Leistungsfähigkeit voraussetzen. Beim Planen tritt vor-wiegend mehr die geistige, beim Handeln mehr die sittlichePersönlichkeit in Tätigkeit, und doch müssen sich geistigesKönnen und sittliche Kraft fortwährend stützen und ergänzen."An dieses Ideal des Feldherren, das General v. Bern-Hardt hier zeichnet, erinnert das Leben Viktor Adlers. Aberzu anderen Zielen lebt er und nicht Vernichtung, sondernErhöhung des Lebens dürfen wir ihm danken dem gutenArzte.____Die belglfchen Wahle».Brüssel, im Juni.(Eig. Bericht.)in.Die klerikale Majorität.Die Opposition hoffte die klerikale Partei zu schlagen und siehtnun deren Position gestärkt, die zusammengeschrumpfte alte Majoritätvon S auf 16 Stimmen hinaufgeschnellt. Ein Triumph, sicherlich IAber doch minder grotz, minder imponierend, als es nach dieserZiffer zu urteilen den Anschein hat. Denn was drücken diese16 Stimmen aus, welche politische Kraft strahlen sie aus? Welchereelle Macht repräsentieren sie?Man kennt wohl autzerhalb Belgiens ein wenig die„Chinoiserien"seines Wahlrechts, aber weit weniger seine schreienden Ungerechtig«leiten, seine perfiden Tücken und Tricks— vielleicht deshalb nicht,weil schon ein vaterländisches Interesse dazu gehört, sich in dasGestrüpp seiner logischen und rechnerischen Fallstricke zu begeben.Wir wollen hier dem Leser einige an der Hand von Beispielen an-schaulich machen, um zu zeigen, auf welch tönernen Füßen derklerikale Koloß ruht. Ohne Bild gesprochen: auf welchem Trugdiese klerikale Mehrheit von 16 Stimmen aufgebaut ist.Die Klerikalen haben am 2. Juni um rund 80 006 Stimmen*)mehr bekommen, als die Liberalen und Sozialisten zusammen.Diese 80 000 Stimmen gäben aber bei einer korrekten und ehrlichenAnwendung der Verhältnisvertretung den Klerikalen höchstens einenAnspruch auf— s e ch S Sitze. Um 16 Stimmen Majorität unterder Verhältnisvertretung zu rechtfertigen, müßten die Klerikalenmindestens auf ein politisches Uebergewicht von 160 000 verweisenkönnen, da der Wählerguotient— d. h. die Stimmenzahl, dienötig ist. am ein Mandat zu beanspruchen— durchschnittlich über10000 Stimmen beträgt.Wie ist es aber unter der derzeitigen unehrlichen, wie man sehenwird, ganz zugunsten der Klerikalen verfälschten Verhältniswahl mitdiesem Wählerquotienten überhaupt bestellt? CS zeigen sich da diemerkwürdigsten Unterschiede, wenn man den Wählerquotienten dervlämisch-klerikalen lbäuerlichen) Wahlkreise mit dem derwallonisch-antiklerikalen �städtischen) Wahlkreise vergleicht. DerWählerquotient im vlämischen R o u l e r s beträgt z. B. 98S0.im wallonffchen Thuin 10164 Stimmen! In Turnhout, inTermonde, in Brügge, in Courtrai, wo die Klerikalendie Sitze ihrer klerikalen Plnralwähler zu verteilen haben, beträgtüberall der Quotient nur etwas über 10000 Stimmen. InNivellos.in Mons, inTournai inHuy, in Dinant,wo die aufgeklärte antiklerikale und demokratische wallonische Be-Völkerung zu wählen hat, beträgt der Wählerquotient zwischen 14 000und 16 0001, so daß also nach der raffinierten Abgrenzung der�Mffissenden, ganz im Banne deS Klerus gehaltenen Landbevölkerungvon vornherein ein politisches Uebergewicht gegenüber der städtischenBevölkerung»kngeräumt ist, und die Klerikalen weit geringere An-strengunge» machen müssen, um ein Mandat zu gewinnen, als dieOppositionsparteien. WaS folgende Ziffern noch treffender belegen:Im Wahlkreis von T o u r n a i geben 67 000 Stimmen dreioppositionelle Abgeordnete; in Löwen 66 000 Stimmenvier klerikale Abgeordnete! In Noulers sFlandern) findgar nur 49 200 klerikale Stimmen nötig, um fünf klerikaleMandate zu ergattern. In N i v e l l e