Nr. 275.
Grscheint täglich außer Montags. Prets pränumerando: Vierteis ährlich 3,30 Mart, monatlich 10 Mt, wöchentlich 28 Bfg. frei n's Haus. Einzelne Nummer Pfg. Sonntags: Nummer mit Mustr. Sonntags- Beilage Neue Belt" 10 Bfg. Post- Abonnement: 30 Mt.pro Quartal. Unter freuzJand: Deutschland u. Defterreich: Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingert. In der Post Beitungs- Breisliste für 1893 unter Nr. 6708.
Vorwärts
10. Jahrg
Infertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pfg., für Vereins- und Beriammlungs Anzeigen 20 Pfg Inserate für die nächite Nummer müssen bis 4 Uhr Nachmittags in Der Grpedition abgegeben werden. Die Expedition ift an Wochentagen bis 7 br Abends, an Sonnund Festtagen bis 9 Uhr Vormittags geöffnet. Fernsprecher: Amt I. 4186. Telegramm- Adresse: ,, Sozialdemokrat Berlin !
Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Mittwoch, den 22. November 1893. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
duktionsweise. Gleichzeitig indeß stimmte das Junkerblatt nur gilt: zum letzten Rampf gerüstet, dort die Bourgeoisie, einen Hochgesang an auf die Verkümmerung und den Verfall des Liberalismus, dem es ein baldiges Ende prophezeit, während es den Konservatismus ahnungsloser siamesischer 3willing der! als lachenden Erben einsehen will.
-
-
Das Land Siam, das jetzt zwischen dem brittischen und dem französischen Kolonialreich in Hinterindien langsam zerquetscht wird, hat vor Jahrzehnten einmal den Europäern Das ist alles richtig: die Jugendkraft des Liberalismus ein sonderbares Menschenpaar zum Angaffen herübergesch ickt. ist geschwunden, die strogende Fülle seines Leibes, mit der Es waren zwei mit dem Leibe zusammengewachsene Brüder. er in den siebenziger Jahren noch prustend daherwatschelte, Sie hatten ein jeder Arme und Beine für sich, sie dachten ist verdorrt, die dürren Glieder schlottern ihm nur noch in ein jeder mit seinem eigenen Kopf, aber das Verdauungs - den viel zu weiten Parteigewändern. Aber wen will denn system hatten sie gemein. So waren sie zum gemein- die Kreuz- Zeitung " darüber täuschen, daß nur noch allerschaftlichen Leben genöthigt. Sie heiratheten ein jeder seine hand kosmetische Künste, antisemitische Schminke und eigene Frau, fie dachten ein jeder seine eigenen militaristische Bartwichse dem agrarischen Schwerenöther Gedanken, sie hatten verschiedene Temperamente, sie zauften den Schein der Jugendlichkeit verleihen? und stritten sich, aber sie wurden gemeinschaftlich ernährt, sie litten gemeinschaftlich unter Verdauungsstörungen, und als der eine erkrankte und starb, da waren auch die Stunden des andern gezählt. In der Verzweiflung dachte der über lebende siamesische Zwilling daran, sich durch eine Operation von dem Leichnam seines Bruders trennen zu lassen, doch ehe es dazu kam, hatte der Zersetzungsprozeß auch seinen Körper ergriffen; es gab fein getrenntes Leben für das siamesische Zwillingspaar.
treten.
Wie dem siamesischen, geht es auch dem kapitalistischen Zwillingspaar, dem mobilen Kapital und dem Großgrundbefit; der Großindustrie und dem landwirthschaftlichen Großbetrieb, dem Liberalismus und dem Konservatismus, unter welcher Maske und in welchen Rollen immer die kapitaLiftifchen Zwillinge auf der politischen Schaubühne auf Ihre Köpfe werden beherrscht durch verschieden artige politische Systeme, sie befehden einander mit lärmen den Worten und schwungvollen Geberden, aber ihre ganze Lebenstraft schöpfen sie aus dem nämlichen Produktionssystem. Hat sich dieses System überlebt, dann sind ihrer beider Tage gezählt. Noch prozen sie daher mit blühenden Wangen, doch dem schärferen Blick entgehen nicht die Zeichen beginnender Auflösung. Ihnen selber fallen sie auf, aber merkwürdig, nur beim Zwillingsbruder, für ihre eigene Person prophezeien sie sich ein jeder das ewige Leben.
