Niederbarniin, aus dem 6. ReichstagSwahIkreiS, die sich mit den Zügen aus dem östlichen Teil des 4. Kreises auf der Oberbaum. brücke vereinen. Dort, wo die Fa-Ickenstein-Straße in die Schlc- fische Straße, der Ausläufcrin der Köpenicker Straße , mündet, treffen die Züge mit dem Gros der Demonstrationsteilnehmer zu- sammen, dort befindet sich auch eine Kreuzung mehrerer Straßen- bahnlinien und auch sonst herrscht dort ein starker Wagcnverkehr. Aber alles vollzieht sich in bester Ordnung, ohne Störung und ohne jede Schwierigkeit gliedern sich die Züge an dieser Kreuzung zu einem großen Aufmarsch, der die ganze Breite der Straße ein» nimmt. Die Straßen des Südens, die so oft der Schauplatz militärischen Gepränges sind, boten heute«in anderes Bild. Nicht gezwungen marschierten die Massen auf den Straßen, sondern in freiwilliger Disziplin. Aus dunklen Höfen, aus den Mietskasernen des Prole- tarierviertels wie aus den Hinterhäusern im vornehmen Westen waren die Proletariermassen gekommen, um sich zu zählen uno um von ihrem Recht auf die Straße Gebrauch zu machen. Schon zeitig sammelten sich die Genossen in ihren Zahllokalen. Die Genossen des Westen?, die den weitesten Weg hatten, versammelten sich in einem großen Lokal in der Bülowstratze und gelangten von dort in einem imposanten Zuge, der die ganze Dorkstraße füllte, nach dem Süd- westen, wo sie sich mit den dortigen Genossen, die inzwischen auch ihre Sanimelstellen verlassen hatten, vereinigten. Immer mehr schwoll der Zug an. Wie aus kleinen Quellen Bäche und Flüsse sich zum gewaltigen Strome sammeln, so flössen von allen Seiten dem Zuge neue Massen zu, sich schließlich vereinigend zu einer großen, endlosen, unübersehbaren Kette. In dem Zuge schritten unsere alten Kämpfer in Reih und Glied mit unseren jungen Genossen und erfreulicherweise nahmen an der Demonstration auch sehr viele Frauen teil. Ganze Familien konnte man so im Zuge bemerken, ein Zeichen, wie sehr das arbeitende Volk durch Teuerung, Kriegsgefahr und Wahlunrecht ausgerüttelt ist. Ernst und ruhig bewegte sich der Zug vorwärts. An den ab- gehärmtcn Gesichtern mancher Proletariermütter konnte man deut- lich ablesen, wie sehr die Not im Volke gestiegen ist, die es auf die Straße treibt. Aber nicht nur das Elend gab sich auf den Gesichtern der Proletarier kund, nein, aus den Augen leuchtete auch der feste Wille, die zielklare, unbeugsame Entschlossenheit, für die Sache der Entrechteten zu kämpfen. Im vornehmen Westen bildete ein großes Schutzmannsaufgebot das würdige Spalier des Zuges der Ausgebeuteten und Unter- drückten. Mit umgeschnalltem Revolver standen die Vertreter der Staatsgewalt bereit. Im Südwesten und Süden schien die Polizei die Gefahr der„Zusammenrottung" nicht für so groß zu halten, denn hier fehlten den meisten Hütern der öffentlichen Sicherheit das Schießeisen. In der Nähe der Kaserne begegnet« inan niehreren Trupps Offizieren, die erstaunt auf die in eindrucksvoller Ruhe Dahinziehenden sahen und sich wohl ihre eigenen, von keiner Sachkenntnis getrübten Gedanken gemacht haben mögen. Rad- fahrende Schutzleute fuhren eifrig dahin, Bericht erstattend über die Bewegung des„Feindes". Daß die Demonstration auch nicht ohne Einfluß auf das Bürgertum blieb, bewies die Tatsache, daß in allen Straßen, die der Zug passierte, sich an vielen Fenstern neugierige Gesichter zeigten. Und die meisten der Zuschauer werden wohl mit Sympathie dem Zug der Demonstranten nachgesehen haben, ist doch die Not des Volke? nicht auf die Arbeiterschaft