Wir gönnen den Förstern gewist alle ihnen zugedachten Ein- kommensverbesserungen und die sozialdemokratische Partei hat sich denn auch in der letzten Session für deren Gewährung ausgesprochen. Nur möchten wir demgegenüber betonen, dost es Hunderttausende von Unterbeamten gibt, die noch weit schlechter gestellt sind und deshalb einen doppelten Anspruch aus Erhöhung ihrer völlig un- zureichenden Gehälter haben!_ Für die Veteranen. Die sozialdemokratische Fraktion des bayerischen Landtags hat folgenden Antrag zum Militärelat eingebracht: Die Staatsregierung sei zu ersuchen, durch die Vertretung Bayerns ini Bundesrat dahin zu wirken, dast dem, Reichstag als- bald nach dessen Zusammentritt eine Vorlage zugeht, durch.die alle nicht im Besitz eines Ruhegehaltes befindlichen Kriegs- teiluehmer eine wirksame Beihilfe zugebilligt erhalten. Schon wieder ein Veteranen-Selbstmord. In der Nacht zum Mittwoch erhängte sich in den städtischen An- lagen in Breslau ein alter Kriegsveteran. Er hatte sich zu seinem traurigen Vorhaben eine groste Anzahl Orden und Ehren- zeichen, darunter die Kriegsdenkmünzen von 1866, 18\>/71 und die Zenteuarmedaille angesteckt, aber alle Papiere entfernt, die über seine Person Auskunft geben könnten.— Offenbar hat auch ihn die Not in den Tod getrieben. Freisinn und Jugendpflege. Die. Freisinnige Zeitung* beschwert sich bitter darüber, dast der KorruptionSfondS von l'/e Millionen Mark, der aus dem preustischen Staatssäckel für die Förderung der Jugendfürsorge aus- gegeben wird, nicht einer vermmstigeir-körperlichen Jugendpflege diene, sondern ganz wesentlich den konfessionellen Jugendvereinen zugewendet werde. Infolge der aus staatlichen Mitteln geleisteten Unterstützung schössen diese konfessionellen Jugendvereine wie die Pilze aus dem Boden. Dadurch werde die Zersplitterung nützlicher Vereine, z. V. Turnvereine, nur gefördert. Statt die Jugend ver- nünftig auszubilden, traktiert man sie mit Heiligengeschichten und Bibelstunden. Das seien die Früchte, die am Baum der staatlichen Jugendfürsorge wüchsen I Es ist erstaunlich, dast der Freisinn das jetzt erst zu begreifen beginnt! Als der KorruptionSfondS im Jahre ISll geschaffen wurde, hatte der Freisinn nicht das geringste gegen die Vergeudung staatlicher Mittel einzuwenden! Trotzdem damals der sozialdemo- kratische Redner in mehrstündiger Rede ein Bild der ganzen bit- herigen.Jugendpflege* gab und deren reaktionäre und muckerische Tendenzen in der schärssten Weise beleuchtete, stimmte der Freisinn dennoch für den KorruptionSfondS, weil er hoffte, dast auch in sestie Kasse ein Sümmchen fliesten würde. Der Freisinn hat also nicht die geringste Ursache, sich über ein System zu beklagen, dast er selbst unter völliger Preisgabe freifinniger Grundsätze hat mitschaffen helfen l Der straffreie Korpsstudent. Wir leben in einem Rechtsstaate! Dieser fundamentale Lehr- satz der bürgerlichen Klassen wurde durch ein Urteil der Kölner Strafkammer aufs neue unwiderleglich festgestellt. Zur Zeit des K ö l n e rKarnevals hatte der B o n n e r K o r p s st ud e n t Knipping nach einer Sektkneiperei mit einer Frauensperson deren Wohnung ausgesucht. Dort geriet er..mit seiner Schönen in ''Streit und verletzte sie. durch mehr e r e M e s ferst ich e schwer. In seiner Wut verwundete Knipping auch eineandere in dem- � seihen Haufe wohnhafte Fxcui. Der Messerstecher wurde verhaftet, bald aber wieder freigelassen. Jetzt hätte sich die Kölner Strafkammer mit dem brutalen Gewaltakt des Korpsstudenten zu beschäftigen. Durch das Urteil des Gerichts wurde auf Antrag des Staatsanwalts der Messerstecher freigesprochen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt. Zu diesem sensationellen