1. Beilage zum„Vorwärts" Berliner VoWblatt.Nr. 338.Donnerstag, den 3. Uovember 1893.19. Jahrg.Ans England.BLondon, 29. Oktober 1893.Vorigen Dienstag versammelte sich in Belfast der sich„Ulster— oder Ulster's— Parlament" betitelnde Kriegsrath der irischenLcyilisten. Hinter den bekannten Redensarten von der Be-drohung ihrer Glaubens« und Gewissenssreiheit durch Homerulein irgend einer Gestalt verstecken diese großen Patrioten dieSorge um ihr bedrohtes Privilegium, Irlands Regierung zu be-stimmen, und ihre„Loyalität" bekräfligen sie dadurch, daß siesich dafür rüsten, im Falle der Annahme der Homerule-Bill ihreAusführung unmöglich zu machen. Zu diesem Zweck sammelnsie ihren Kriegssonds und stacheln sie den Fanatismusder protestantischen Bevölkerung in jeder denkbaren Weiseauf. Sie organisiren den Bürgerkrieg, den Kampf gegendas Gesetz, den Hochverrath, und in diesem Unternehmen erfreuensie sich der Patronage der gesammten Führerschaft der konser-vativen Partei, vor allem des Marquis von Salisbury, der bei-läufig neulich wieder einmal eine Rede über die politische undökonomische Lage des Landes gehalten hat, so ungeschickt, so sehrgeeignet, die Arbeiterklasse abzustoßen, daß die Radikalen hellaufjubelten und die tory-demokratischen Blätter ihrem Verdrußziemlich unverhüllten Ausdruck gaben. Der Nachfolger Beaconsfield-Tisraelis ist von einer fabelhaften Unfähigkeit, sobald es sich umetwas anders handelt als die Vorurtheile des Stock-Engländersoder Stock-Britten gegen die unterworfenen Nationalitäten auf-zustacheln.In der besagten Loyalisten-Versammlung für den VorsitzSeine Gnaden der Herzog von Abercorn. Dieser edle Sprößlingaus dem Geschlecht der Hamiltons hielt eine große Rede, in derdas Wort„Freiheit" fast in jedem Satze wiederkehrte.„Wirsind hier versammelt," deklamirte er.„um das große Prinzip zubekräftigen, daß die Freiheitsrechte eines freien Volkes nichtverschachert werden dürfen, und dem Volk von Großbritannienkund zu thun, daß keine Gewalt der Erde uns zwingen kann,die Freiheit aufzugeben, die unsere Väter mit ihrem Blut unserworben, daß unsere Freiheit eine zu heilige Sache ist, um sieeiner intoleranten und tyrannischen Klique auf Gnade und Un-gnade ausliefern zu lassen?"Schön geredet, nicht wahr? Seine Gnaden, der freiheits-liebende Herzog, ist aber nicht nur Vorsitzender des revolutionärenWohlfahrtsausschusses für die Provinz Ulster, er ist auch imVerein mit dem Herzog von Fise, dem Schwiegersohn desPrinzen von Wales, Direktor der vom Ministerium Salisbury,in dem sein Bruder Chef der Marine-Abtheilung war, mit einemköniglichen Freibrief(„Charter") ausgestatteten britischen Südafrika-Kompagnie. Und diese Gesellschaft führt gerade jetzt inAfrika eine Aktion aus, die zu den Freiheits- und Menschen-rechts-Deklamationen Sr. Gnaden den wundervollsten Kommentarbildet. Ich meine den Raubzug gegen Matabeleland, das vondem Stamm der Matabeles beherrschte Gebiet im Norden derTransvaal-Republik. Vom Häuptling oder König der Mala-beles, Lobengula, besitzt die Kompagnie für ein Lumpengeld—es soll noch nicht 4 Pfennige pro englische Quadratmeile be-tragen— Rechte der Allsbeute der Mineralschätze von Maschona-land, einem beinahe 3 Millionen Quadratkilometer umfassendenLandstrich zwischen Matabeleland und dem Transvaal, dessenBewohner— die Maschonas— bisher im Vasallenverhältniß zuLobengula standen. Auf grund der Konzession hat die Gesell-schaft sich vollständig häuslich im Maschonaland eingerichtet,Ansiedler ins Land gezogen und Forts erbaut. Aber die An-siedler