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Nr. 289.

Erscheint täglich außer Montags. Breis pränumerando: Viertel­jabrlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 mt, wöchentlich 28 Big fret in's Haus. Einzelne Nummer Big. Sonntags: Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage Neue Belt" 10 Bfg. Poft- Abonnement: 3,30 Mt.pro Quartal. Unter Kreuz band: Deutschland u. Defterreich Ungarn 2 Mt., für das übrige Auslands Mt.pr.Monat. Einget:. in der Boit Zeitungs: Breislijte für 1893 unter Str. 6708.

Vorwärts

10. Jahrg.

Infertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Bfg., für Vereins- und Beriammlungs Anzeigen 20 Pig Inferate für die nächste Nummer müffen bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Ervedirion ift an Wochen­tagen bis 7 Ubr Abends, an Sonn­und Festtagen bis 9 Uhr Vor­mittags geöffnet. Fernsprecher: Amt I. 1508. Telegramm- Adresse: Sozialdemokrat Berlin !

Berliner Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Decadence.")

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Sonnabend, den 9. Dezember 1893.

Wir in Deutschland haben uns an diese Tollheiten allmälig gewöhnt und find für den Aberwiz etwas abge­stumpft.

Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

Man betrachte nur nachstehenden Erguß, den wir dem Bolt" von gestern Abend entnehmen:

Der Abgeordnete Liebknecht hat neulich im Reichstage die Ueberflüssigkeit der Juden frage bei uns damit begründet, daß es in anderen Kulturländern, wie in England und den Vereinigten Staaten von Nord­amerita, eine Judenfrage nicht gebe. Da möchte ich die Leser dieser Zeitung an einen Ausspruch Stöcker's, der ja leider jett feine Ordnung in den Wirrwarr der Reichstagsdebatte bringen konnte, erinnern. Er sagte: Wenn London einen so großen Prozentsab von Juden hätte, wie Berlin , auch eine Judenfrage." Dann aber wollen wir doch ja nicht vergessen, daß die Eng länder mit ihrem Schachergeiste den Juden viel näher stehen, wie wir. Die Juden müssen es dort also schon ziemlich arg treiben, wenn man auf sie aufmertfam werden soll. In Amerika steht es ähn­lich. Mein Bruder, der ununterbrochen neun Jahre hindurch in den verschiedensten Staaten Nordamerikas als Geistlicher thätig gewesen ist, also die Verhältnisse dort wohl einigermaßen fennt, antwortete mir auf meine Frage, wie es dort mit dem Antisemitismus stehe: Die Amerikaner fennen den Antisemitismus nicht, sie sind selber Juden." Ich meine: Je mehr man selbst innerlich Jude ist, desto weniger versteht man den christlich­Die sozialen Antisemitismus, wie ihn Stöcker vertritt. Juden fann zwar niemand recht leiden, aber den jüdischen Geist wagen so wenige offen zu bekämpfen. Und viele Juden­gegner richten darum nichts aus, weil sie, wie die reinen Antisemiten, nur die geborenen Juden bekämpfen und So nicht die zu Juden gewordenen Deutschen . lange die Judengenossen ungeschoren bleiben, regieren durch sie die Juden. Massow. R. Schmidt, Paftor. Der Herr Pastor schreibt zwar für ein Stöcker'sches Blatt, allein die subjektive Wahrheit sagt er doch, d. h. er glaubt, was er sagt. Und nun verfolge man seine Ge­