Rechtsspruch wurden die Richter wohl veranlaßt durch das Gut- achten des U n i ve r s i t ä t s p r o se s s o r s Oberarzt Dr. B ü ch l e r- Bonn, der als�Sachverständiger bekundete, daß der An- geklagte erblich belastet sei, denn seine Mutter habe an Migräneanfällen gelitten. Knipping selbst reagiere st a r k a u f Alkohol und der höchste Grad der Wahrscheinlichkeit spreche dafür, daß sein freier Wille bei AusübunH der Tat beein- .flußt gewesen sei. Das natürlich nach bestem Wissen und Gewissen abgegebene Sachverständigengutachten schafft dem Korpsburschentum freie Bahn. Wenn wieder eimnak von Korpsstudenten ein Exzeß begangen wird, der zur Anklage führt, müssen die Angeklagten freigesprochen werden, denn bekanntlich reagieren fa st alle Korps st udenten stark auf Alkohol und fast alle. Mütter leiden an K o p f s ch in e rß e n— manchmal um den lieben Sprößling. / Ter Masse der Bevölkerung aber bleibt trotz des Freispruchs immerhin die tröstliche Gewißheit, daß der Arm der Gerechtigkeit jeden wirklichen Verbrecher packt. Mußte doch eine FraumitihremSäuglinginsGefängniswandern, weil sie während des Bergarbeiterstreits den Arbeitswilligen„Pfui! Ihr Streikbrecher!" zugerufen hatte. Schließlich kann man doch nicht annehmen, daß die an dem glücklichen Ausgang des Lohnkampfes aufs Aeußerste interessierte Bergarbeiterfrau durch den schmach- vollen Verrat der Streikbrecher so aufgeregt wurde, daß ihr freier Will« bei Ausübung der Tat beeinflußt gewesen sei. Im Namen des Königs: die Bergarbeiterfrau mit ihrem Säugling muß ins Gefängnis, der inesserstechende Korpsstudent wird freigesprochen! Wir lcbenin einem Rechtsstaate! Wie in Elsast-Lothringen„Fälle" entstehen. In dem unterelsässischen Stäbchen Oberehnheiin trat am f. April d. I. der bisherige Bürgermeister Gierlich zurück, und der Gemeinderat. der nach der elsaß -lothringischen Gemeindeordnung nur das Recht des Vorschlags für die Bürgermeister- und Bei- geordneienstellen hat. brachte mittelst geheimer Wahl den bis- herigen Beigeordnete» Rumpler zum Bürgermeisterin Vorschlag. Es vergingen die üblichen Wochen Bedenkzeit für die regierende Bureankratie, dann versagte die Regierung die Genehmigung, das heißt, sie ernannte den Herrn Rumpler nicht als Bürgermeister. Ein Grund für diese Nichtbestätigung wurde von der hohen Re- gieruug, da sie dergleichen nicht nötig hat, nicht angegeben. Leider vermag aber eine hochwohlweise Regierungsmaßnahme, die der Begründung entbehrt, in unfern Tagen der Auflösung aller Bande nicht einmal mehr dem Gemeinderat eines gut klerikalen elsässischen KantonsstädtchenS zu imponieren. und der am 9. August zur ernenten Stellungnahme in dieser An- gelegenheit zusammengetretene Gemeinderat von Oberehnheim war so unbotmäßig, den abgelehnten Herrn Rumpler mittels geheimer Wahl nochmals zum B ü r g e r m e i st e r i n V o r s ch l a g z u bringen. Eine neue Entscheidung der Regierung ist noch nicht getroffen. Inzwischen aber haben sich.Rheinisch-Westfälische Zeitung* und „Post" bemüßigt gefühly den Grund für die Nichtbestätigung des Herrn Rumpler als Bürgermeister anzugeben: Herr Rumpler ist als Bürgermeister für die Regierung de» Grenzlandes Elsaß-Lothringen nicht annehmbar, weil er— einen Sohn hat, der in der sianzösi- scheu Armee als Offizier dient. Dem Manne, der ja zudem einen wenig beruhigenden Namen hat, wäre zuzutrauen, daß er gegebenen- falls die deutsche Mobilmachung stört. Und nun ist der neueste.Fäll* fertig. Die reichsländische und die französische Nationalistenpresse zehrt davon, und in der elsaß - lothringischen Zweiten Kammer wird sich beim Wiederzusammentritt im Januar der Abgeordnete Wetterlö die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Lächerlichkeit