefer ausgeschachtet, gleicherweise wird außen die Erde abgegraben. Auf der Rückseite— wo auch die Fenster ausgebrochen werden— ist die in ihrem unteren Teile aus behauenen Feldsteinen aufgeführte Mauer teilweise durch Zigelmauerwerk erneuert. Als Fenster und Türen finden die vom Abbruch deS alten Kurhauses übriggebliebenen Reste Verwendung. Das Bauwerk soll fünf Klassen aufnehmen. An die Zeit, da in diesen Räumen noch das geduldige Hornvieh herrschte, erinnert in der Mitte jeder Klasse ein wurmstichiger, in seiner unteren Hälfte erneuerter Ständer. Er legt zugleich Zeugnis ab, wie in einer sozialistenreincn Stadtverwaltung Kulturinteressen gewahrt werden, Fürsorgeerziehung in Württemberg . Ueber die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württenkerg im Rechnungsjahr 1310 veröffentlicht das Kgl. Statist. Landesomt einige Angaben, die zum Teil von dem abweichen, was man bisher als feststehende Tatsache angenommen hat. andererseits aber alte Erfahrungen zahlenmäßig erhärten. Im ganzen unterstanden im Jahre 1310 der Fürsorgeerziehung 2232 Kinder. 1333 Knaben und 833 Mädchen. Von diesen waren ehelich geboren 1782:= 78,9 Proz, unehelich geboren 480— 21,1 Prozent. Bon den 387 im Jahre 1310 neu Eingewiesenen waren 308 Zöglinge— 78,8 Proz. von ehelicher Abkunft, unehelich geboren waren 82 Zöglinge 21,2 Pro». Die Beteiligung der Unehelichen an der Zahl der Zöglinge ist wesentlich höher als nach der Zahl der unehelichen Geburten zu erwarten wäre. Im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts 1900/1309 kamen auf 100 Geburten überhaupt 8,8 uneheliche. Auffallend ist, daß die in geistiger oder körperlicher Beziehung anormalen Zöglinge eine sehr kleine Minderheit bilden. Von den 387 neu Aufgenommenen waren es nur 8. Vorbestraft waren 112 Zöglinge. Unter den 300 nicht selten durch Vorstrafen der Eltern belasteten Familien, aus denen im Jahre 1910 Kinder in Fürsorgeerziehung gekommen sind, befindet sich eine Familie, die 6, zwei Familien, die je 4, und acht Familien», die je 3 Kinder in Für, sorgeerziehung stehen haben. „Schlechte Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der Eltern. mögen sie verschuldet oder unverschuldet sein, begünstigen naturgemäß die Verwahrlosung der Kinder." bemerkt der amtliche Be- richterstatter. Zum Beweise dieser alten Erfahrungstatsache führt er an, daß von den 300 Familien, aus denen die im Jahre 1910 eingewiesenen Zöglinge stammen, nur 22 ein Jahreseinkommen von über 1800 M. hatten, 43 ein solches von 1000 bis 1800 M., 80 Familien von 800 bis 1000 M.. 27 Familien unter 800 M., 8 Familien waren ohne Einkommen, bei 144 Familien war das Einkommen nicht zu bestimmen. 87. Eltern wurden aus öffent, lichen Mitteln unterstützt._ LnseratenwU verantw.: Th. Glocke. Berlin . Druck».Verlag: Vorwärt» Buchdrucker« u. Vertagsanjwlr Paul Tmger u-Co.« BerUu HW»
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