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Nr. 284. 29. IahrgW. t KtilM des.lotmiitls" Sttliiitt Jlolliefeldtt. Dsttttetstag, 5. DeMbttl912 Reichstag. 1912, ?7. Sitzung. Mittwoch, den 4. Dezember nachmittags 1 Uhr. Am BundesratZtisch: Kühn. v. Tirpitz. Auf der Tagesordnung steht die Erste Lesung des Etats. Innere Politik. ReichSschatzselretär Kühn gibt die übliche Uebersicht über die Finanzlage der letzten Jahre. Sehr günstig war das finanzielle Ergebnis von 1911. An diesen Ueberflufi reicht das Jahr 1912 nicht heran. Es ist auch nicht unsere Hauptaufgabe, Ueber- schüsse herauszuwirtschaften. Einen bestimmten Ueberschuh kann ich für dies Jahr nicht in Aussicht stellen und enthalte mich jeder Prophezeiung. Ein Abflauen der Hochkonjunktur ist noch nicht zu verzeichnen, im Gegenteil sie ist zu einer internationalen geworden. Die Einnahmen zeigen fast überall eine erfreuliche Tendenz des Ansteigens. Mindereinnahmen von etwa 6 Millionen werden z. B. zu verzeichnen sein bei der Branntwein- steuer. Das Vorgehen der Regierung bei der Finanzierung der Wehrvorlageen in diesem Frühjahr ist viel angegriffen worden. Ich brauche darauf nicht näher einzugehen, weil jedenfalls Einigkeit darin besteht, daß eine Besitz st euer kommen wird. Welche Besitz st euer, kann ich noch nicht sagen.(Heiterkeit.) Auf keinen Fall kommt eine Sondersteuer irgend welcher Art in Betracht, sondern nur eine allgemeine Steuer auf dem Gebiete der Vermögens- oder der Erbschaftsbesteuerung. Eine Denkschrift über die Lösung der Besitzsteuerfrage liegt bereits den Regierungen vor; das Ergebnis wird jedenfalls vorgelegt werden können, bevor die Herren aus den Weihnachtsferien zurückkommen. Der neue Dreimilliardenetat kann sich an Solidität mit ffe i n e n Vorgängern messen.(Zuruf bei den Sozialdemo- kraten: Das will nicht viel sagen.) Ich hoffe, es wird mit Zu- stimmuug des ganzen Reichstages gelingen, an den Grundsätzen unserer Finanzpolitik festzuhalten. Der Redner erläutert eine Reihe von Etatsposilionen und betont, daß der A n l e i h e b e d a r f mit 33 oder bei etwas andersr Berechnung mit 40 Millionen hinter dem des Vorjahres zurückbleibt, und tritt der Anschauung entgegen, als ob von einer wirklichen Schuldentilgung nicht gesprochen werden könne, wenn neue Anleihen aufgenommen werden. Das könnte nur dann mit einem Schein von Recht gesagt werden, wenn die Anleihen zu nicht werbenden Zwecken aufgenommen würden. Redner geht dann auf die Etats der einzelnen Ressorts ein. Für die Veteranenfürsorge sind erhöhte Mittel eingesetzt lvorden.(Bravo !) Der Grundsatz, daß die Schutzgebiete die Kosten ihrer Zivilverwaltung selbst aufbringen, hat sich in dem bis- herigen Umfang aufrecht erhalten lassen. Es ist möglich gewesen, die feste Grundlage unseres Finanzwesens aufrecht zu' halten. Die geldliche Lage des Reiches zeigt alle Zeichen der Gesundung. Sorg- same Abwägung der Einnahmen, Zurückcrstattung aller Ausgaben, für die leine Deckung vorhanden ist, das muß für alle Zeiten unser Ziel sein. Das Jahr 1913 bringt unS eine trübe Erinnerung; es ist gerade ein Jahrzehnt her, daß die Periode der Zuschußanleihen be- gann, womit zugestanden wurde, daß der Ausgleich zwischen Ein- , whmen und Ausgaben auf regelrechtem Wege nicht möglich sei. Helfen Sie dazu, daß derartige Zustände in Zukunft nur noch der Geschichte angehören.