dieser Art von Vaterlandsrettung den Macht- habern zu Gemüte zu führen. Denn tragisch ist jene Verwandtschaft des biederen Oberehnheimer Beigeordneten mit der französischen Armee desto weniger zu nehmen, wenn man sich erinnert, daß der gegenwärtige kaiserliche Statthalter von Elsaß-Lothringen , Graf v. Wedel , als hannoverscher Offizier und der gegenwärtige Staats» sekretär, Baron Zorn v. Bulach, als sranzöfischer Offizier schon gegen Preußen im Felde standen. Wetterlös.Nouvelliste* ist ferner respektlos genug, daran zu erinnern, daß man vor kurzem in Elsaß- Lothringen einen kaiserlichen Statthalter hatte, dessen Sohn bereit war, zur Rettung eines Teiles seines großen Vermögens die russische Staatsangehörigkeit zu erwerben, und daß dieser Sohn später doch noch Bezirkspräfident des Oberelsaß werden konnte. Ferner: daß Prinz Heinrich von Preußen den Zaren zum Schwager hat, der so- eben zur Bekräftigung der französisch-rusfischen Allianz den fron- zösischen Ministerpräsidenten so warm empfangen hat; daß Wilhelm II. selbst' in naher Verwandtschast zum englischen Königs- hause steht usw. lJuoä liest Eovi, non licet bovi— was dem Jupiter erlaubt ist, ist nicht einem Ochsen erlaubt. Schön I Aber in dieser bösen Zeit sangen die Ochsen zu denken an, und so geht jene RegierungS- maxime der römischen Cäsaren in die Brüche. Mit den.Fällen*, die die reichsländische Regierung unter dem Einfluß der pangerma- nischen Hetze fort und fort in der kurzsichtigsten Weise konstruiert, besorgt sie nur die Geschäfte der elsässischen Nationalisten. Aus Kraetkes Reich. Die Telegraphenarbeiter und-Handwerker der Reichspostverwaltnng haben wiederholt an den Reichstag petitioniert um Gewährung fester Anstellung und Gleichstellung mit den unteren Staatsbeamten. Der Reichstag hat die Pentionen unterstützt, und Kraelke hat sich nun- mehr zu einer Tat aufgerafft. Er hat verfügt, daß künftighin.die Entlassung der Telegraphenarbeiter und-Handwerker von mindestens zehnjähriger Dien st zeit— mit oder ohne Aufkündigung des Dienstverhältnisses— nicht mehr den zunächst vorgesetzten Dienst- stellen oder Beamten, sondern nur den Oberpostdirektionen zusteht*. Auch die Militärdienstzeit soll diesen Arbeitern jetzt aus die Lohndienstzeit angerechnet werden. Eine erstaunliche Leistung I Schweiz. Das Fiasko der Answeisnngspolitik. Zürich , 19. August.(Eig. Ber.) � Die Regierung hat auf die angenlfene Intervention des deutschen G en e ra lko n s uls in Zürich hin die gegen unseren Genossen Bertram wegen„Beteiligung am General- streik " oder am„Aufruhr" verfugte Ausweisung aus dem Kauton Zürich wieder zurücknehmen müssen, offenbar wegen Verletzung der im dentsch-schweizerischen Niederlassungs- vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit. Genosse Bertram war Mitglied des Vorstandes der Arbeiterunion, aber Gegner des Generalstreiks, auch hatte er sich keinerlei Gesetzes- Verletzungen zuschulden kommen lassen, was freilich auch von den anderen ausgewiesenen Genossen gilt. Genosse Bertram betrieb in Zürich ein eigenes Graveurgeschäst, aus dem er von der Negierung in der unverantwortlich leichtfertigsten Weise herausgerissen und damit seine Existenz vernichtet woxden war. Der Vorgang zeigt, daß die vielberufene„Mittelstandssürsorge" nur für jene„Mittelständler" gilt, welche bürgerlich gesinnt sind, nicht aber auch für jene mit sozialdemokratischer Ge» sinnung, die man für vogelfrei erklärt. Die Züricher Kantonsregierung mag sich nun für ihre wohlverdiente Niederlage bei den Bürgerverbändlern bedanken, zu deren verächtliche Handlangerin sie sich erniedrigt hatte. Nack diesem Fiasko wird wohl auch der Bundesrat in Bern es sich'noch gründlich überlegen, ob