s(Brabant) kamenauf die vereinigte Opposition bei fast 44 000 Stimmenzwei Sitze! In Tournhout<Flandern) geben 40 770klerikale Stimmen vier Majoritätsdeputierte. InThuin erhalten die vereinigten Oppositionsparteien bei 38 300Stimmen zwei Sitze; in Brügge brauchen die Klerikalen nur32 600 Stimmen für drei klerikale Sitze! In den großenStädten ist es nicht besser. In Lütt ich haben Liberale undSozialisten bei fast 132 000 Stimmen neun Deputierte. InAntwerpen dagegen haben die Klerikalen bei nur 134 000Stimmen 12 Deputierte!In Charleroi kommen auf fast 127 000 oppositionelleStimmen acht Deputierte!— Und die Liste ist noch nicht er-schöpft.— Eine andere Art der Ziffernlese führt zu. dem Ergebnis,daß die klerikale Partei ihre starken Majoritäten ausschließlich inden ländlich-bäuerlichen Wahlkreisen einheimst, wohin kein die Geisteraufrüttelndes industrielles Leben gedrungen ist. Von den zwanzigwallonischen Wahlkreisen haben die Klerikalen nur in vierWahlkreisen die Majorität und das find just jene,wo die Industrie bisher zu keiner Bedeutung gelangt ist..Mehrstimmenwahlrecht--- Bauernwahlrecht" sagt man in Belgien.Ein Beispiel für viele: Im B r ü s s e l e r Wahlkreis haben durch-schnittlich 44 Proz. Wähler Pluralstimmen, die ländlichen Teile64 Proz. In der Tat siegen da die Klerikalen in manchen Land-gemeinden mit einer wahrhaft zerschmetternden Majorität. ES sinddort freilich oft Wähler, die man mit einem eingemachten„BSts deveau"(KalbSkopf) bezaubern und in Versammlungen bringen kann.Ueverflnssig zu sagen, daß dieses aus dem perfidesten Parteiinteressegeborene Wahlrecht wie den Bauer gegen den Städter, den Arbeitergegen den Kleinbürger ausspielt und auch nach dieser Richtung diepolitische Kräfteauslösung fälscht, die polilische Macht der Auf-geklärten und Aufrechten künstlich schwächt.Der unehrlich angewandte Proporz, die raffinierte Wahlgeometrieder kleinen Wahlkreise für die Klerikalen und das vorzugsweise zu-gunsien der Majorität funktionierende Pluralwahlrecht tragen, wieman sieht, ganz eigentlich zur Befestigung de» klerikalen Regimesbei, und man begreift, daß diesem unredlichen, parteiischen,trugvollen Wahlsystem auch bei Einrechnung aller übrigenhier bereits gewürdigten Tatsachen der größere Anteil an dem Siegmit den 16 Stimmen Majorität zugesprochen wird. Zur Feststellungdes Wertes dieser 80 000 Stimmen betragenden politischen Ueber-legenheit, sei noch bemerkt, daß sich in der Gesamtsumme derklerikalen Stimmen rund eine Million Pluralwähler vor-finden. Der moralische Wert dieses Stimmengewichts ergibt sichallerdings erst ganz, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 9000 vomStaate besoldete Priester sich des Dreistimnienprivilegserfreuen, was schon 27 000 priesterliche Plural-st i m m e n ausmacht. Außerdem stimmen noch ungefähr 20000 Geist-liche, die sicher nicht weniger als 40 000 Pluralstimmen für dieRegierung abgeben. Eine Partei der Armen im Geiste, der An-alphabeten, der Pfaffen, diese belgischen Klerikalen I*) Wir haben in unserem ersten Artikel, gestützt auf frühere Be-rechmmgen, eine andere Ziffer angegeben. ES ist auch nicht gesagt,daß nicht auch diese Ziffer eine Berichtigung erfährt. Die mathe-matische Unsicherheit gehört mit zu den charakteristischen Eigentum-lichkeiten des belgischen Wahlsystems.Schlußfolgerangen.Man kann nicht anders sagen, als daß Belgien hypnotisiert warvon dem Gedanken und der Ueberzeugung, die gemeinsam« oderparallele Aktion und das Kartell werden dem politischen Klerikalismusendgültig beikommen.