Pflicht. Nichts hat der Heiland schärfer getadelt als Neutralität, als Lauheit, als Stimntenenthaltung. Er kannte keine Gleichgültigkeit, auch nicht in politischer Beziehung. Er hat gesagt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was GotteS ist. Wir bekunden durch unsere Stimmabgabe für die christlichen Kandidaten, daß wir alles Heil, auch für unser Baterland, allein erwarten von der Kraft deS Evange- liumS und dem Kreuz auf Golgatha. Die Bedeutung des Abgeordnetenhauses wird in weiten Kreisen sehr unterschätzt, ganz zu unrecht. Gerade im Landtag kommen die Fragen zur Behandlung, die in Miseren Tagen brennender geworden sind denn je. nämlich die großen Welt- anschauungSfragen. Sollen denn in dem Kampf u m Kirche und Schule die Vertreter des biblischen Christentums überhaupt nicht mehr gehört werden? Sollen Schule und Kirche bedingungslos dem Un- glauben, dem Halbglauben ausgeliefert werden? Der Liberalismus hat jedenfalls bewiesen. daß er weder fähig noch willens ist, der Sachs des ungebrochenen, alten biblischen Evangelium? in Kirche und Schule zur Anerkennung zu verhelfen. Von nnseren Kandidaten, den Herren Dr. de Weerth und Janssen aber wisseu wir, wie sie zu dem Evangelium stehen. Die kirchlichen Kämpfe der letzten Jahre haben uns gezeigt, was wir zu erwarten haben, wenn der Liberalismus innerhalb der Landes- kirche zum Siege kommt. Diese Möglichkeit aber rückt um so näher, je mehr der Liberalismus in der Politik und Gesetzgebung bestimmend wird. Darum hat jeder bewußt gläubige Christ die heilige Pflicht, bei der bevorstehenden Wahl nur solche Wahlmänner zu wählen, welche für die Anhänger der christlich-biblischen Welt- anschauung, unsere Landtagskandidaten Dr. de Weerth und Janssen eintreten. .Hier Schwert des Herrn und Gideon!' Tönt unser Schlachtgeschrei. Der treu bewährte Gottessohn, Er steht uns selber bei. Amüsant ist es vor allen Tingen, wie die Konservativen (das Flugblatt trägt die Druckfirma des konservativen Blattes) den armen Teufeln, die von nichts anderem etwas verstehen, als von ihrer Religion, weiszumachen versuchen, daß im Dreiklassen- hause, das zu drei Vierteln aus Junkern und Pfaffen besteht, die Religion in Gefahr sei. Uebrigens, Christus als Vertreter der öffentlichen Stimmabgabe ist eine ebenso frivole Gottes- lästerung wie das ganze"Gebaren der frommen Macher, die im Zeichen des Kreuzes von Golgatha ihre politische Bauern- fängerei im Dreiklassenwahlkampfe betreiben. Herr Bethmann Hollweg möge sich dies konservative Flugblatt in seine Mappe heften, falls er die Absicht haben sollte, mal wieder über das Thema Sozialdemokratie und Gotteslästerung zu reden. Tie Erste clsast lothringische Kammer will auch kein Ausnahmegesetz. Tic Erste Kammer des elsaß -lothringikchen Parlaments nahm am Mittwoch Stellung zu den Diktaturbestrebungen der Regierung. In einer Resolution, die von 10 Abgeordneten unterzeichnet war, wurde zunächst das Treiben der Nationalisten verurteilt und ferner gesagt, die Kammer sei der Ansicht, daß es dem gesunden Sinne der großen Mehrheit der Bevölkerung und dem kaiserlichen Statthalter, zu dem die Kammer volles Vertrauen habe, auch ohne außerordent- licbe Maßnahmen gelingen würde, die von einer kleinen Gruppe ausgehenden Störungen der fortschrittlichen Enüvickelung des andeS zu überwinden, und daß daher die Kammer die Regierung ersuche, von der Weiterversolgung ihrer Absicht, AuSnahmebestiw» mungen bezüglich der Preß- und DereinSgesetze herbeizuführen, Abstand zu nahmen, zumal diese auch in lohal gesinnten Kreisen der Bevölkerung eine große Erregung hervorgerufen haben. In der Debatte erklärten alle Redner, mit Ausnahme des Pro- fest'pr Laband. daß die Maßnahmen große Bestürzung in all- deutschen Kreisen hervorgerufen haben, und daß ferner die Be- völkerung ManneS genug sei, sich der Bestrebungen der nationa- listischen Chauvinisten, an deren Existenz die Regierung nicht un- schuldig sei, zu toehren. Die geplanten Maßnahmen seien gerade für Elsaß-Lothringen verwerflich.