Heute lachen wir über die Streiche Cagliostro's und den Heuchelei- obgleich der Heuchler und Betrüger unzählige Einfluß, den er ausübte; wir begreifen nicht, wie er sind. Es ist ein Naturgesez, das sich vollzieht: das Das Wort Decadence- zu Deutsch : Verfall, Nieder- Gläubige und Anhänger finden, und zu verschiedenen Gesetz des Falls oder der Schwere, das für den Geist ebenso gang, langfames Absterben, Berseßung der Säfte und Momenten sogar eine bedeutsame tolle in der Politik gilt wie für den Körper. Schwinden der Lebenskraft haben der Gegenwart ipielen fonnte. Und doch ist hierin nichts Wunderbareres die heutzutage, unter unseren moderne, namentlich französische Schriftsteller als Charakter als in der Rolle, mal und zugleich als Urtheilsspruch auf die Stirn geschrieben, Augen und Händen z. B. der Bimetallismus und Die Frege und wie der Förster an die Bäume, die aus dem einen oder der Antisemitismus spielen. anderen Grunde gefällt werden sollen, sein Zeichen sett. Kardorff schlagen dem gefunden Menschenverstand nicht Fin de Siècle das Jahrhundertende das Ende des weniger heftig ins Gesicht wie Cagliostro, und sie haben Jahrhunderts der Bourgeoisie und der kapitalisti - lange nicht den Geist, nicht die imponirende Persönlichkeit schen Herrlichkeit ist als das Zeitalter der De- dieses Erzschwindlers, der, gleich den meisten Erz­cadence von der geistigen Blüthe der bürgerlichen Welt schwindlern nicht blos Betrüger, sondern auch Betrogener Opfer des eigenen Schwindels. selbst gekennzeichnet worden. Wir nehmen Att von diesem war- dann hätte es Für einen nüchtern denkenden Menschen, der in den Afte der Selbsterkenntniß und eines gewissen Galgenhumors. dunklen Winkeln des menschlichen Seelenlebens nicht Bescheid Stiefel muß sterben, und die Bourgeoisie auch. Die Decadence äußert sich bei Einzelmenschen, bei weiß, ist es einfach nicht zu begreifen, daß Männer, die Ständen und Klassen, bei Parteien, Staatsbildungen und ohne weiteres doch weder unter die Irrenhäusler, noch unter Gesellschaftsformen durch gewisse Erscheinungen, die ein die Hochstapler zu rechnen sind, bona fide, in ehrlichem Ernst untrügliches Zeichen der vor sich gehenden Auflösung sind. der Ansicht sein können, alles wirthschaftliche Elend werde Große Reizbarkeit, die sich bei jedem Anlaß abwechselnd mit einem Schlage beseitigt, wenn man die Juden aus dem in nervösen Ausbrüchen der Angst, in lächerlichen Wuth- Land jage und die Doppelwährung einführe. anfällen, in polternden Betheuerungen der Kraft äußert, und ein kritikloser Glaube an Wundermittel, die jede Krankheit des persönlichen, politischen oder sozialen Körpers Anders im Ausland, wo man von diesen Spielarten der unfehlbar heilen. In diesem, jedes Denken bei Seite sezenden Glauben verräth sich das sorgsam der Deffentlichkeit Decadence- Krankheiten nicht so arg heimgesucht ist. So spricht entzogene Bewußtsein, daß es Matthäi am letzten ist- malt ein schweizerisches Blatt, das uns zugeschickt ward, die jich die hilflose Verzweiflung. Der Extrinfende, der krampf- Basler Nachrichten", seine Verwunderung aus, daß wir haft nach dem Strohhalm greift, fragt nicht erst, ob der Sozialdemokraten uns im Deutschen Reichstage noch mit Strohhalm ihn auch tragen fann, er greift zu und glaubt Antisemiten herumschlagen müssen, und meint, wir würden die Rettung zu greifen. Als das Römerreich und mit ihm selbst zugeben müssen, daß dies ein Zeugniß von der Un­die alte heidnische Gesellschaft zu Grunde ging, blühte der reise politischer Bildung in Deutschland " sei. Ganz gewiß Wunderglaube, blühten die Wunderpropheten und Wunder- ist es das. Allein nur in dem Sinne, daß es in Deutsch­doktoren aller Art und auf allen Gebieten. Als in der land noch Bevölkerungstheile giebt, deren politische Bildung zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die gepuderte sehr unreif" ist, und deren Urtheilskraft unter dem Druck Bopfwelt des Feudalabsolutismus und des Ancien Régime **) der wirthschaftlichen Misère und des Bewußtseins der den Todeskeim in sich verspürte und die Morgenluft, den Rettungs- und Rathlosigkeit gelitten hat. Sturm einer neuen Zeit witterte, da begann die Aera der Wenn ein Fallsüchtiger die Asche einer bei Neumond dankensprünge. Der Boden, auf dem er steht und springt, politischen und unpolitischen Cagliostro's, die für die gefangenen und unter christlichen Gebeten verbrannten ist die Judenfrage", von deren Berechtigung er überzeugt tranten Menschen und Staaten das Lebenselixier hatten, Dohle, wie Frau Fürstin Bismarck sie zu spenden pflegt, ist. Er ist überzeugt, daß die Juden in Deutschland an dem und dem abgelebten Greisenthum den Vollsaft und die gläubig verspeist und dadurch von seinen fürchterlichen herrschenden Nothstand schuld find. Nun erfährt er, daß Lebensfrische der Jugend zurückzugeben vorgaben. Gebresten befreit zu werden hofft, warum soll nicht der gleiche Nothstand, und noch schlimmer, in England und Jetzt haben wir eine ähnliche Erscheinung. Für das, ebenso gut ein von Schulden erdrückter Bauer glauben, den Vereinigten Staaten von Nord- Amerika besteht, wo was unmittelbar um und vor uns ist, fehlt uns meistens daß, wenn ein paar Dutzend Juden geschlachtet und von einem wirthschaftlichen und politischen Einfluß der Ein gesundes Hirn der richtige Maßstab. Das Ferne, dem wir objektiv, urtheils womöglich geröstet und die Uebrigen gerupft und verbannt Juden nicht die Rede sein kann. frei gegenüberstehen, wird meistens richtiger beurtheilt und würden, er von allen Uebeln der fündhaften Erde ge- müßte hieraus schließen, daß die Annahme, der Jude habe abgeschätzt als das Nahe und Nächste, das, gerade weil es nesen werde? Die psychologische Ursache ist in beiden Fällen in Deutschland verschuldet, was in anderen Ländern uns berührt, auch unser Urtheil beeinflußt und trübt. die nämliche: Verzweiflung an der eigenen Kraft, notorisch ohne Einwirkung von Juden vorhanden ist, eine etnem Wort: Decadence. falsche gewesen sei, und es hätte nach einer gemeinsamen Ursache des gemeinsamen Uebels geforscht.