(Man weiß, daß das sozialistifch-liberaleKartell oder nur die sogenannte.Juxtaposition"— ein Verfahrenmit gemeinsamen Listen, wo aber jede Partei für ihre Kandidatenstimmt— hauptsächlich darum Anwendung fand, um den Verlustder unvertretenen Stimmen, der.Dechets", zu verringern. Dennwährend die Regierungspartei die Ueberschüsse nur einmal verliert,verliert die Opposition das Doppelte, d. h. die Ueberschüsse derListen zweier Parteien.) Man rechnete und rechnete und stellte so-zusagen mathematisch fest, daß die Verschmelzung der Kräfte vonBürgertum und Arbeiterschaft die Befreiung herbeiführen müßte.Aber bei all der Rechnerei, über die sich die liberale„Etoile" nichtohne Geist und mit vielem Recht moquiert, Hab man die Ziffernmechanisch-mathematisch, aber ohne Psychologie eingestellt. DieZiffern stehen auf dem Papier— aber die Wähler sind lebendig...So hat man Kräfte addiert, die flink und ohne Federlesen desertiertsind und den Posten des Gegners nur erhöht haben. Neben der Nieder-läge des Liberalismus rangiert demnach die Niederlage des Kartells,das so gründlich gescheitert ist, daß ihm wohl hüben wie orübenkein Verteidiger und Widersacher mehr erwachsen wird. Begrabendamit ist auch die Idee, daß nur das verbündete Vorgehen derOppositionspärteien den KlerikalismuS niederstrecken kann. DiePraxis hat es ergeben, was vordem als theoretische Prinzipien-versteiftheit verschrien war. So gut und geschickt das antiklerikaleGewebe gesponnen schien, das Band der Klaffen- und Interessen-gemeinschaft ist aus kräftigerem Faden gesponnen und keine Ideologiezerreißt ihn. Hinter dem Kartell der Ideen und Ideologien etabliertesich das Kartell der Geldsackintrressenten und desKlassenegoiSmuS. Selbst im milden Licht der Wahlbündnissesah der erschreckte Bourgeois den roten Feuerschein des Kollektivismusaufleuchten und das belgische Proletariat erfuhr zu seiner Genug-tuung, daß das zeitweise gespendete verdächtige Lob, der bel-gische Sozialismus sei.vernünftig" und daher weniger„gefährlich"geworden, beim wohlsituierten Bürger nicht zieht.... Der Arbeiternimmt außer der bitteren Enttäuschung des Wahlresultats noch diegesunde Erkenntnis vom 2. Juni mit, daß er im bürgerlichen Be-wußtsein mit dem Stigma der Kapitals- und GesellschaftSseindlichkeitnach wie vor behaftet bleibt....DaS belgische Proletariat geht neu gekräftigt in seinen Reihenmit vermehrter Deputiertenzahl aus dem Wahlkampf. So gerecht-fertigt die Aschermittwochstimmung. des Liberalismus ist, so wenigUrsache hätte! das belgische Proletariat dazu— bei allem schmerzlichenGroll über den Wahlausgang. Nie stand es im Gegenteilum den Gel st nicht nur, sondern auch um dieOrganisationen des Sozialismus in Belgienbesser als heute. Die gewerkschaftlichen KadreS wachsen anund ein zu klarem Wirken sich sammelnder sozialistischer Geist trittimmer sichtbarer in Erscheinung. Neben der schönen, aus dersprudelnden Quelle der Rasse gespeisten Begeisterung deS belgischenProletariats wächst ein organisatorisches Streben empor, dasdem wuchernden Samen des Sozialismus allenthalben Früchte ver-heißt.Das Bürgertum hat im Kampf gegen den KlerikaliSmuS versagt— seine Bundesgenossenschaft hat sich als fehl erwiesen. Um sodringlicher meldet sich die Notwendigkeit des Kampfes um dasgleiche Recht. Ein anderer Ausgang der Dinge am 2. Jnni hättemit einem Sieg der Oppositton dem belgischen Proletariat Problemeund kaum entrinnbare Dissonanzen gebracht. Die Geschichte schaffteeine andere Linie der Entwicklung. Und alle Kräfte ungebrochenden: nächsten Ziel, der Erringung des allgemeinen, gleichen Wahl-rechts gestellt, schickt sich das belgische Proletariat zum Kampfean. Die kommende Zeit wird von ihm erfüllt