beschränkt geblieben, sondern weit in die Kreise des Bürgertums ein» gedrungen. Ueberall, wohin man kam, in der Straßenbahn, in den Restaurants, fand man auch die nicht an der Demonstration Be- teiligten lebhaft an der Frage des Tages interessiert, und dieses Interesse entlud sich in mehr oder minder heftigen Debatten, so daß auch auf diese Weise die Demonstration aufklärend gewirkt hat. Im Südosten der Stadt waren alle Zugangsstraßen zum Treptower Park— und hier führten schließlich all« Wege nach Treptow — von 11 Uhr ab stark belebt, und immer schneller wuchsen die Menschenströme an, denn von allen Seiten fanden sie Zufluß. Als der vierte Reichstagswahlkreis, soweit er den Süd- oscen umfaßt, seine Mannen und Frauen stellte, mit dem Wander- ziel zur Treptower Versammlung, da unterschieden sie sich nicht mehr in der Menge, wem: sie auch in noch so starken Trupps Plötz- lich hier und da aufmarschierten. Ueber die Wiener Brücke und noch weit mehr über die Sch lesisch« Brück« wälzte sich die Volksmasse hinein in den Park, daß man an das Dichterwort denken konnte: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.. Und es war doch kein Volk in Waffen, sondern ein friedliches, auf sein gutes Recht pochendes Volk, bewaffnet nur mit— Regen- schirmen, was auch nicht einmal nötig war, denn das„Schweine- glück der Sozialdemokratie" bewährte sich wieder, und die drohenden Wollen öffneten sich nicht, die Sonne blickte im Gegenteil mehrmals hervor und beleuchtete freundlich den weiten Plan, wohin das Volk strömt«, um seine Stimme mit Macht zu erheben. Schon um 1412 Uhr guerten die ersten Gruppen der Neu- k ö I l n e r Genossen den Hertzbergplatz. Dann wurden die Gruppen immer dichter und dichter und von?L12 Uhr ab war es ab Richard- und Hertzbergplatz ein einziger langer Zug, dessen Aiarsch durch die Treptower Straße volle V/> Stunden dauerte. Auch das Neuköllner Polizeipräsidium bildete einen Sammelpunkt großer Massen der Demonstranten, die ihren Weg nach Treptow durch die Wildenbruch- straße nahmen. Besanderes Aufsehen erregte der Zug der Demon- stantcn über den verkehrsreichen Hcrmannsplatz und die Ueber- querung der Berliner und Bergstraße. ES wird so ziemlich das Richtige teffen, wenn man die Zahl der Demonstranten aus Neu- kölln allein auf 20— 26 000 schätzt. Der Polizeipräsident von Neukölln , der originelle nächtliche Chorführer in den Wäldern von Ziegenhals , hatte in seiner Angst wieder ei» beträchtliches SchutzmannSaufgebot in Bereitschaft gc- halten, auf die Straße jedoch nicht mehr Posten gestellt, als an gc- wöhnlichen Tagen. Di« Genossen aus dem entfernteren Teltow -Beeskow kamen auf den verschiedensten Wegen heran. Von den Charlottenburger Genossen wurde zum Teil die elektrisch« Bahn bis zum Görlitzer Viertel in Berlin benutzt, von wo aus man dann durch die Wiener, Kiefholz- und Puderstrvße heranmarschierte. Einen Zug von 600 bis 700 Personen bildeten die Schöneberger Genossen, die ihren Weg durch die Kreuzbergstraße, Bergmannstraße, Kamphausenstraße und den weiteren Süden und Südosten Berlins nahmen, um durch die Kiefholzholz- und Elsenstraße den Versammlungsplatz zu erreichen. Genossen aus anderen südlichen Vororten kamen über Neukölln . Die Britzer Genossen erreichten das Ziel durch die Grenzstvaß« und Köpenicker Landstraße. Andere Züge, die au» dem Osten heran- marschierten, setzten sich zusammen aus den Genossen von Johannis- thal, Niederschöneweide . Köpenick . Adlershof . Baumschulenweg und so weiter. Auch die Genossen aus Wusterhausen und