(Beifall.) Abg. Dr. Frank(Soz.): Wenn es bloß auf die hohe Zahl ankäme, dann hätte der Reichs- schatzsekretär allen Grund, auf seinen Dreimilliardenetat stolz zu sein. Aber so liegen die Dinge nicht. Wir fragen vor allem, aus welchen Quellen die Gelder kommen und zu welchen Zwecken sie verwandt werden. Wenn wir diesen Maßstab anlegen, dann lautet die Zensur, die wir dem Herrn Reichsschatz- sekretär ausstellen können, viel weniger freundlich, als er sie vielleicht erwartet, dann lautet sie: Fleiß recht gut, Leistungen ganz ungenügend. (Heiterkeit.) Oder wenn er Wert darauf legt, daß sein Etat so gup sei, wie die Etats der Vorjahre, so wollen wir das dahingestellt sein lassen, vielleicht ist er gerade so schlecht wie die Etats der Vorjahre.(Sehr gut l bei den Sozialdemokraten.) Wenn wir zunächst die Einnahmen betrachten, so finden wir, daß 1642 Millionen, 28 Millionen mehr als im Vorjahr, aus den Zöllen und Steuern fließen. Die Steigerung bei den einzelnen Erträgnissen finden wir gerade bei den Posten, die die breiten Massen des Volkes belasten, z. B. bei der Z u ck e r st e u e r, der Brau- steuer usw., und wir sehen andererseits Rückgang oder Stillstand bei solchen Abgaben, die hauptsächlich die wohlhabenden Schichten belasten.(HörtI hörtl bei den Sozialdemokraten.) So ist die Schaumweinsteuer mit 644 000 M. weniger veranschlagt, die Stempelabgabe mit 1 440 000 M. weniger, die Zuwachs- steuer zeigt mit 18 Millionen einen Stillstand, die Erbschafts - steuer mit 44 Millionen eine Erhöhung um nur 600 000 M. Also das Gesamtergebnis ist: der verhättinsmäßige Anteil, den die besitzlosen Massen an den Leistungen des Reiches zu tragen haben, hat sich noch weiter erhöht.(Hört! hörtl bei den Sozial- demokraten.) Nun ist uns in Aussicht gestellt worden, daß sich dieses Miß- Verhältnis verbessern soll dadurch> daß wir endlich, endlich die B e i i tz st e u e r bekommen. Der Reichsschatzsekretär hat sie uns als Weihnachtsgeschenk in Aussicht gestellt. Ich weiß nicht, warum die Reichsregierung so geheimnisvoll tut mit dieser Besitzsteuer, warum sie nicht endlich einmal sagt, wenn sie es selber schon weiß, wie denn das Ding aussehen soll. Warum wird das Ei nicht endlich einmal gelegt und nur immer gegackert?(Heiterkeit.) Wir haben große Bedenken und berechtigtes Mißtrauen, ob der Charakter dieser erwarteten Besitzsteuer wirk- lich die Erwartungen, die darauf gesetzt sind, rechtfertigen wird. Wir sind gewarnt durch viele Erfahrungen und wir fürchten, daß vielleicht auch diesmal wieder unter der Flagge einer Befitzsteuer Abgaben eingeschmuggelt werden, die von den breiten Massen getragen werden müssen.(Sehr wahr I bei den Sozialdemokraten.) Im übrigen hat der Reichsschatzsekretär einen recht hoffnungsvollen Ton angeschlagen und hat zum Schluß eine Art Jubiläumsrede gehalten. Er sprach vom Jahre 1903 und erwähnte, daß wir jetzt eine Art zehnjähriges Jubiläum der denkbar schlimmsten deutschen Schulden- Wirtschaft feiern. Wenn er dies Jubiläum, wie ich annehme, mit guten Vor- sähen für die Zukunft begehen will und sich vorgenommen hat, ähnlichen Krankheiten unserer Finanzen vorzubeugen, dann sprechen die Talen gegen die Worte des Herrn Schatzsekretärs. Die Tatsache bleibt bestehen, daß wir zur Feier dieses