— Die Antwort der Regierung war. daß sie, trotzde»� das ganze Land ibr Borgehen verurteilt, in ihrem Weg keinen Schritt zurückmacht. Tie Gesetzesvorlage soll keine Dittaturmotznahme sein, sondern lediglich für einzelne Blätter und Vereine eine Warnungstafel bedeuten.— Recht lebhafte Klagen führte der Wahlmacher der Regierung, der vom Kaiser ernannte Justizrat Ruland, dem die Regierung zum Dank für seine Arbeit nachher den Nationalisten gegenüber desavouiert hat. Tai Bollwerk der Regierung gegenüber der Zweiten Kammer, die kaisertreue Erste Kammer, nahm dann die Resolution, die sich gegen die RegicrungSmaßnahmen ausspricht, mit allen gegen fünf Stimmen an. Arbeiterpolitik im Württembergifchen Landtage. Nach mehrtägiger Debarte über die Arbeiterpolitik der Eisen- bahnverwaltung Württembergs kam es am Dienötagnachmittag in der Zweiten Kammer zur Abstimmung über die vorliegenden An- träge. Der Kampf ging hauptsächlich um zwei sozialdemokratische Anträge, um die Einführung der achtstündigen Arbeits- zeit in den Werkstätten der Eisenbahnverwaltung sowie um den freien Sonnabcndnachmittag in den Eisenbahnbetriebs- Werkstätten und Maschineninspektioncn. Beide Anträge wurden ab- gelehnt. Bauernbund. Zentruni, Nationalliberale und Volks- Partei arbeiteten Hand in Hand, un, die Anträge zu Fall zu bringen. Von der Zentrumsfraktion stimmten drei Arbeiter- sekretäre— der Bieu kann nicht, der Bien' muß— für die Anträge: nur ein von den Zentrumsgrößen unsanft behandelter Schuhmachermeister tat seiner Fraktion den Tort an. für die sozialdemokrarischen Anträge zu stimmen. Ein paar Volks- parteiler schloffen sich zögernd an, als sie sahen, daß ihre Stimmen eine Mehrheit doch nicht zustande bringen konnten. Ein harmloser Antrag, der die Regierung ersucht, für die Arbeiter der Eisenbahnverwaltung überall- da, wo der Betrieb es gestattet, einen früheren Arbeitsschluß an den Sonn- abend-Nachmittagen unter Gewährung des vollen Lohnes ein- zuführen, fand endlich Gnade vor den Augen dieser Mehrheit. Drei Tage flössen sie von Arbeiterfreundlichkeit über— und am vierten lehnen sie jede durchgreifende Maßnahme zur Verbesserung der Lage der Arbeiter ab. Das ist bürgerliche Arberterpolitik. Aengstliche Seelen. Der Schreck über die wuchtigen Stroßendemonstrafionen der Stuttgarter Arbeiterschaft steckt dem Bürgertum noch immer in den Knochen. Man denke: um Mitternacht begeben sich ein paar Tausend Arbeiter vor die Villa deS preußischen Gesandten und demonstrieren dort für ein freies Wahlrecht in Preußen— und die hohe Polizei wußte nichts davon, bis die Marseillaise durch die stille Nachl braust und da? ganze Villenviertel in Aufruhr bringt. Dann die Demonstration gegen die Fleischtcuerung I Die Polizei» mannschast der ganzen Stadt alarmiert, kampfbereit formiert— und in wenigen Minuten ist der Schloßplatz von über 10000 Arbeitern besetzt. Reden werden gehalten, Kampflieder gesungen, daß die Fenster des kgl. Schlosses klirren und das Festmahl des Königs und anderer Fürstlichkeiten im Neuen Hofthcater die empfindlichste Störung er- leidet! Und das schönste in Cannstatt ! Am Tage vor Königs Geburtstag wird ein böser Preßsünder, Dr. Thalheimer, aus dem Gefängnis entlassen. Eine große Menschenmenge geleitet ihn zur Wohnung. Immer mehr Volk schließt sich an. Die Polizei meint, das seien patriotische Demonstranten, die den Zapfenstreich zu Ehren des Königs vergrößern wollen. Und sie wundern sich