er dem Geschrei der Scharfmacher, die nur aus dem Kanton Zürich ausgewiesenen Genossen nachträglich noch aus der ganzen Schweiz auszu- weisen, folgen soll/ Hoffentlich unterläßt er die aufreizende und erbitternde Maßregel. DasDVolksrecht" fordert die schleunige Zurücknahme aller Ausweisungen, da sich keiner der Ausgewiesenen irgendwie gegen die bestehenden Gesetze vergangen hat. Nur dadurch würde die Regierung den von ihr durch die Ausweisungen verübten Gewaltakt einigermaßen wieder gutmachen. Lelgien. Die Arbeiter und der Generalstreik. In der„Action sconomique", einer bürgerlichen Volks- wirtschaftlichen Zeitschrift, berichtet ein Mitarbeiter über eine Studienreise in die wallonischesr Jndustriebezirke Centre und Borinage, die Mittelpunkte der'Generalstreikbewegung.„Ich hatte Brüssel miff� der Ueberzeugung verlassen," schreibt er, „daß die Streikdrohung eben nur eine Drohung sei, ein Druck auf die Regierung, ein taktisches Mittel. Heute denke ich ganz anders. Ich sprach mit pielen Arbeitern, und mehrere Ingenieure und Fabrikanten haben mir ihre Ein- drücke mitgeteilt. Ich habe die Ueberzeugung gewonnen, daß die Arbeiter�auf die erste Aufforderung die Arbeit ver- lassen werden. Selbst wenn hellte die sozialistischen Führer versuchen sollteil, die Arbeiter vom Streik abzubringen, es würde ihnen nicht gelingen. Die Genossenschaften haben, um die große Gefahr des Kreditgebens zu vermeiden, Spar- marken hergestellt, die als Papiergeld des Streiks dienen werden. Die Sparer sind Legion. Ein wahrer Kriegsschatz wächst heran. Was mich aber vor allem gepackt hat, als ich verstehen konnte, daß ihr Entschluß endgültig war..das ist die Ruhe der Arbeiter. Es gibt da mehr Entschlossenheit als Erregung. Sie sparen für den Streik, wie sie es tun würden, uni sich einen Ferienmonat zu bezahlen. Und noch eins: die walloni- scheu Arbeiter haben das klare Bewußtsein, daß sie ein Recht verlangen, daß das allgemeine, gleiche Wahlrecht eine Sache ist, über die nicht mehr zu reden ist. Dieser Gedanke ist tief eingewurzelt. Für den Triumph dieser Idee werden sie bis zum Ende kämpfen. Irgendein revolutionärer Gedanke ist nicht dabei. Sie fordern die Wahlrechtsglcichheit, wie sie eine Lohnerhöhung fordern würdeil. Ich glaube also nicht an Aufruhr und Unruhen. Die wallonischen Arbeiter wollen eine friedliche Kundgebung. In ihrer Haltung ist ebensoviel guter Mut wie.Entschlossenheit.> Mrokko. Fortwährende Kämpft. Paris , 21. August. Aus Fez wird unter dem 19. d'. M. gemeldet: Die Kolonne P e i n. die in El Ajun lagerte, wurde am Sonnabend früh von Abteilungen der Fechtals, die aus. Norden kamen, angegriffen. Die Kolonne brach das Lager ab, zog sich zum Schein zurück und lockte den Feind auf ein Ter-rain, das für die Anwendung der Artillerie günstig war. Durch einen heftigen Angriff trieb sie dann den Feind, der bedeutende Verluste hatte, bis jenseits des Mulay Buchta zurück. Auf feiten der Franzosen wurde ein Senegalschütze getötet und zwei verletzt. Am Abend bezog die Kolonne wieder ihr altes Lager. Die Lage imSüdenvonFez ist andauernd unruhig. Die Kolonne Rebillot rückt gegen Bahlil in der Nähe von. Sefru vor, um die Absichten der Berber zu durchkreuzen; vbn dort wird sie sich nach El Hajeb begeben, von wo feind» liche Bewegungen der Beni Mgild gemeldet worden sind, perften. Ei« revolutionärer Aufruf. TäbriS , 21. August. (Meldung der Petersburger Telegraphen« Agentur.) Hier werden Proklamationen des KonstiwtionS« komitees in Aserbeidschan verbreitet, in denen das Volk aufgerufen wird, die Verfassung wiederherzu st eilen und daS Land zu retten. Lhina. Wachsende Erregung. Die Nachricht von der Ermordung SunhatsenS hat sich nicht bestätigt. Dagegen ist die