Jubiläums in die sechste Milliarde der Reichsschulden hinein- marschieren(Hört, hört! bei den Sozialdemokraten), und daß auch der vorgelegte Etat wieder eine Erhöhung der Reichsschuld bringt. Nun sagt der Schatzsekretär ztoar, es liege nur ein Fehlbetrag von 33,4 Millionen vor, in Anbetracht des Drei- milliardenetats ein verhältnismäßig kleiner, durch Anleihe zu decken- der Fehlbetrag. Betrachtet man dieses Defizit von 33,4 Millionen aber genauer, so zeigt sich ein eigentümliches Bild. Mich er- innert dieses Defizit an eine Sage aus meiner Heimat, an das D orsgespenst, das nur einmal im Jahre kommt, ebenso wie der Etat, in einer ganz bestimmten Nacht des Jahres. Wenn man diesem Dorfgespenst begegnet, sieht eL zuerst ganz klein aus, wie ein K ä tz l e i n, betrachtet man es aber genau, so wächst eS und wächst es und nimmt bald die ganze Straße ein, wie ein großer Elefant. Betrachtet man dieses Defizit von 33.4 Millionen genauer, so fängt es auch an zu wachsen. Zunächst haben wir 81,7 Millionen für angebliche Schuldentilgungen, wofür wir vergeblich im Etat Deckung suchen. Diese muß man also dem Defizit zuzählen, und dann wächst es bereits aus 105 Millionen an. Dann aber hat der Reichsschatzsekretär schon selbst davon geredet, daß von den vielgerühmten und viel besprochenen Ueberschüssen des Jahres 1911 183 Millionen Mark verwendet werden, um die An- forderungen dieses Etats zudecken. Auch diese sind natürlich dem Defizit hinzuzuzählen. Das Ergebnis ist also, daß mehr als 300 Millionen Mark Ausgaben dieses Etats ungedeckt sind. Wenn die Dinge so liegen, wird man den Jubel, der bor den letzten Wahlen über die Herrlichkeit der Reichsfinanzreform er- hoben worden ist, doch erheblich dämpfen.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Drei Jahre nach der Reichsfinanzreform von 1909 stehen wir mitten drin in der schön st en Schulden- Wirtschaft und Aussichten, daß es besser wird, sind nicht vor- handen. Auch in den nächsten Jahren werden wir die Abwechselung erleben, daß einmal eine Militärvorlage und einmal eine Steuervorlage kommt. Heute wurde uns ja schon ein Nach- tragsetat in Aussicht gestellt, der eine Lustflotte bringen soll. Da kann man doch nicht davon reden, daß der Etat balanziert.(Sehr wahr! bei den Soz.) Der Reichsschatzsekretär hat offenbar selbst das Bedürfnis gefühlt, ein paar freundliche Lichter aufzusetzen. Nachdem er von den vielen Ausgaben für das Heer und die Marine geredet hat, hat er das Herzensbedürfnis gehabt, zu sagen, daß wir auch erheblich gesteigerte Ausgaben für sanitäre Zwecke haben und was kam dann heraus? Die Ausgaben für die Ausbildung der Schiffsjungen sind auf 1 000 000 M. erhöht.(Lachen bei den Sozialdemokraten.) Für Militär- und Marinezwecke werden im ganzen, wenn ich die Kolonialverwaltnng ausnehme, 1830 Millionen Mark gefordert, mit Einschluß der Kolonialausgaben 1861 Millionen. Die Nettoeinnahmen des Reiches betragen 1820 Millionen. Also in diesem Jubiläumsjahre haben wir das glorreiche Ergebnis, daß aus den Einnahmen des Reiches nicht einmal die Militärausgaben gedeckt werden können. (Hörtl hört! bei den Sozialdemokraten.) Die Steigerung der Heeresausgaben beträgt etwa 67 Millionen Mark, genau so viel, wie die sozialpolitischen Ausgaben auf Grund der Reichsversicherungs- ordnung ausmachen.