Vielleicht ermöglicht ihnen diese halbe Blindheit einen behaglicheren Lebensabend. Es wäre doch eine gar zu unheimliche Erkenntniß, daß der Gang der wirthschaftlichen Entwickelung fie mit einem nicht zu fernen Ende bedroht, mit einem gemeinschaftlichen Ende, denn eine Trennungsoperation ist unmöglich.
Zuweilen dämmert sogar in lichten Momenten dem einen oder dem anderen kapitalistischen Zwilling die Erfenntniß von der Gemeinsamkeit des zwillingsbrüderlichen Ernährungsprozesses auf und er sagt dem Bruder seinen Unverstand auf den Kopf zu: wie thöricht es sei, wenn das mobile Kapital dem Großgrundbesig, der Liberalismus dem Konservatismus den Garaus machen wolle.
So las vor einigen Tagen die Kreuz- Zeitung " dem Börsenliberalismus die Leviten, daß er das Agrarierthum auf's Meffer bekämpfe, in unverständiger Verkennung der beiderseitigen Abhängigkeit von der tapitalistischen Pro
Feuilleton.
Nachdruck verboten.]
Skizzen
Nicht wird der eine des anderen Erbschaft antreten, um dann allein den jugendstarken Riesen Sozialismus zu fällen; die beiden kapitalistischen Zwillinge werden, wie sie zusammen gelebt, auch zusammen den Todeskampf kämpfen, ihr Erbe wird das Proletariat sein, das, jezt zum Selbst. bewußtsein erwachend, die jugendlichen Glieder reckt und prüfend die Waffen wägt, mit denen es das Zwillingspaar überwältigen wird.
Wenn die Krenz- Zeitung" sieht, daß der Liberalismus seine Jugendideale aufgegeben und zur bloßen Interessenpartei, zur Börsenschußtruppe geworden ist, so hat sie recht. Aber steht es denn anders mit dem Konservatismus? Die Zeiten feudaler Herrlichkeit ersehnt der heutige Schnaps. und Zuckerproduzent nicht mehr, der romantische Nimbus des patrialischen Verhältnisses zwischen dem Herrn und seinem Hinterfassen ist ihm längst verblaßt. Ritterlichkeit ist ein überwundener Standpunkt. Er will Geld in se inen Beutel thun und deshalb Iugt er aus nach den billigsten Arbeitskräften für seinen landwirthschaftlichen und Brennereibetrieb. Db deutscher, polnischer oder chinesischer Kuli, das ist seinem teutschen Patriotenherzen ganz egal. Billig muß die Arbeit sein! Er thut Geld in feinen Beutel und macht seinen patriotischen Gefühlen Luft, indem er bei Champagner und Makao auf die Juden schimpft. Und der König ist ihm nur noch so lange absolut, als er seinen Willen thut.
Ob
Sie sind sich merkwürdig ähnlich geworden, die kapi talistischen Zwillinge auf ihre alten Tage und werden sich ähnlicher von Tag zu Tag, je mehr sie gemeinschaftlich auf den Sozialismus teifen. Noch wenige Jahre, und man wird sie gar nicht mehr von einander unterscheiden können, nicht ihr Gesicht, nicht ihre Stimme und nicht ihr Programm. sie dann konservativ, ob fie liberal fich nennen, oder einen anderen schönen Namen ausklügeln für ihr verschliffenes Bourgeoisgewand, das soll uns gleich bleiben. Selbst daß sie jeder noch für sich mit den wackeligen Köpfen nicen zu den Maßnahmen der hohen Obrigkeit gegen die gesellschaftsfeindlichen Umstürzler, daß sie, ein jeder noch für sich, ihre eigenen Jugenderinnerungen auskramen, ändert nichts an der Thatsache, daß sie sich eins sind als Gegner unserer Bestrebungen. Auch wir ersehnen die Zeit, in der es ein Hüben, ein Drüben
hier das Proletariat. Ist dieser Kampf zu Ende, dann wird man die kapitalistischen Zwillinge in gemeinsamer Gruft bestatten, und die Völker werden das große Fest ihrer Befreiung von der Kapitalsherrschaft feiern.
Politische Uebersicht.