fanden sich bald enttäuscht und die Goldsucher auch. DasStammkapital der Kompagnie ist aufgezehrt, und eine Renditevor der Hand nicht abzusehen. Was geschieht? Die Kompagnieentdeckt, daß an der Grenze von Matabeleland und Maschona-land Unregelmäßigkeiten vorkommen, daß Matabeles friedlicheMaschonas überfallen und ihres Vieh's berauben, sowie auchweise Ansiedler belästigen. Natürlich muß sie Freiheit, Eigen-thum und Leben ihrer Pflegebefohlenen schützen, und das gehtnatürlich nur, indem sie Matabeleland erobert. Daß dasselbereicher an Mineralschätzen und fruchtbarer ist als Maschona-land, ist nur Zufall, wird aber dem Publikum beijeder Gelegenheit vorgehalten. Freiwillige, die sich fürden heiligen Profit— pardon— den heiligen Freiheitskampfgegen die Matabeles anwerben lassen, erhalten eineFarm von 6000 Acres und 29 Gold-„Claims"(d. h. das Rechtaus 20 Goldfelder) in Matabeleland zugesichert. Und einstweile»hat die Kompagnie sich dadurch als Vertreterin einer höherenKultur erwiesen, daß sie Abgesandte der Matabele's in heim-tückischster und brutalster Weise abgeschlachtet hat. Die Berichtedarüber werden wohl auch in die deutsche Presse übergegangensein und ich will sie deshalb hier nicht wiederholen. Nur so viel,daß die lahmen Dementi's der Kompagnie hier von keinemMenschen geglaubt werden, zumal immer mehr Zeugen für dieursprünglichen Versionen auftreten. Auch stehen sowohl dieOssiziere als auch die Freiwilligen der Kompagnie im schlechtestenRufe.So empörend nun auch die Brutalitäten sie sind nochnicht das Empörendste bei der Sache. Zur vollendeten Nieder-tracht werden sie erst durch die infame Heuchelei, unter der siebetrieben werden. Man spielt die höhere Zivilisation, undüberbietet die Matabele's, die ja, wie alle Wilden, das Lebenihrer Feinde für nichts achten, nicht nur an grausamer Mord-gier, sondern auch an Hinterlist und Tücke. Statt wenigstensoffen zu erklären, wir gehen auf den Raub aus, wir wollen Land,Bodenschätze, Waldungen erobern, um sie mit Profit zu ver-schachern und die Bevölkerung uns unterwerfen, um sie zu vor-stlaven, erschwindelt, erlügt und erdichtet man Rechtstitel allerArt, erschießt wehrlose Menschen unter dem Deckmantel der Ver-theidigung, und stiehlt„zum Schutze des Eigenthums".Und damit der Sache die Komik nicht fehle— dieser Herzogvon Abercorn. der in Irland nicht genug Worte der Entrüstungüber die irische Landliga, den Feldzugsplan und dieteuflische Absicht der irischen Pächter hat, die Rentenin Irland aus den„Präriewerth" herabzudrücken, wasthut er und sein»monistischer Kollege, resp. die von ihnenrepräsentirte Gesellschaft anders, als gegen ihre» Landlord, Loben-gula, einen Feldzugsplan hundertmal gewaltthätigerer Art alsder der Jrländer— von der Gerechtigkeit gar nicht zu reden—durchzusetzen? Lobengula ist von heute cko jure oberster Landesherr von Maschonaland, und der Kampf gegen ihn ist nichts alsein Erpressungsunternehmen, die Kompagnie, die ihn führt, eineMondscheinbande schlimmster Art, der nicht, wie den irischenMondscheinbanden. die Empörung wider Jahrhunderte langerlittene Vergewaltigung entschuldigend zur Seite steht. DasSchönste aber ist, daß die Herzöge von Abercorn und Fise fürein Trinkgeld von je 1200 Pfund Sterling jährlich nur dieDekorationsstücke der Südafrika- Kompagnie sind, der wirklichleitende Geist derselben aber ist Herr Cecil Rhades, Präsidentder Kap- Kolonie, ein Emporkömmling, der sich von seinenKreaturen den Bismarck Südafrika's nennen läßt und mitdem Original dieses Namens das gemein hat, daß er