(Lebhaftes Hörtl hörtl bei den Sozialdemo- kraten.) Von diesen Ausgaben betragen die für die Hinter- bliebenenversicherung 1950 000 Mark. Diese bescheidene Ziffer bitte ich zu vergleichen mit dem gewaltigen Getöse, das bei den letzten Wahlen von der Hinterbliebenenversicherung gemacht worden ist.(Sehr gut! bei den Sozialdemo- kraten.) Ich will damit nicht die Idee der Hinterbliebenen- Versicherung herabsetzen. Im Gegenteil, es ist etwas Großes, daß das Reich die Verpflichtung anerkennt,-auch für die Witwen und Kinder der Arbeiter zu sorgen, während früher nur für die der Be- amten gesorgt wurde. Heißt eS aber nicht, die Not verspotten und der deutschen Sprache Gewalt antun, wenn man hier von einer Hinterbliebenenversicherung spricht.(Sehr wahr! bei den Sozial- demokraten.) Unsere Sache wird es sein, die Hinterbliebenen- Versicherung nicht zu bekämpfen, sondern durch ihren Ausbau dafür zu sorgen, daß sie aus einen, Schein zur Wahrheit wird.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemo- kraten.) Die Mittel, die aufgebracht werden müssen, könnten ja, wie zu den Zeiten der Finanzreform so vielfach gesagt wurde, auch durch Ersparnisse aufgebracht werden. Mit dem Etat ist uns eine Denk- schrift über Ersparnisse auf dem Gebiete der Heeresverwaltung vorgelegt worden. Der Reichstag hatte eine Denkschrift über die Zulagen verlangt. Es gab eine entsetzliche Menge von Zulagen: Funktionszulagen, Stellenzulagen, Ortszulagen, Ehrenzulagen, Dicnstalterszulagen usw. Der Reichstag ver- langte aber Einheitlichkeit. Nach der Denkschrift sind 1912 1 026 866 M. erspart worden. Vergleichen wir diesen Posten mit den vielen Millionen, die für das Heer ausgegeben werden, so ist es e i n Tropfen auf den heißen Stein. Wir würden ganz andere, gewaltigere Ziffern bekommen, wenn wir uns mal eine Denkschrift über die Posten herstellen lassen würden, die seit Jahrzehnten auf dem falschen Platz gespart wurden, durch die Ausgaben, die nicht gemacht wurden für Volkswohlfahrt, für Volksbildung, für Mutterschutz, für Säuglingsschutz, für Veteranen des Feldzuges und-für Veteranen der Arbeit, das würde einen wahren Milliardenetat geben.(Sehr wahr I bei den Sozialdemokraten.) Aus den toten Zahlen des Etats spricht für den, der lesen will, daß die Masse, die Mehrheit des deutschen Volkes, die Leute, die von eigener Arbeit leben müssen, zwar die Hauptlasten des Reiches zu tragen haben, daß sie die Riesensummen aufbringen müssen, daß aber zu ihrem Besten nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Milliarden verwendet wird.(Sehr wahr I bei den Sozialdemo- traten.) Soweit die Besitzlosen ihre Lage verbessern wollen, bleiben sie angewiesen im wesentlichen auf die eigene Kraft, vor allem auf ihre eigenen Organisationen. Das wird von vielen Leuten nicht gern zugegeben, man sagt nicht gern, daß die Massen der Arbeiter, der A n g e st e l l t e n, die Mittel aufbringen, man spricht lieber von der In- dustrie und dem Gewerbe. Wenn wir aber fragen, wäre die Entwicklung der deutschen Industrie ohne die Organi« sationen der Arbeiter denkbar, so kann die Antwort nicht schwer fallen. Könnten die Erfolge der Industrie erzielt werden, wenn nicht Millionen organisierter Arbeiter in der Industrie wären, sondern Millionen stumpfsinniger Unorganisierter, wenn nicht selbständige Gewerkschaftler hinter den Unternehmern ständen, sondern einHeer von gelben Knechten?