Umgegend waren verteteu. Die Genossen aus den weiter entfernten Vororten hatten zu einem Teil die Bahn benutzt, einen Teil des Weges aber zu Fuß zurückgelegt. Als alle die Gruppen und Züge aus dem Platze und vor den Tribünen zusammengeströmt waren, bildeten sie eine gewaltige Masse, die sich bald mit den Massen um die benachbarten Tribünen berührte, Im Treptower Park- Grün ist zwar der Rasen noch im Treptower Park, draußen im Osten, aber braun und schwarz sind schon an den Bäumen die Blätter, die der Wind noch nicht herabgerissen hat, und durch die Natur geht das große Sterben. Und als ob es wirklich ein Naturgesetz wäre, daß nicht nur das Alte, Ueberreife, Kranke, nicht mehr Widerstandsfähige sterben müsse, so gehen jetzt dort drunten auf dem Balkan Tausende und Abertausende junger, kräftiger Männer in die Schlacht, in den Tod, in das Siechtum, als hätte diese Welt nichts mehr, das sie zurückhielte, als wäre niemand da in den Dörfern und Städten der slawisch-mohammedanischen Balkanwelt, der diese Menschen braucht, der an ihnen hängt, mehr als am eigenen Leben. Ausgetilgt der Anflug kauni anerzogener Menschlich- keit, abgestreift die in den heuchlerischen Manifesten der Fürsten bis zum Ueberdruß beteuerte Lehre des Christentums — der alte Urständ der Natur kehrt wieder, wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.... Ist das Schicksal, Kismet, gegen das wir nichts tun können? Müssen wir es über uns hereinbrechen lassen ohne Widerrede, ist der Wille der Kriegsinteressenten allein auf der Welt da, und hat er allein zu gebieten? Doch: es lebt noch eine Flnmme! Nicht nur die Kriegs- fackel ist entzündet, das Fanal des Befreiungskampfes der arbeitenden Massen leuchtet siegesgewisser, und die trüben Strahlen des blutigen Rots, die vom Südosten Europas her- überfallen, verdunkeln es nicht. Zu Tausenden und Tausenden zieht das Proletariat der deutschen Reichshauptstadt heran. Je näher Du— aus welcher Stadtgegend des Dreimillionenquartiers immer herankommst, um so dichter ballen sich die Massen. Und da, wo die Ringbahn über die Straße braust, ist es schon ein un- übersehbarer, dichtgedrängter Massenzug, der sich zu beiden Seiten oer Chaussee langsam, Schritt für Schritt in den Park wälzt. Da öffnet sich die Lichtung der großen Wiesen, wo sonst im Sommer Kinder spielen und von der Berliner Arbeitshast Müde lagern. Bekommen wir endlich Luft? Nein, nein— wohin der Blick reicht, überall schon schwarze Menschenmauern. Und immer neue Massen rücken an. Rot leuchtet es her von den herbstbraunen Busch- und Baumrändern des weiten Wiesenplans. Zehn Tribünen sind aufgeschlagen, deren Brüstungen rot umkleidet sind. Der weiße Fleck nach der Mitte zu ist das große Sanitätszelt. Jede Tribüne trägt ihre Nummer, nach der sich die Wahlkreise ordnen. Aus dem wimmelnden, ernstgestimmten Menschen- gewoge ragen kleinere Nummernschilder auf: die stramme Gliederung unserer Organisation in ihre Bezirke und Gruppen— Ihr buntberockten Drillmeister des Preußen- Volks, habt Ihr nicht Eure Freude daran?— bleibt auch hier aufrecht.