es voneinem Mann mit bescheidenem Vermögen bis zum Millionär ge-bracht hat und für Schutzzölle schwärmt. Außerdem schwärmtSerr Rhades für die„Compound- laboou" genannte indirekteklavenarbeit in Kimberley«. und würde am liebsten die un-verfälschte Sklaverei wieder einführen, wenn ihn nicht das eng-lische Gesetz daran hinderte. Darum ist er denn auch extremerHomeruler und hat zur Bekräftigung seiner Ueberzeugungstreueseiner Zeit Parnell 10 000 Pfd. Sterl. für dessen Homerule-Agitation gegeben. Hat Irland Homerule, rechnete der Brave,so kriegen wir am Kap es vielleicht auch und jedenfalls werdenwir die Stimmen der Jrländer für uns haben.Das war die obige Summe schon werth, ganzabgesehen davon, daß sie ihm als Politiker die Stimmen derJrländer einbrachte.Ist das nicht ein prächtiges Kleeblatt: Der„loyale" Herzogvon Abercorn, der„royale" Herzog von Fise und der„honorable"Herr Cecil Rhades? Und wenn die Herzöge mit dem FinancierParnell's gemeinsame Sache machen, ihm als Schlepper dienen,wer kann dann noch daran zweifeln, daß es nur gebührendeFreiheitslicbe ist, die sie für das bedrohte Ulster in die Schrankentreten läßt! Man muß nur das Wort Freiheit richtig ver-stehen.—Zsoltsles:Wie sind die auf der Ttettiner Bahn verübten Schwin-deleien zu erklären? Zu unserer Ausführung in Nr. 251 überdie Gründe für die Bahnschwindeleien schreibt das k. Eisenbahn-Betriebsamt Berlin-Stetti»:„Ter in dem„Vorwärts" vom 25. d. M. enthaltene Artikelüber Schwindeleien auf der sogenannten„Stettiner Bahn" be-darf einiger Berichtigungen, welche dem Nachstehenden entnehmenund in Ihrem Blatr veröffentlichen zu wollen, wir ergebenst er-suchen. Ter Artikel beginnt mit einer Betrachtung der Ein-kommens-Verhältnisse des Schaffner-Personals. Hierzu bemerkenwir, daß die Säiaffner an Gehalt einschließlich Wohnungsgeld-Zuschuß 1080 bis 1440 Mark jährlich beziehen, außerdem alsNebeneinnahmen für ihre Fahrten an Fahrstunden- und Nacht«geldcrn durchschnitilich 30 Mark monatlich verdienen. Muß dasFahrpersonal außerhalb seines Wohnortes übernachten, so stehenihm gut eingerichtete Uebernachtungslokale unentgeltlich zur Ver-sügung. Sogenannte Hilssschaffner, welche im Arbeiterverhältnißstehen, werden, wie schon in der Bezeichnung liegt, nur aus-hilfsweise zur Vertretung von Schaffnern herangezogen, erhaltenhierbei dieselben Nebeneinkünfte wie die Schaffner und stehen sichwährend solcher Dienstleistung also besser wie in ihrem sonstigenDienst-Verhältniß.Es kann somit keine Rede davon sein, daß„bittere Roth"die Triebfeder zu den in Rede stehenden Durchstechereien ge-wesen ist.Was die über letztere angestellten Ermittelungen anbetrifft,so verhält sich die Sache wie folgt: Die Eisenbahn-Verwaltunghatte Grund zu dem Verdacht, daß auf den nach den Ostsee-bädern führenden und im Sommer vorzugsweise mit Rückfahr-karten von längerer Giltigkeit benutzten Strecken mit Hilfe desSchaffnerpersonals vielfach Betrügereien durch Unterschlagungbereits benutzter solcher Karten und Handel mit denselben be-gangen würden und veranlaßte deshalb geheime Nachforschungen,mit. welchen der Kriminal-jiommissarius Zillmann nebst einemKriminal-Schutzmann aus Berlin betraut wurde.Die von diesen beiden Beamten von Milte August d. I. biszum 20. d. M. auf den Strecken Berlin-Stetlin, Berlin-Stralsnndüber Neubrandenburg und über Pasewalk, sowie Stettin-Stras-bürg U.