(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Auch bürger- liche Sozialpolitiker, die etwas von den Dingen verstehen, müssen das anerkennen. So schreibt Professor F r a n ck e in der Nummer 9 der Sozialen Praxis" über die Gewerkschaften und Genossenschaften: Sie haben eine besonders wertvolleKulturarbert gc- l e i st e t; wir können nur fragen, was wäre aus dem deutschen Volke geworden, wenn die Arbeiter nicht gegen die Elendstendenzen des Jndustrialismus sich kraftvoll zur Wehr gesetzt hätten." Er renommiert dann, daß den deutschen Arbeiter uns niemand nach- machen könne. Ich will das nicht weiter untersuchen, aber das weiß ich, daß die deutschen Arbeiterorganisationen von allen Arbeitern der Welt als M u st e r angesehen werden.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) In dem Zusammenhang kann ich sagen: wir renommieren ja nicht gern mit dem Wortnational", aber wir dürfen doch behaupten: für die Zukunft, für die Entwickclung der Nation ist die kleinste Gewerkschaft wichtiger und bedeutungsvoller als alle Wehr- und Kricgervereine zusammen. (Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) WaS tut denn nun aber die Reichsregierung, um diese Selbsthilfe der deutschen Arbeiterschaft zu fördern? Ich habe schon konstatiert, daß sie nichts dafür aus- gibt, aber eS gibt doch auch Hilfeleistungen, die nichts kosten. Was tut die Reichsregierung? Der Reichskanzler sieht ruhig zu, wie die Scharsmacher, die Großindustriellen ganz offen und schamlos durch schwarzeListen, durch ei n s ei t i g e A r b e i t s- nachweise Jahr für Jahr Hunderttausende von Arbeitern brotlos machen,(Sehr wahr! bei den Sozial- demokraten.) Huuderttausenden von Arbeitern ihre Freizügigkeit nehmen. Das beschränkt sich nicht mehr auf die Arbeiter im engeren Siune, bei den Angestellten wird schon die gleiche Praxis angewandt, Der Verband hannoverscher Industrieller hat sich eine Kartothek angelegt, um die Mitglieder des Bundes technisch-industrieller Beamten zu maßregeln. (Hört I hört I bei den Sozialdemokraten.) lind die große V e r s i ch e- r u n g s- G e s e l l s ch a f t Viktoria, die von Arbeiterpfennigen lebt, hat Mitglieder des Zentralverbaudes der Handlungsgehilfen aufs Pflaster geworfen.(Hört! hört I bei den Sozialdemokraten.) Der Reichskanzler rührt keinen Finger, um hier einzugreifen, und es wäre doch möglich, von Reichs wegen das Köalitionsrccht zu schützen. Heute denkt die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes über das Koalitionsrecht so, daß man es für eine Unanständigkeit, ja für eine Ehrlosigkeit ansieht, wenn' ein Unternehmer seine wirtschaftliche Ueberlegenheit dazu mißbraucht, den Arbeitern ihr Vereinigungsrecht zu nehmen.(Sehr wahr I bei den Sozial- demokraten.) Aber eS wäre zu viel verlangt, wenn wir von der Reichsregierung erwarten sollten, daß sie vielleicht hier im Wege der Reichsgesetzgebung»Hilfe schafft, von der gleichen Reichsregierimg, die es bisher noch nicht einmal fertig gebracht hat, das Reichsbereinsgesetz durch- zuführen in Deutschland . Alle Jahre müssen wir hier mit einer Interpellation kommen, um die Regierung an ihre Pflicht zn mahnen. Es existiert namentlich in P r e u ß e n auch noch auf anderen Ge- bieten eine förmliche Polizeiwissenschaft mit dem Ziele, das alte Unrecht der früheren Vereinszustände her- einzuschmuggeln an Stelle des neuen Reichsvereinsrcchts. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Ich will heute nur einen besonders drastischen Fall anführen. Bei der Be- ratung des Reichsseuchengesetzes wurde von einem meiner Freunde in der Kommission behauptet, die Bestimmungen über die Seuchen würden sicher dazu mißbraucht werden, um das Ver- einigungsrecht der Arbeiter zu verkümmern. Da gab es ein großes Gelächter, man hat gemeint: diese Sozialdemokraten �sind doch zu mißtrauische Gesellen, die suchen hinter jeder noch so wohl gemeinten Maßregel eine Falle für die Arbeiter. Und was kam? Bald darauf kam irgend eine Polizeiseele richtig auf die Idee, wegen der Maul- und Klauenseuche eine Versammlung von Arbeitern zu verbieten.(Hört? hört! bei den Sozialdemokraten.) Nun hoffe ich allerdings, daß gestern oder vorgestern das Oberverwaltungsgericht diese Verfügung auf- gehoben hat. Aber ich weiß auch aus zahlreichen Fällen, daß die Polizei sich um die gerichtliche Vorentscheidungen überhaupt nicht kümmert(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten), und zwar vielfach, weil ihre Vorgesetzten sie direkt auffordern, die Entscheidungen der Gerichte zu mißachten und die alte Verwaltungspraxis beizubehalten.(Sehr richtig I bei den Sozialdemokraten.) Wenn der Reichskanzler so schwach ist, daß er nicht einmal das Neichsvereinsgesetz durchführen kann, dann kann ich natürlich gesetzgeberische Taten von ihm nicht erwarten. In dasselbe Kapitel gehört die Tatsache, daß wir auch heute noch, nachdem wir Milliarden ausgeben für das Militär, noch immer die ungeheuerliche Tatsache des Militärboykotts haben, über den nicht von Sozialdemokraten, nein von dem Mittel- stand, den die Herren auf der Rechten schützen wollen, in den aller- schärfsten Ausdrücken gesprochen ist. Man könnte es, wenn auch nicht billigen, so doch verstehen, daß für die Dauer einer Versamm- lung für Militärpcrsonen der Besuch eines Wirtshauses unter» sagt wird, aber woher die Reichsbehörde, die vom Geld der Arbeiter lebt, das Recht hernimmt, die Lokale förmlich für verpestet zu erklären, in denen sozialdemokratische Versammlungen stattfinden, das ist eine ganz unerhörte Gewalttätigkeit, die das deutsche Volk sich nicht gefallen läßt.(Sehr wahr! bei den Soz.) Die Herren auf der Rechten treiben ein gefährliches Spiel, wenn sie den KaMff dagegen uns überlassen, sie billigen dadurch stillschweigend das, was von jener Seite wider Recht und Gesetz geschieht. Wenn wir solche Dinge hören, wundert es uns nicht, eS ist vielmehr ganz folgerichtig, daß die Sieichsregierung auch für den neuesten Akt der Selbsthilfe der deutschen Arbeiter nichts übrig hat an Förderung. Ich spreche von dem Versuch der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Genossenschaften, durch eine Aktiengesellschaft BolkSfürsorge der Ausbeutung ein Ende zu machen, die seit Jahren die sogenannten Volksversicherungen betreiben. Ich will Sie mit Zahlen nicht langweilen, aber doch an folgendes erinnern. Die VolksverstcherungenViktoria" undFriedrich Wilhelm" haben in drei Jahren mehr als 600 000 Verfallpolicen gehabt. Das heißt, irgend ein Arbeiter, der für seine Familie sorgen will, tritt in diese