— Auf den Straßen Berlins war sehr wenig Polizei zu sehen. Vielleicht sogar weniger als sonst. Man ist bereit und konsigniert. Aber hier draußen am Treptower Park steigt nur ein einsamer Gendarm daher. Man vermißt die Ordnungswächter nicht, die eigenen Ordner halten zum Aerger der Asphaltagrarier von der„Deutschen Tages- zeitung" die selbstgewollte und darum unübertreffliche Ord- nung aufrecht. Und das ist bei dem einmaligen Zusammen- treffen von so ungefähr einer Viertelmillion Menschen zu einer bestimmten Stunde eine Aufgabe, vor der jede andere Macht verzagen müßte. Selbst für den Zeitungsmann, dem sie willig Platz machen, ist es nicht leicht, bis zu einer der Tribünen vor- und auf sie hinaufzudringen. Da aber erst umfängt der Blick das ganze unbeschreibliche Bild. Meeting an Meeting. Massenver- sammlung an Massenversammlung, soweit man sieht. Nur ein schmaler Verkehrsweg bleibt zwischen ihnen. Ab und zu sieht man von hier oben eine funkelnde Helmspitze langsam durch die Massen ziehen. Die Stille der Erwartung senkt sich hernieder, die Uhr zeigt eins. Auf der Haupttribüne— sie trägt die Nummer 4— erhebt sich Eugen Ernst , um mit wenigen markigen Worten die Versammlung des sechsten Wablkreises, der sich um diese Tribüne geballt hat, zu eröffnen. Gleichzeitig wird von den übrigen neun Tribünen das erste einleitende Wort gesprochen. Alle Vorsitzenden verlesen am Schluß ihrer kurzen Ansprachen folgende Resolution: „Die am 20. Oktober, dem Tag«, an dem vor vier Jahren der König von Preußen die Acnderung dcs elenden preußischen DreiklasseutvahlrechiS als ein« der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart bezeichnete, versammelten Männer und Frauen geben ihrer Empörung darüber Ausdruck, daß das Dreiklassenwahl- unrecht in Preußen noch nicht beseitigt, das in der Thronrede dem preußischen Volke feierlich gegebene Versprechen immer noch nicht eingelöst ist. AlS eine Schmach empfinden sie es, daß ihnen das in den süddeutschen Bundesstaaten längst eingeführte gleiche Wahlrecht weiter vorenthalten wird, sie dadurch zu Reichsdeutschen zweiter Klasse gestempelt werden. Sic geloben daher aufs neue, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis dieser unwürdige Zustand beseitigt und auch dem preußischen Volke das allgemeine, gleich«, geheime und direkte Wahlrecht eingeräumt worden ist. Mit Entrüstung weisen die Versammelten den Versuch der Nutznießer der wucherischen Hungerpolitik zurück, die preußische Regierung wegen ihrer ganz unzulänglichen Maßnahmen gegey die Teuerung im Dreiklassenparlament zur Rechenschaft zu ziehen und fordern auf das nachdrücklichste die sofortige Einberufung des Reichstages, damit das Haus der Volksvertreter Maßnahmen beschließe, die geeignet sind, die schier unerträgliche Not lveiter Volksschichten zu beheben. Die Einberufung des Reichstages ist um so notwendiger, als durch die imperialistische Politik der kapitalistischen Klassen- staaten nicht nur Teuerung und Notstand über die Völker Europas heraufbeschworen, sondern auch ein Weltkrieg in bedrohliche Nähe gerückt ist. Hell lodert bereits die Kriegsfackel auf dem Balkan : sie kann leicht in dem waffenstarrenden Europa einen Weltbrand entzünden. Die Versammelten protestieren gegen dieses von der Dipl » matte der europäischen Großmächte mit verschuldete Völker» morden und verlangen von der deutschen Regierung, daß sie jede Einmischung in die Kriegswirren unterlasse, strikte Neutralität übe und in dieser Richtung auch bei den übrigen Großmächten ihren Einfluß geltend mache. Gemeinsam mit dem klassen- bewußten Proletariat aller Länder bekämpft die deutsche Sozial- demokratie den Krieg, der ein« Begleiterscheinung der imperia- listischen Beutepolitit des Kapitalismus ist." Noch dichter ballen sich die Männer und Frauen um die Tribünen. Der scharfe Wind, der zu Beginn der Veriamm- lung den Rednern das gesprochene Wort in weite Fernen weg- zureißen drohte, hat nachgelassen, auch das etwas unsichere Wetter hellt sich