Berlin , den 21. November. Der Bundesrath. Eine Vorlage, betreffend die Abänderung von Bestimmungen der Anlage B zur Verkehrsordnung für die Eisenbahnen Deutschlands , wurde den Ausschüssen für Eisenbahnen pp. und für Handel und Verkehr überwiesen. Endlich wurden die Ruhegehälter für eine Anzahl von Reichsbeamten festgestellt.
händler will nun auch gegen die Tabak Fabrikatsteuer Der Kongreß der Tabakfabrikanten und Tabaks Stellung nehmen. Derselbe ist auf den 27. November ein berufen.
Die Arbeiter in den Hilfsgewerben der Teibak industrie und die Tabak- Fabrikatsteuer. Aus einer uns zugehenden Mittheilung der Kongreßkommissi.on der Tabatarbeiter Deutschlands entnehmen wir das Folgende: Nicht blos für die Tabatarbeiter wird die geplatite TabakMit dem Fabricatsteuer von verhängnißvoller Wirkung sein. Zabalgewerbe find auf das innigfte eine Anzahl von Hilfs. industrien verknüpft, deren Geschäftsgang durch die Zustände in der Tabakindustrie unmittelbar bestimmt wird.
Calamon bier in Frage die Kisten- und Wickelformens fabrikation, die lithographischen Anstalten, die Stein- und Buchdruckereien, die Papiererzeugung, die Zigarrenbandmacherei, die Eifengießereien und die Maschinenproduktion. Auf der Anfangs November in Eisenach abgehaltenen Ber fammlung der Unternehmer dieser Hilfsgewerbe wurde festgestellt, daß in den Hausindustrien ausschließlich für das Tabakgewerbe etwa 13 000 Angestellte und Arbeiter mit einem Gesammtbetrag von etwa 11/2 Millionen Mark are Gehältern und Löhnen beschäftigt werden. Der Werth des verwendeten Materials beziffert sich danach auf 15 700 000 Mart. Die vorhandenen Vorräthe betragen 10 700 000 mark. Die Lithographien, Prägeplatten und Modelle stellen einen Werth von 41/4 Millionen dar. Die Maschinen werden mit 10 600 000 Mart, die Betriebsgebäude und Werkstätten mit 151/2 Millionen, die Porti und Frachten jährlich mit 900 000 Mart veranschlagt.
Aus diesen Zahlen ergiebt sich, daß die in Mitleidenschaft gezogenen Gewerbe von nicht geringer Bedeutung sind. Fragen wir uns, welche Folgen die Verwirklichung der TabakFabrikatsteuer für die in den Hilfsindustrien thätigen Arbeiter haben wird, so ist die Antwort sehr betrübend.
Vergegenwärtige man sich, daß selbst nach der zu niedrigen amtlichen Schäßung der Verbrauch von Tabak um 29 pet. zurückgehen wird, sobald der Miquel'sche Vorschlag Gesetzestraft erlangt haben wird. Die Aufträge, die die Tabakindustrie den Steindruckern, Bandfabrikanten, Riftenmachern u. f. w. ertheilt, vermindern sich zusehends, der Bedarf nimmt schnell ab, die
irgend etwas aus uneigennüßigem Triebe thun fonnte. Außesdem trank der Lehrer teipen Schnaps, spielte keine Karten, interessirte sich nicht für das weibliche Geschlechtdas alles verstärkte den Verdacht des Popen. und er erzählte es dem Polizeibeamten, welcher gerade durch das Dorf fuhr. Der Polizeibeamte, die Augen vor Freude weit auf
aus der sozialistischen Bewegung fehrte. Er befab sich mit Bergnügen die einförmigen Häuser, reißend, rief aus:
( Aus dem Russischen übersetzt.) Das ist wahr, man würde mich mit Gewalt fortbringen," sagte nachdenklich und mit einem schweren Seufzer Anton. Ich danke Dir, fahren wir."
"
" Ist er nicht ein Sozialist?"
" Ich vermuthe es. Ich habe allerdings keinerlei Be weise, aber ich fühle es, daß da etwas nicht in Ordnung ist."
Nachdem Anton einen Monat lang den Unterricht ertheilt hatte, erhielt er einen Brief von dem Mitgliede der Landschaftsversammlung, das ihn begünstigte.