-M. angestellten Ermittelungen haben vorläufig zu demResultat geführt, daß 24 theils in Berlin, lheils auf anderenStationen slationirte und verschiedenen Verwaltungsbezirken an-gehörige Schaffner sich des bezeichneten Vergehens schuldig ge-macht haben, weshalb dieselben am 21. d. M. zur Rechenschaftgezogen und zum Theil unmittelbar aus dem Dienst verHaftelworden sind. Diese letztere Maßregel war vorbereitet und ist inaller Ruhe ausgeführt. Die erforderlichen Vertreter waren recht-zeitig zuvor kommandirt und bereit gehalten. Unter den ver-hafteten Schaffnern befinden sich ein ehemaliger Oberboots-mannsmaal und ein Inhaber des Eisernen Kreuzes II. 5ilasse,welche beide s. Z. als Militäranwärter in den Eisenbahndienstübernommen wurden.Im Uebrigen schwebt die gerichtliche Untersuchung über dieseVorkommnisse. Jnwieiveit Privatpersonen bei der Sache be-theiligt sind, ist noch nicht festgestellt, und sind alle bisher hier-über an die Oeffentlichkeit gebrachten Mittheilungen besondersauch über Betheiligung von Viehhändlern unzutreffend."Diese die Sachlage theiliveise ergänzenden amtlichen Aus-führungen bestätigen die Richtigkeit unserer Ansicht, daß im wesent-lichen die schlechten Gehaltsverhältnisse dieser kleinen BeamtenSchuld daran sind, daß sie den Versuchungen, die an sie heran-traten, unterlagen. Allerdings liegen nach den Ausführungen derBahndirektion die Gehaltsverhältnisse etwas besser, als wir nachMittheilung unseres Gewährsmannes annahmen.AuS de»„christliche» Herbergen zur Heimath". DerUmstand, daß die Arbeiter-Sanitätskommission beschlossen hat,in den Kreis ihrer Thätigkeit auch die Untersuchung derGesundheilsverhältnisse u. s. w. in den Herbergen, Asylen u. s w.zu ziehen, giebt einem Genossen Veranlassung, zur Miltheilungfolgender interessanten Ausführung: Als im vorigen Jahre dieamtliche Bekannlinachung des ersten Cholerafalles inBerlin erfolgte, begab sich Einsender auf das königliche Polizei-Präsidium und erllärte dort folgendes zu Protokoll:„Diechristlichen Herbergen zur Heimath, Müllerstr. 6 und Koppen-straße 9, hallen die in ihnen verkehrenden Besucher des Nachtsunter Verschluß, so daß die Klosets ihnen nichtzugänglich sind; zur Befriedigung der Nothdurft wirdauf den Korridor ein Eimer gestellt, welcher aber demvorhandenen Bedürfniß nicht genügt, so daß so-wohl Urin als auch Exkremente auf den Fußbod enfließen und denselben infiziren. Es herrscht demzufolge ein sopenetranter Geruch, daß die Verseuchung des Fuß-bodens angenommen werden muß." Nach ca. 14 Tagen wurdeEinsender dieses auf das Polizeibureau in der Tieckstraße be-schieden und ihm dort mündlich eröffnet:„die Beschwerderseien zwar zutreffend, ließen sich aber in anbetracht dendort herrschenden Verhältnisse nicht abstellen". Zur Be-gründung fügte der Wachtmeister hinzu:„Denken Sie nur,welches Gesindel dort verkehrt; es wäre eine schöne Wirth-schaft, wenn dasselbe Nachts frei herumlaufen könnte; es wäredann niemand mehr sicher."—„Christliche Herberge zur Heimath",wie steht's?Hungernde Schulkinder. Zu den traurigsten sozialen Er-scheinungen im heutigen Klassenstaate gehören die hungerndenSchulkinder. Im glanzvollen Berlin wandern täglich Tausendevon armen Kindern, wie statistisch nachgewiesen, mit hungrigemMagen, d. h. ohne gefrühstückt zu haben oder Frühstück mit zubekommen, zur Schule. Und doch haben sich diese beklagens-werthen Kinder ein Frühstück gewiß niehr als andere verdient,denn zumeist sind sie es, welche den Glücklicheren die Frühstücks-beute! an die Thüren Hüngen, während jene noch des süßenSchlummers sich erfreuen; welche in frühester MorgenstundeTrepp auf. Trepp ab, von Haus zu Haus mit Zeitungen jagen,welche arbeiten und— hungern müssen. Diese