auf. Klar und scharf dringen die Worte der Redner durch den weiten Raum. Es ist so still, und die Ge- Hölze rings um den Versammlungplatz halten jeden stören- den Schall von den Verkehrswegen draußen so gut ab, daß mitunter die Redner der nächsten Tribünen in einzelnen unterstrichenen Worten mit zu verstehen sind. Ueberall sprechen drei Genossen hintereinander. Ihnen ist die Aus- gäbe gestellt, in dem Drittel einer Stunde die drei Forde- rungen der Resolution zu begründen. Zuerst das Wahl- rechtl Sind es doch auf den Tag vier Jahre, seitdem ein Königswort, an dem man nicht deuteln und nicht drehen soll, dem Preußenvolk die Beseitigung der Dreiklassenschande an- kündigte.'Vier Jahre, reich an Umwälzungen in der Wirt- schaft, in der Technik, im Leben der Menschheit und jedes einzelnen, doppelt reich an Umwälzungen in dem kurzen Leben des Proletariers. Im Reich ist die reaktionäre Mehr- heit hinweggefegt, in der Welt hat sich das Verhältnis aller Mächte zueinander verschoben. Auf dem Schlachtfelde von Kapital und Arbeit sind die größten Kämpfe ausgefochten worden; das Können der Menschen hat sich auf den mannig- fachsten Gebieten vermehrt, und die Bedeutung der Arbeiter- klasse ist von Tag zu Tag mit den Anforderungen an jeden einzelnen gewaltig gestiegen. An der Verwaltung des ersten deutschen Staates, an der inneren Organisation des am raschesten vorwärtsstrebenden Landes der alten Welt ist das alles spurlos vorübergegangen. Mit frechem Hohn darf der Junker in Preußen schalten, kein Volksparlament, keine Regierung hemmt die Ausbeutung, die Aushungerung, die Unterdrückung, die Verwahrlosung, die der Kapitalismus am Volke oerübt. Von den Bergarbeitern war in den letzten Monaten so viel die Rede in Preußen. Namenloses Unglück ist durch die furchtbarsten Katastrophen über sie gebracht worden. Aber statt Bergarbeiterschutz hat dieses Preußen für seine Kohlengräber, für die Ernährer seiner Industrie Maschinengewehre. Polizeikarabiner und Bluturteile I Und wie die Bergarbeiter, so lernten alle Arbeiter dieses Landes ihre„Volksvertretung" kennen. Stürmische Zustimmung antwortet jedem Satz, der dieser Schmach gewidmet ist, und krätigste Entschlossenheit malt sich auf allen Gesichtern, da von dem unausweichlichen Kampfe gesprochen wird, der auch die Preußen zu gleichberechtigten Bürgern dieses Reiches machen muß. Redner aus den Gewerkschaften sind es zumeist, die das zweite Hauptthema, die Teuerung, besprechen. Wer so von der Triiüine aufmerksameren Blickes die Versammelten mustert, dem rann nicht entgehen, wie auffallend groß gerade bei dieser Kundgebung die Zahl derjenigen ist, deren einge- fallenen Gesichter, deren müdes Auge, deren schlaffe Haltung die Unterernährung deutlich genug zu erkennen gibt. Und wenn da die Reichsregierung eines Bethmann Hollweg , eines Delbrück und eines Kühn in zögernder Halbarbeit sich ent- schließen muß, nachdem man dem Militarismus neue Hundertmillionenopser gebracht hat, in einer Kleinigkeit wenigstens nachzugeben, da wollen es die Geldsackritter des Privilegienparlaments noch wagen, diesen Akt der Reichs- gesetzgebung vor ihren mit der Pickelhaube gekrönten Richter- stuhl zu fordern. Sofortige Einberufung des Reichstages ist die Parole, die die Massen, dem Beispiel der Reichstagsfraktion folgend, erheben, und man müßte in der Tat meinen, daß die Reichsregierung selbst, ohne jede Anregung von außen, diesen Schritt hätte tun müssen, wenn es ihr ernst ist um die Durchführung selbst der wenigen Maß- regeln, die sie gegen die