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3

*) Französisch auszusprechen: Dekadangs, Verfall 2c. Französisch auszusprechen: angfjäng refchihm vorrevolutionäre Regierungssystem.

Feuilleton.

Nachdruck verboten.]

Skizzen

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mit

Und ist einmal der Geist auf diese schiefe Ebene gerathen, das alte oder hat sich in den Frrgarten einer figen Jdee verrannt, dann giebt es fein Einhalten, keine Umkehr. Es ist das teine

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fort

Nicht so das Hirn unseres Pastors. Es verrichtet so­ein Wunder, und verwandelt die Engländer und

Nein, ich wünsche es nicht!... Und Sie werden mich

welchen Verbrechens er beschuldigt sei. Bald aber war der Vorsatz vergessen. Als Ardaljon in das Zimmer trat, wo zu nichts zwingen können." das Berhör stattfinden sollte, sahen ihm der bereits an-" Im gegebenen Falle ist Ihr Wille uns Gesetz," sagte wesende Gendarmerie- Oberst und der Staatsanwalt scharf der Staatsanwalt in seinem sehr liebenswürdigen und an; sein abgespanntes Gesicht infolge der schlaflosen Nacht achtungsvollen Tone, wir zwingen niemand, Aussagen und seine bei der körperlichen Untersuchung zerrissenen zu machen; aber ich halte es für nicht überflüssig, Ihnen mit­Kleider machten auf den Obersten einen so schlechten Gins zutheilen, daß Sie zweier politischer Morde angeklagt sind, und

aus der sozialistischen Bewegung bruck, daß er mit einem unverkennbaren Gefühl des Ekels baß dafür Beweise vorliegen, daß sie die Morde vollbracht

in Rußland .

( Aus dem Russischen überfest.)

Ardaljon vergaß es, daß er selbst unvorsichtig gewesen

Ardaljon schweigend andeutete, auf dem Stuhl Play zu nehmen. Ardaljon bemerkte es und ärgerte sich darüber: " Ich werde Dich schon zwingen, mir Achtung zu er­weisen".. sagte er zu sich.

haben. Uns ist überdies Ihre Reise nach Petersburg be fannt, ebenso Ihre Theilnahme an den Berathungen der Verschwörer in der Wohnung der Frau Jsjumkin, auf deren Aussagen hin Sie arretirt worden sind."