bösen Früchte derheutigen Wirthschaftsordnung werden allerdings erst gänzlichmit dieser verschwinden, doch hätte der heutige Klassenstaatbegründete Ursache, sich dieser armen Opfer der durchihn gezeit'en Verhältnisse anzunehmen. Statt dessenläßt er d private„Wohlthätigkeit" walten. So bestehtschon seit em Jahre 1875 ein„Verein zur Speisung armerKinder un Nothleidender". So viel dieser Verein auch immergewirkt hc.en mag— was vermag doch ein auf die Güte derBesitzende angewiesener Wohlthätigkeitsverein gegenüber dersozialen Verelendung der Volksmassen? Die Noth schreitet unaus-haltsam vorwärts und so haben wir denn dieser Tage das er-Habens und erhebende Schauspiel erlebt, daß sich zur Steuerungdieser Noth ein neuer Verein, ein Verein für— Kinder-Volks-küchen zur Verpflegung hungernder Schulkinder, gebildet hat!Speisung aller Schulkinder durch die Stadt ist, wie wir wieder-holt dargelegt haben, in Berlin sehr wohl möglich und erforder-lich.— Dafür ist bis jetzt natürlich die l... iberale Stadt-Verwaltung noch nicht zu haben. Ja, wenn es sich um Festessenfür Wohlhabende handelte....Unschuldig verhaftet? Der Posthilfsbote Gustav Thau,Naunynstr. 17, geb. am 15. Juni 1367, war vom Juni 1800 bisMai 1893 am Hauptpostamt, Spandauerstraße, beschäftigt. ImApril dieses Jahres fiel der Verdacht auf ihn, daß er Ein-schreibebriefe, die abhanden gekommen waren, unterschlagen habe.Zwei Haussuchungen, die in seiner Wohnung vorgenommenworden waren, blieben zwar erfolglos, jedoch wurde Thauunter dem Verdacht der Untreüe im Amt am 31. Maiund seine Frau, die sich im sechsten Monat derSchwangerschaft befand, am 2. Juni verhaftet undvierzehn Wochen lang in Untersuchungs-Haft gehalten. Am 5. September hatte sich das Ehepaar Thauvor dem Landgericht I zu verantworten. Durch die Verhandlungergab sich die Unschuld der Angeklagten so zur Evidenz, daß aufAntrag des Staatsanwalts der Gerichtshof ein freisprechendesUrtheil fällte. Der Posthilfsbote Thau sah also am selben Tageseine Frau in der Freiheit wieder— aber in welchem Zustande!Die qualvolle Untersuchungshaft, die Nahrung im Gefängniß,die Sehnsucht nach ihrem sechszehn Monate alten Kinde, die Sorgeum das Schicksal ihrer Leibesfrucht hatten auf Frau Thauderart eingewirkt, daß das Schlimmste zu befürchten war. Am11. September, drei Wochen vor der Zeit, brachte die Frau einKind zur Welt und am 3. Oktober starb sie an den Folgen desElends, das sie unschuldig zu ertragen hatte. Thau trug sich in seinemUnglück mit der sicheren Hoffnung, daß die Postbehörde das anihm begangene Unrecht zu einem minimalen Theil wenigstensdadurch wieder gut machen würde, daß sie ihn wieder in seinefrühere Stellung einsetzte. Am Sterbebette seiner Frauerhielt er von der Postbehörde eine Zustellung, inder ihm kurz und bündig der Bescheid ertheiltwurde, daß seine Wiedereinstellung in den Postdienstabgelehnt sei. Thau ist heute noch arbeitslos. Erwähnt seinoch, daß während der Zeit der Untersuchungshaft dem Ehe-paar ein beträchtlicher Theil seines Mobiliars abhanden ge--kommen ist.— Wann endlich wird man zu der Einsicht ge-langen, daß es Pflicht auch der heutigen Gesellschaftsordnungist, für derartiges Unglück, soweit dies möglich, von StaatswegenErsatz zu leisten und die Richter und anderen Beamtenfür Verhaftungen persönlich verantwortlich zu machen?Wann endlich wird die Möglichkeit, einen Unschuldigen zu ver-hasten, verringert werden? Die Minister v. Schellingund Stephan sind, soviel uns bekannt,Familienväter— wiewürden sie überdiese„bestealler Welten" denken, wenn sie, beziehentlichihre Familie, in der Lage des armen Po st hilf s.»boten sich befunden hätten? U. A. w. g.Weshalb verhaftet? Der Schlosser Karl Grund,seit Juni vorigen Jahres(!) Friedrichstr. 