Volksversicherung ein. Sie wissen ja, wie wenig gesichert das Leben der Arbeiter auch in guten Jahren ist, wie wird eS erst in der Krise sein? Nach ein paar Monaten wird der Mann krank; er verliert seine Arbeit, er ist ein- fach unfähig, die Prämie weiter zu bezahlen. Dann verfällt das, was er gezahlt hat, der Versicherungsgesellschaft. Ich sagte, in drei Jahren hätten zwei Gesellschaften 660000 solcher Policen gehabt, und von diesem Blutgeld ärmster Arbeiter zahlt eine dieser Gesellschaften, dieViktoria", an ihren Direktor 780 000 M. Jahreseinkommen.(Hört I hört! b. d. Soz.) Derartige Dinge sind doch einfach empörend, und wenn Sie weiter hören, daß diese Ver- sicheruna das Kapital zu 39 bis 40 Prozent verzinst, dann meine ich. das Geld deutscher Arbeiter ist zu gut, als daß es für solche Zwecke verwendet wird.(Sehr wahr I bei den Sozialdemo- kraten.) Nun sollte doch die Reichsregierung es mit Freuden be« grüßen, wenn die Organisationen der Arbeiter die Pflichten erfüllen, die die Regierung erfüllen müßte.(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Seit Jahrzehnten bestehen diese Mißstände, es hat sich niemand darum gekümmert, was aus den Arbeiterpfennigen wird. Jetzt, in dem Augen- blick, wo die Selbsthilfe einsetzt, da erwacht endlich die Reichs- regierung aus ihrem langen, langen Schlaf, nicht etwa zu dem Zweck. den Arbeitern ihre Sympathie auszusprechen, sie moralisch zu unterstützen, nein, eS iverdcn die großen LcbenSversicherungsgesell- schasten, die für ihren Profit zittern, mobil gemacht, und dann versammeln sich 33 Vertreter deutscher Landesversicherungen ich weiß nicht, ob direkt auf Einladung des Reichskanzlers, um nicht für, sondern gegen die Selbsthilfe der Arbeiter Stellung zu nehmen.(Hörtl hört! bei den Sozialdemokraten.) Das paßt in das Bild hinein. Wir können ja eigentlich stolz sei» auf die Wirkung unseres Vorgehens, denn es wird doch auch für den Blindesten klar, daß seit Jahrzehnten, was auch immer in Deutschland an Fürsorge für die Massen geschah, der Arbeit unserer Organisationen entsprang. Wer hat sich darum gekümmert, was aus der Großstadt - jugend wird, aus den Hunderttausenden armer Lehrlinge und jugendlicher Arbeiter, die das Wirtschaftsleben in die großen Städte hineinwirft und dort vollkommen aufsichtslos, schutzlos und freudlos läßt? Da kamen erst die Sozialdemokraten mit ihren Jugendorganisationen, und erst viel später kam hinten nach der Krähwinkler Landsturm der Regierung und der preußischen Beamten. ES ist noch eine traurige Sache, wenn die Arbeiter sehen, wie man ihren Selbsthilsc- bestrebungen entgegentritt. In den Jugendjahren des Sozialismus kamen die Vertreter der Regierung und der bürgerlichen Parteien und sagten den Arbeitern, sie sollten nicht nach Staatshilfo rufen, sondern Selbsthilfe üben. Wenn die Arbeiter aber jetzt Ernst machen mit der Selbsthilfe, dann tritt man ihnen ent- gegen. Das ist nicht bloß so auf wirtschaftlichem Gebiete. Die deutschen Gewerkschaftler zeichnen sich dadurch aus, daß sie neben* ihren Kämpfen um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen auch bestrebt sind, sich geistig fortzubilden. Die beiden großen Volksbühnen in Berlin , die gewaltigen Kunst- Konsumvereine der Arbeiter sind eine Leistung, die mgn den Fremden mit mehr Stolz zeigen kann, als die