sein. Die belgischeArbeiterschaft rüstet...._Der Krieg.Die Jtalienerausweisung.Konstantinopel, 22. Juni. Die Abreise kleiner Gruppen vonItalienern dauert fort. Bis gestern hat das deutsche Konsulatfür 8203 Personen Pässe ausgefertigt. Die italienischen AerzteWerden bis Dienstag abreisen. DaS italienische Spital wird ge-schloffen und die Kranken werden in das österreichische Spital undandere Krankenhäuser übergeführt werden. Die Zahl der hiergebliebenen Italiener übersteigt nicht 600. Der italienische Vize-konsul, ein Dragoman und ein Kanzleibeamter bleiben als derdeutschen Botschaft zugeteilt hier. Auch Botschaftsrat Garbassowird vorderhand hier bleiben.Saloniki, 22. Juni. Die Ausweisung der Italiener ist hierbeendet. Die BeHorden gestatteten insgesamt 187 italienischenStaatsangehörigen, ausnahmsweise, hierzubleiben.Rückkehr der deutschen Rote Krcuz-Mission aus Tripolis.Berlin, 22. Juni. Die vom Deutschen Roten Kreuz zu Beginndieses Jahres auf, den Kriegsschauplatz in Tripolitanien entsandteHilfsexpedition ist nach nahezu fünfmonatiger Tätigkeit in dieHeimat zurückbeordert worden. Die gesamte Einrichtung des vomDeutschen Roten Kreuz in Gharian errichteten Lazarettes und derdamit verbundenen Poliklinik, in der schon weit über 1000 Pa-tiewten, größtenteils Typhuskranke, durch deutsche Aerzte undPfleger behandelt worden sind, wird den türkischen und arabischenVerwundeten und Kranken auch fernerhin zugute kommen. Dieganze Anlage ist vom Zentralkomitee der Deutschen Vereine vomRoten Kreuz bei der Abreise der Expedition in die Heimat dem„Türkischen Halbmond", der ottomanischen Schwestergesellschaftdes Roten Kreuzes, überlassen worden.poUtileke deberNcbt.Berlin, den 22. Juni 1912.Bochnmer Streikjustiz.Die gesamten Streikanklagen zerfallen hinsichtlich der Straf-antragsteller bezw. derjenigen Personen, die die Anzeige erstatteten,nur in zwei Kategorien. Einmal sind die Anzeigen von dienstbe-flissenen Polizeibeamtcn und Zechenbeamten erstattet, zum anderensind Strafanträge meist von solchen Leuten gestellt, die mit den be-treffenden Angeschuldigten irgendwie verfeindet sind. Daß Arbeits-willige aus eigenem Antriebe Strafantrag gestellt haben, ist nurselten vorgekommen.Der Anteil der hier bezeichneten Anzeigen an der Gesamtzahlder verhandelten Streikprozesse ist außerordentlich hoch. Immerwieder müssen die angeblich beleidigten Arbeitswilligen als Zeugenbestätigen, daß sie mit den Angeklagten arg verfeindet find. Auchnur aus dieser Tatsache läßt sich erklären, was hier alles zum Ge-genstand einer Anklage gemacht worden ist. So ist u. a. berichtetworden von Beleidigungen durch die Decke(vom dritten in den zwei-ten Stock), von Beleidigungen durch eine zufällig auf die Fenster-bonk zum Abkühlen gestellte Pfanne Bratkartoffel und in Bochumist in diesen Tagen ernstlich und umständlich über eine Beleidigungverhandelt, die von der Parterrewohnung aus gegen eine im drittenStock des gleichen Hauses wohnende Frau eines Arbeitswilligenerfolgt sein sollte. Die angeblich beleidigte Frau erhärtete durchihren Eid, daß sie in ihrer Wohnung im dritten Stock gehört habe,daß die parterre wohnende Angeklagte sie beleidigt habe. DerStaatsanwalt hielt eine solche Wahrnehmung durchaus für möglichund beantragte eine Geldstrafe. Das Gericht kam jedoch zu einemFreisprach der indessen nicht auf die ungeheuerliche Bekundung derZeugin allein gestützt war. Die Belastungszeugin, die zugegebener-maßen mit der Angeklagten verfeindet war, hatte in einem anderenProzesse eine ähnlich merkwürdige Rolle gespielt. Die Richter hattenihr Zeugnis zu einer Verurteilung der