Teuerung ergreifen will, und wenn es ihr überhaupt auch nur ernst war um die Betonung des grundlegenden Rechtssatzes, das Reichsrecht vor Landrecht gehen soll. Und welche Aufgabe sollte für die Reichsgesetz- gebung größer sein, als die. den darbenden Bürgern dieses Reiches zu helfen? Aber freilich, ist es denn einem Beth- mann Hollweg ernst darum, die Teuerung zu mindern und damit die Riesenprofite der Großgrundbesitzer auch nur um ein Bescheidenes zu kürzen?! Und nun sprechen die Redner über die Kriegs- g e f a h r. Vor wenigen Wochen hat der Parteitag sein Votum über den Imperialismus gefällt, dem das Leben der Völker nichts gilt beim gierigen Erraffen immer neuer Reich- tümer. Warum der Balkankrieg? Mag auch bei den süd- slavischen Völkern gewiß das Mitgefühl mit ihren Stammes- brüdern mitsprechen, die noch unter der Fremdherrschaft der Osmanen stehen, so ist zweifellos auch hier nicht von den Völkern der Krieg verlangt worden. Selbst in den doch nicht auf der vollen Höhe der Krupp- und der Schneider-Creuzot- Kultur stehenden Kleinstaaten jenseits der Donau gibt es schon einflußreiche Leute, die an dem verzehrenden Feuer des Krieges ihr SUpplein zu kochen verstehen. Und die aus dem nicht versorgten Familienüberschuß mitteleuropäischer Herrscherhäuser herbeigeholten Balkankönige wissen sehr wohl, wie ihre Throne wackeln, und es däucht ihnen, daß auch ihnen, wie einst der Eugenie Montijo , ein„kleiner Krieg" von Nutzen sein könnte.... Unbedingte Neutralität des stärksten Militärstaates der Welt fordern die Sprecher der Viermillionenpartei und unter donnernder Zustimmung erklären sie die Entschlossenheit des Proletariats nicht nur Deutschlands , sondern aller Kulturstaaten, alles aufzubieten, um wenigstens das Weiter- greifen des fressenden Feuers über den Balkan hinaus zu verhindern. Um 2 Uhr schließen die Redner. Ein Trompetenstoß und dann Hunderttausende Hände, im Sonnenglanz erhoben. Sie alle geloben, daß die Massen der Berliner Arbeiter eins sind und eins bleiben mit den Proletariern der ganzen Welt. Wer diesen unvergeßlichen Anblick miterlebt, vor dem ver- schwinden alle Drohungen und Verfolgungen, alle Entwürfe und Pläne der Feinde der arbeitenden Menschheit in Nichts. Was kann Polizei und Militär, Justiz und Verwaltung gegen die weltumfassende Bewegung des internationalen sozialisti- scheu Proletariats! «» * Vor den CnbUnen. Die Versammlung auf Tribüne 1 wurde durch Genossen Brühl eröffnet. Pacteisekretär Bühler als erster Redner wandte sich an di« Wahlrechtsfreunde und Kampf- genossen, denen er zurief, zu demonstrieren für ein gerechtes Wahl- recht und zu protestieren gegen die anmaßende Frechheit der Junker- und Pfaffenbrut Eine Ironie der Weltgeschichte sei es. wenn heute die Republikaner hinter dem Königswort— die organische Fortent- Wicklung des Wahlrechts betreffend— ständen. Eine Ironie sei cS. wenn die Königstreuen die Einlösung des Versprechens verhindern Die zur Karikatur hcrabgesunlene preußische Volksvertretung müsse beseitigt und die Zahl unserer Vertreter vermehrt werden, damit diese nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Gesetzgebung würden. Redner forderte auf zum Kampfe gegen Knechtschaft und Unter- drückung, damit bei den nächstjährigen LandtagSwahlen die Fahne der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgepflanzt werde. Genosse Hugo P o e tz s ch wandte sich scharf gegen da? heutige Wirtschaftssystem und brandmarkte die Zoll- und Wucherpolitik, die
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