An einem Sonnabend, als auf die Wiesen ein starker Popen konnte es nicht faffen. daß ein Mensch Thau fiel, und im Westen die Abendröthe leuchtete, tam Anton im Dorfe an. Dieses war viel kleiner, [ 14 als jenes, das er hatte verlassen müssen, es zog sich wie eine dünne Schnur an der großen Straße entlang. Anton war in froher Stimmung, gleich einem Verbannten, dem die Flucht gelungen war, und der nun in die Heimath zurückdie Bäume, die hier und dort zwischen den Häusern standen und die langen Brunnen- Ziehbalten. Nahe der Kirche er tönte von einem kleinen, runden Hügel ein kreischender Kindergesang. Zwei Bauern, die die Straße entlang gingen, blieben stehen und betrachtete sich den Autömmling. Meine zukünftigen Freunde, zukünftige Sozialisten," sagte sich Anton. Eine sonderbare Zeit ist es, schrieb dieser ihm: über Gerührt von der Liebe der Dorfbewohner zu ihm, setzte Bis zum Beginne des Unterrichts war noch viel Zeit Sie ist eine furiose Denunziation eingegangen. Man schreibt sich Anton in den Schlitten, Wassilissa tlatschte mit den übrig, da die Feldarbeiten im besten Gange waren; die uns, daß Sie von den Bauern die Beiträge zur Erhaltung Bügeln und der Falbe fuhr den Schmied zum Dorfe hinaus. zukünftigen Schüler halfen ihren Vätern bei der Arbeit der Schulen nicht empfangen wollen, daß Sie liebevoll mit Anton blickte mit Schmerz auf das Dorf zurück: Alle oder warteten ihre Schwesterchen und Brüderchen. Anton denselben umgehen und daß Sie ein ehrlicher Mann sind, schliefen noch, sternenhell glänzte der Himmel über den machte sich mit den Bauern bekannt. Er beschloß so vor- ergo politisch verdächtig. Das Alles ist unbeschreiblich Reisenden. fichtig als möglich vorzugehen, er ging sogar am Sonntag dumm, aber trotzdem hat man mir gerathen, Sie an entIch sage Dir nicht lebe wohl," sondern auf Wieder- in die Kirche und besuchte den Bopen, um auf diese Weise sich laffen, und ich, in anbetracht Ihrer Interessen, habe beschlossen, sehen," sagte Anton leise nur vor sich hin. den Ruf eines politisch unverdächtigen Mannes zu erwerben. diesen Rath zu befolgen, weil, wenn ich anders verfahren In der Stadt hielt Anton sich nur zu dem Zwecke Aber dem Popen tam trotzdem der neue Lehrer ver- würde, es eine Dummheit wäre es bleibt sich gleich, Sie auf, um es von neuem möglich zu machen, unter das Volk dächtig vor. Es schien ihm sonderbar, daß in einem Ge- sind bereits verdächtig und würden sich nicht auf der Stelle zu gehen. Dant seinen Verbindungen mit den Macht habern spräch über die Schule der Lehrer sich nicht für die Steuer, halten können, und ich könnte Unannehmlichkeiten davon der Landschaftsverwaltung erhielt er eine vakante Lehrer die die Bauern zum Unterhalt der Schule zu leisten hatten, haben. Es ist besser, den Rath zu befolgen, als einen stelle an einer Dorfschule. Den Hammer mußte er ruhen interesfirte, und sogar sich gegen diese äußerte, als der strikten Befehl abzuivarten." laffen, an seine Stelle trat das Wort; anstatt der Funken, Pope, um die Ansicht des Lehrers zu erfahren, das Gedie unter seinen Schlägen aus dem Eisen sprühten, sollten spräch auf dieses Thema brachte. Sich nur mit dem Geandere Funken aufleuchten die Funken des Geistes in halte zu begnügen, war, nach der Auficht des Popen, nicht den Köpfen der Dorfkinder. aanz naturgemäß und deshalb verdächtig. Der Verstand des
Auf diese Weise war Anton gezwungen, das Dorf zu verlaffen, ehe es ihm möglich gewesen war, irgend etwas zu thun. Er reiste mit dem quälenden Gedanken ab, daß es unmöglich sei, sich dem Volke zu nähern. Er