angeklagten Frau nicht fürausreichend erachtet. Das Urteil machte den Gerichtshof stutzig.Die zweiten Richter kamen deshalb nach gründlicher Prüfung derPerson der Bclaftungszengin zu dem Resultat, daß die Zeugin zubeschränkt erscheine, um vollen Glauben zu verdienen. Aufdem Gerichtskorridor wußte man zu erzählen, daß die also gekenn-zeichnete Frau noch etliche Anzeigen erstattet hatte, in denen siedemnächst als alleinige Velastungszeugin auftreten wird. DieserFall ist für einen großen Teil der Streikprozesse m der Tat t y-p i s ch, nur sind in den meisten Fällen die Belastungszeuginnengeschickter oder auch gerissener, so daß den Richtern trotz ähnlicherÄichlage, keine Bedenken auffteigen und sie daher urteilen undverurteilen— von Rechts wegen.Wie sehr übrigens alle Gepflogenheiten der Gerichte, die fürden Angeklagten günstig sind, in den Streikprozessen außer Kurs ge-fetzt sind, zeigt noch folgender Fall. Ein Arbeitswilliger, der Ehe-mann der eben erwähnten Zeugin, har eine fein säuberlich undkorrekte Anzeige erstattet, er sei am 11., 12., 13. und 14. Märzmehrfach beleidigt worden. Diese Anzeige ist durch eine weitereVernehmung im Vorverfahren erhärtet. In der Hauptverhandlungweiß der Zeuge von diesen Vorgängen nichts mehr, er behauptetplötzlich, er sei nur am 16. März beleidigt worden. Der Staats-anwalt, der Arbeitswilligen anscheinend alle? glaubt, beantragt14 Tage Gefängnis. Vergebens macht der Verteidiger darauf auf-merksam. daß sich der Eröffnungsbeschluß gar nicht auf den neu-bekundeten Vorgang bezieht und daß schon deshalb von der gegen»wältigen Anklage Freisprechung erfolgen müsse. ES htlft nichts.Der Angeklagte wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Gerichthat sich auf Grund der eidlichen Aussage des Zeugen von der Schulddes Angeklagten überzeugt.Noch ein Vorgang verdient aus den Verhandlungen amBochumer Landgericht registriert zu werden. Ein Streikender solleinen Arbeitswilligen an einem der Streiktage morgens 7 Uhv30 Minuten belästigt haben. Der Angeklagte bestreitet dies ent«schieden. Ein Zeuge, der im Nachbarhause wohnt, und den Vov»gang vom Fenster deS dritten Stockes aus beobachtet hat, bestätigteidlich die Darstellung des Angeklagten. Solche Aussagen sind demVertreter der Anklage immer unangenehm. Der Herr Staats-anwalt, Assessor Geißel— sein Name verdient genannt zu werden— erhebtsich, nimm: den Zeugen aufs Korn und fragt ihn mitbesonderem Nachdruck:„DaS wollen Sie morgens um 7.30 Uhr vonIhrem Fenster auS gesehen haben?" Zeuge:„Jawohl!" Staats-anwalt(mit überlegener Miene):„Im März ist es morgens um7 Uhr bekanntlich noch dunkel, wie...(Allseitiges Staunen imganzen Gerichtssaal) Vorsitzender(unterbrechend):„Im Märzsind Tag und Nacht gleich. Dunkel war es wohl nicht mehr, HerrStaatsanwalt, als sich der Vorgang abspielte." Assessor Geißelnimmt nach dieser wohlwollenden Belehrung unter unterdrücktemHeiterkeit der Richter und Zuhörer sichtlich verlegen in seinem SesselPlatz. Um das Nkaß der staatsanwaltlichen Blamage voll zu machen.wird auch dieser Angeklagte freigesprochen.Daß ein preußischer Staatsanwalt im März um 7 Uhr morgensaufsteht, ist vielleicht etwas viel verlangt, aber man wird dem-gegenüber doch verlangen dürfen, daß ein Staatsanwalt auch vonsolchen Dingen, die sich außerhalb des Gerichtssaales zutragen, we-nigstenS so viel weiß, wie ein recht bescheidener Volksschüler vonzehn Jahren._Wohnungs- und Wahlkreispolitik in Hamburg.Durch die sogenannte Sanierung der inneren Stadt(Alt- undNeustadt) hat sich in den letzten Jahren eine große Umwälzung derHamburger WohnungSverhältnisse vollzogen. Die