19 bei Ver-wandten wohnhaft, wurde am vorigen Donnerstag, Vormittags10 Uhr, von seiner Arbeitsstelle(Telegraphenbau-Änstalt von Gurlt,Friedrichstr. 24) weg verhaftet, nach der Polizeiwache am Belle-allianceplatz und von da nach dem Polizeipräsidium gebracht,ohne daß man ihm den Grund dafür>nittheilte. Vom Präsidiumaus schickte man den p. G ru n d nach— dem Gebäude desLandwehr-Bezirkskommandos. Hier wurde ihm seine Gestellungs-ordre eingehändigt, die man— vergessen hatte, ihm rechtzeitigzuzusenden. An demselben Abend 7 Uhr 23 Min. fuhr Grundbereits nach Goldap in Ostpreußen zum 59. Regiment. Er hattealso nicht mehr die gehörige Zeit seine Angelegen--heiten zu ordnen. Das Grund sich vor dem Militär-dienst„drücken" wollte, ist vollkommen ausgeschlossen.Verwandten und Bekannten gegenüber hat er wieder-holt seine Verwunderung ausgesprochen, daß er noch keine Ordreerhalten habe, während noch die Rekruteneinstellung im vollenGange war. Er glaubte schließlich, er sei zurückgestellt worden,bis er den Jrrthum unangenehm zu fühlen bekam.— Eine Aufklärung dieser eigenthümlichen Art von Rekruteneinstellung istdringend erforderlich. Oder ist der ehemalige Oberst-kommandirende von Hannover, jetziger Minister, zu sehr durchdie Spielwuth von Offizieren in Anspruch genommen, um dieseallerneuste Praxis zu erklären? U. A. w. g.Pflegegeld. Manschreibtuns:„Der Erste jedes Monats istdurchgehends ein wichtiger Tag für Hauswirthe, Miether, Beamteund auch für die Aermsten der Armen. Schüchtern betreten diese früh8 Uhr die Schwelle des„Gewaltigen", der ihnen Armenunterstützungund für ihre Kinder unter 14 Jahren ein sogenanntes Pflegegeldaushändigt. Liberale Stadtväter haben herausgerechnet, daß für6 M. ein Kind gekleidet und ernährt werden kann, und aus derVorderseite des„Pflegescheines" dies zum Ausdruck gebracht.Wie das möglich? mag„Richter's Agnes" darlegen. Selbstredendwird nur alleinstehenden Frauen, Witlwen, solch Pflegegeld ge-währt. Diese müssen jedoch mehr wie ein Kind haben. Nurim alleräußersten Falle giebt man auf ein Kind Pflege-geld. Es kann sedoch solches in allen Fällen wiederentzogen werden, besagt ein anderer Passus auf solchem Schein.Und dieser Passus ist nicht leerer Schein. Das mußten zu ihrergrößten Betrübniß heut früh einige Frauen in einem Bezirk,welcher in dem 39. Polizeirevier liegt, erfahren, genau hatten sieMark und Pfennige zusammengerechnet und gedarbt. Run nochdie einige Mark Pflegegeld hinzu, und für den Hauswirth istgesorgt, aber— es kam anders. Warum wird diesen Leutennicht wenigstens mitgetheilt, daß man es für gut befindet, da-durch zu sparen, daß ihnen die paar Mark nicht mehr gegebenwerden sollen, sie rechnen damit genau so wie Beamte auf Aus-zahlung ihrer Gehälter rechnen. Rigoros ist solches Sparverfahren beiden Auerärmsten, zumal angesichts des nahen Winters solcheGelder verdoppelt werden müßten. Aber so spart man, giebtjedoch keine Gelegenheit zu Arbeit und Verdienst. Sollen viel-leicht jene armen Frauen mit ihren Kindern irgend ein Festessenerhungern? Soll jenen, denen daheim stets eine gut und vollbesetzte Tafel winkt, nur im Uebergenuß de.-. Appetit fehlt, einvon den Allerärmsten erhungertes Festmahle/sonders die Eßlustreizen? Predigen sie einerseits das Sprüchw->rt: Hunger ist derbeste Koch, so versuchen sie's— nicht an» eigenen Leibe zu er»