Erregung wegen der Hinrichtung der revolutionären Generale beständig im Wachsen. Jn Wutschang soll eS bereits zu Kämpfen zwischen Revolutionären und RegierungS » tjuppen gekommen sein� Hmmha. Der Panamakanak. Washington, 21, August. Die Senat skommissiotb für den P a n a m a k a n a l hat mit 8 gegen 6 Stimmen beschlossen, über die von Taft in seiner Sonderbotschaft von gestern angeregte Resolution nicht zu berichten. Bei der Abstimmung darüber wurde der Meinung Ausdruck ver- liehen, Taft werde kein Veto gegen die Bill einlegen, wenn die Resolution nicht durchgehe. Diese Meinung beruht darauf, daß in der Sonderbotschaft die Bill nicht als eine Verletzung der Rechte anderer N»tionen betrachtet wird. Das Repräsentantenhaus hat den Konferenz« bericht zum F l o t t e n e t a t, der den Bau tz i n e s. großes Schlachtschiffes vorsieht, angenommen. Ein neues Blutbad in Nicaragun. New N»rk, 21. August. Nach einer verspätet eingetroffenen Depesche aus Managua ist am Sonntag in der Nähe von, Leon im Norden von Managua die ganze S90 Mann starke Gar« nison von Managua , mit Ausnahme von 70 Mann, von feea Rebellen niedergemetzelt worden, Soziales. Ei» Entschnldigungszettel als Anklage. Ein Stettiner Schulmann erhielt von der Mutter eineS Schülers nachstehenden sprechenden Entschuldigungszettel, den er der„Ostsee-Zeitung" übergab: Herr Lehrer I Bitte diesen Zettel durchzulesen und Herrn Rektor denselben gütigst zu übermitteln. Wie Wilhelm mir heute erzählt, hat der Herr Rektor ihn wieder in Gegenwart der ganzen Klasse gescholten wegen seiner langen Haare und seiner Jacke. Ich habe keine andere Jacke für Wilhelm, waschen kann ich sie nicht, weil es alle Tage regnet, sie würde nicht bis zum Morgen trocken werden, und 13 Pf. zum Haarschneiden habe ich diese Woche auch nicht übrig. Ich möchte noch bemerken, daß mein Junge von seinen Mitschülern gehänselt wird, ihm wird die Schule deswegen ganz verleidet. Es kostet mir Mühe, ihn zu überreden, daß er morgen hingeht. Er behauptet, Herr Rektor will ihm die Haare ausreißen, wenn sie nicht geschnitten sind. Mit folgendem möchte ich Herrn Rektor beweisen, daß es nicht an mir liegt, wenn meine Känder keinen zweiten Anzug zum Wechseln haben. Ich erhalte durch- schnittlich wöchentlich 25 M. Davon geht ab für Miete.,....... 3,50 M. Versicherung......—,50, Verband........— ,80„ Steuer(vierteljährlich 4,50).—,87*/.. Zeitung.........— ,22*/z. ' 5,40 M. 25,- M.:V 5,40. 19,60 M. Ich besitze 8 Kinder, meinen Mann und meine Wenig« teit zugerechnet, sind's 10 Personen. Herrn Rektor wird es vielleicht nicht interessieren, aber da ich nun schon einmal beim Schreiben bin, kann Herr Rektor auch mal erfahren. wie eine Proletarierfamalie sich das Geld bis ins kleinste ein« teilen mutz: Für täglich zwei Brote Brot...... i 5,60 M. Semmel(tägl. 80 Ps.). 2,10„ Milch(tägl. 1 Liter).. 1,40. Kartoffeln(tägl. 1 Metze) 2,80. 11,90 M. 19.60 M. 11,90. 7,70 M.* Für die 7,70 M. soll gekauft werden: Fleisch, Belag, Schmalz, Gemüse. Feuerung, Seife. Was bleibt wohl davon übrig für Kleidung und so manchmal recht notwendige Neuanschaffung in der Wirtschaft?! K. G." Nicht in pathetischen Klagen, in nüchterner, kühler Be- rechnung konstatiert der schlichte Brief einer proletarischen Mutter des arbeitenden Volkes schwere Not. Die so dem Elend ins Auge schauen, wissen auch den Weg zu besseren Verhältnissen zu finden. DaS ist das Tröstliche, das dieser Brief ausatmet. Den herrschenden Beutepolitikern und der Regierung, die, ohne sich zu rühren, das Volk hungern lätzt, ist dieser Eni- schuldigungSzettel aber eine wuchtige Anklage. Mögen sie sich hüten, den Bogen noch mehr zu überspannen!
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