"

Das ist nicht wahr... Sie werden mich nicht fangen... Frau Jsjumkin hat mich nicht verrathen." Der Staatsanwalt blätterte in den vor ihm liegenden Akten herum und sagte, sie Ardaljon zuschiebend: " Wenn es Ihnen gefällig ist, so lesen Sie die Akten Ardaljon las Frau Jsjumkin's Aussagen.

So eine Nichtsnußige! Wie durfte sie mich verrathen!" ,, Aber haben Sie denn nicht erkannt", sagte der Pro­cureur, was für eine Sozialistin die Frau Jsjumkin war? Eine Schwärmerin für romanhafte Berwickelungen, weiter nichts. Ist Ihnen nicht gefällig zu rauchen?"

Wer sind Sie?... Sie sind wohl noch ein un­war und nahm an, daß man ihn von Petersburg aus ver- mündiger Edelmann?"... fragte ihn der Oberst mit fangen. fragte ihn der Oberst mit folgt hatte; wahrscheinlich war die Wohnung, welche er spöttischer Miene. dort benutzt hatte, verdächtig, und man hatte ihn nicht ge-" Ich bin Mitglied des Exekutivkomitee's" ant­warnt; er beschuldigte seine Kameraden in Petersburg einer wortete Ardaljon laut und mit Nachdruck. unverzeihlichen Nachlässig.it bezüglich seiner persönlichen Der gewünschte Effekt war erreicht, war erreicht, der Oberst durch." Sicherheit. Dann dachte er darüber nach, welche Beweise richtete fich auf und blickte Ardaljon scharf an; man wohl ihm gegenüber haben könnte; er erinnerte sich, daß zuerst hielt er die Antwort für Prahlerei, dann aber er den Offizier mit dem Stuhl geschlagen hatte, aber das konnte verschwand der verächtliche Ausdruck aus seinem Gesicht rief Ardaljon aus. nicht als bewaffneter Widerstand angesehen werden; möglicher wie bei einem Menschen, der nach der Kleidung seinen weise waren die Zeitungen ganz verbrannt, aber wenn Gast für einen unwichtigen Mann angesehen hat, und nun auch nicht, so war seine Schuld nicht so groß, man wird plöglich sieht, wie dieser sich als ein wichtiger Bogel ent­ihn nach Sibirien verschicken, und von dort aus tann er puppte. Der Oberst blickte den Staatsanwalt an, welch die Flucht ergreifen. Letzterer sich Ardaljon's Gesicht genau betrachtete. Ardaljon wurde in seinem Nachdenken durch den Ge- Es verging eine Minute des tiefsten Schweigens; fängnißwächter unterbrochen, der ihm mittheilte, daß man Ardaljon lehnte fich in seinen Stuhl zurück und erfreute sich ihn zum Verhör in die Abtheilung der politischen Polizei an dem von ihm hervorgebrachten Eindruck. Er war sich führen wird. noch nicht bewußt, daß er eine große Dummheit begangen Als Ardaljon auf den Hof hinaustrat, bemerkte er hatte, weil er seinem Vorsaße nicht treu geblieben war, eine bereitgehaltene Kutsche; der Egoist war davon sehr aber ein Egoist ist ein ewiger Stlave seines Egoismus, und angenehm berührt, da er noch niemals in einer dieser führt ihn oft in das Verderben.

Kutsche gefahren war. Unterwegs beschloß er, daß" Wünschen Sie nicht irgend welche Aussagen zu er nichts aussagen wollte, bevor er nicht erfahren habe, machen?" fragte der Oberst Ardaljon.

Der Staatsanwalt reichte Ardaljon das geöffnete Porte­Bigarre hin. Diese Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit schmeichelte Ardaljon sehr; er nahm schweigend eine Zigarette und rauchte sie au.

,, Welches Urtheil habe ich zu erwarten?" fragte Ardaljon nach kurzem Schweigen. Sie können sich selbst diese Frage beantworten." " Doch nicht den Tod durch den Galgen?" Selbstverständlich..."

Ardaljon fuhr zusammen. Er fürchtete den Tod nicht,