früheren fürHamburg typischen GängevieRel verschwinden und machen modernenGeschäftsstraßen Platz. Infolgedessen verlieren Tausende von Be-wohnern der inneren Stadt ihre Wohngelegenheit und sind genötigt,sich in entfernteren Stadtteilen, zu denen sich die ehemaligen Vor-orte entwickelt haben, anzusiedeln. Diese Umwälzung, die im all-gemeinen ein Merkmal aller modernen Großstadtentwickelung ist,bringt aber für die Hamburger Arbeiterbcvölkerung insofern schwereNachteile mit sich, als die im Hafen beschäftigten Leute nicht inweiter Entfernung von ihrer Arbeitsstätte wohnen können. Im Hafenund auf den Werften sind jetzt rund 36 000 Arbeiter beschäftigt-Ein großer Teil davon sind sogenannte Gelegenheitsarbeiter, diesich ständig in der Nähe des Hafens aufhalten müssen, um bei derAnkunft von Schiffen sogleich bei der Hand zu sein. Verlierendiese nun durch die„Sanierung" ihre Wohnstätten in der Nähedes Hafens, und müssen sie in die Außenbezirke übersiedeln, so bc-deutet das den Verlust eines großen Teils ihrer freien Zeit, Verlusteines geordneten Familienlebens und verhältnismäßig hohen Auf-wand an Fahrgeld. Um diese Nachteile des an sich notwendigenSanierungswerkes abzuwenden, haben die sozialdemokratischenMitglieder der Bürgerschaft beantragt, mindestens ein Drittel desjetzt zum Abbruch bestimmten SanierungSgebietS mit Kleinwoh-nungen zu bebauen oder im Erbbaurecht zu vergeben. In der all-gemeinen Beratung, die in der Bürgerschaft am 19. Juni stattfand,wurde dieser sozialdemokratische Antrag von bürgerlicher Seiteheftig bekämpft. Auch der Senat hat sich dagegen ausgesprochen.Man will die Altstadt„großzügiger" Bebauung vorbehalten. DieArbeiter vertröstet man auf erst noch zu schaffende billige Fahr-gelegenheiten und auf die gesündere Luft der Außenbezirke. Daßaber nebenbei noch andere Gründe für die Verdrängung der Ar-beiter aus der inneren Stadt maßgebend sind, verraten die allzeitoffenherzig-reaktionären„Hamburger Nachrichten", indem sieschreiben:„In den inner st ädtischen Arbeiterviertelnzüchtet man geradewegs organisierte Arbeiter-schichten."Das Großprotzenorgan empfiehlt die Ansiedelung der Arbeiter-bevölkerung auf einer Elbinsel bei Finkenwärder; ähnliche Pläneverfolgt auch der Senat und ein Teil der bürgerlichen Parteien.Dabei leitet sie der parteipolitische Nebengedanke, in den Wahl-kreisen der inneren Stadt allmählich wieder der bürgerlichen Bc-völkerung das Uebergewicht über die proletarische zu schaffen. Schonbei der vorigen ReichstagSwahl setzten jbie Gegner der Sozialdemokratie große Hoffnungen auf diese Bevölkerungsverschiebung.Daß man eine soziale Maßregel, wie die Sanierung der Woh-nungsverhältnisse, mit solchen politischen Absichten verquickt, istjedenfalls recht charakteristisch.Herrn v. Gcrlachs Abschied von Marburg.Der Führer der demokratische» Vereinigung, H. v. Gerlach, hat,wie wir kürzlich bereit» mitteilten, die ihm gehörende„HessischeLandeszeitung" in Marburg verkauft. Er will in Marburg nichtwieder zum Reichstag kandidieren. Ueber die Gründe, die v. Gerlachjetzt zu diesem Schritt veranlaßt haben, spricht er sich im„FreienVolk" eingehender aus. Er schreibt da:„Nicht wegen der Niederlage gehe ich. Nach der Wahl warich fest eiitschlossen, weiter zu arbeiten. Aber ich habe mich davonüberzeugen müssen, daß diese Weiterarbeit ohne praktisches Er-gebnis bleiben müsse....Die Fortsckirittler Marburgs entschlossen sich, mitfinanzieller Unterstützung von Kassel und Berlin aus—„wenn«S gegen Sie geht, steht uns unbegrenzt Geld zur Berftigung."sagte mir einer— den systematischen Bermchtungskampf gegenmich aufzunehmen.