nicht wenig über so viel patriotisches Volk, die Hüter der öffentlichen Ordnung. Bis vor dem Hause des PreßsünderS unser altes Kampf- lied angestimmt wird und die Menge begeistert mitsingt. Das war eine böse Ueberraschung I Schon nach der gewaltigen Demonstration gegen die Fleisch- teuerung hatte der von München bezogene Herr Polizeidirektor ge- droht, daß man nunmehr andere Maßnahmen gegen Demonstranten zur Anwendung bringen werde. Allgemein hatle man darunter die Mobilisierung des Militärs verstanden. Bald sickerte aber durch, daß der Herr Polizeidirektor v. Bittinger noch Größeres plane. Zunächst wurde die Schutzmannschoft mit Revolvern bewaffnet. Aber was sind Revolver im männermordenden Kampf mit vielen taufenden Roten! Also Gewehre her! Ganz heimlich wurden aus dem Militärdepot in Liidwigsburg Gewehre nach Stuttgart geschafft, ganz heimlich, damit niemand vor der Zeit erfahre, welch furchtbare Waffe die hohe Polizei nunmehr in Bereitschaft habe. Drei Tage später konnte der Vorsitzende der Stuttgarter Parteiorganisation den MobilinachungSplan der Polizei und ihre Rüstungen dem verehrlichen Publikum mitteilen. Die Nachricht stieß zunächst auf ungläubiges Staunen. Unsere brave Stuttgarter Schutzmannschaft, zum großen Teil biedere Familienväter, mit dem fürchterlichen Schießgewehr auf dem Buckel gegen die Stuttgarter Bevölkerung auf blutigen Krieg ausziehend? Undenkbar! Aber die Mitteilung stimmte doch! In einer der letzten Sitzungen der Polizeiabteilung der Stuttgarter Gemeindeverwaltung standen die Bestimmungen über den Waffengebrauch der Schutzmann- schaft zur Beratung. Darin steht auch geschrieben, daß die in Ver- Wahrung de§ Kommandos der Schutzmannschaft befindlichen Gewehre nur in außerordentlichen Fällen zur Anwendung gelangen sollen- Was für außerordentliche Fälle das sind, wissen die bürgerlichen Parteien genau. Und darum haben sie auch alle bis zur Volkspartei diesen Bestimmungen ihren Segen gegeben! Gebe nun der liebe Gott, daß diese Gewehre sich als Heil- mittel gegen die Demonstrationen der Arbeiterschaft bewähren. O diese ängstlichen Seelen! Das Enäe des Balhankncges. Der Druck der Mächte auf die FriedenSdelegierten. London , 28. Mai. Die Presse beider Parteien spricht ein- stimmig ihre Zustimmung zu den Erklärungen aus, die Sir Edward G r e y gestern den Friedensdelegierten ge- macht hat. Die„Times" schreiben: Wir zweifeln nicht, daß dieser energische Schritt eine heilsame Wirkung auf die Staaten haben wird, die bisher Entschuldigungen wegen des Aufschubes vorgebracht haben. Jetzt sind sie im Besitze der Entscheidung Europas , und sie tvissen, daß diese unwiderruflich ist. Die kalte Dusche, die der Beschluß der Botschafter und die folgenden Worte des Staatssekretärs den Vertretern der widerspenstigen Regierungen verabfolgt haben, verursacht ihnen vielleicht einen augenblicklichen Schreck. Aber wir sind sicher, daß sie ihnen gut tun wird. Europa handelt tatsächlich ebenso in ihrem besten Interesse als indem eigenen. Friede mit der Türkei und ein billiger und vernünftiger Ausgleich unter einander ist für sie absolut notwendig. Der Friede ist die Vorbedingung fiir den Aus- gleich- Das Blatt fährt fort: Wir glauben, daß sie sowohl den Frieden wie den Ausgleich wollen, aber sie haben be- wiesen, daß sie keinen von beiden aus eigener Kraft erreichen können, und da sowohl der Friede wie auch der Ausgleich für die Dauer der diplomatischen Ruhe Europas unentbehrlich ist, so ist eS das Recht und die Pflicht Europas , sie mit fester Hand zu diesem doppelten Ziel zu führen. „Dailv News" schreibt: Staatssekretär Grey hat gestern mit seinen Erklärungen an die Friedensdelegierten dem allgemeinen Empfinden des Publikums Ausdruck gegeben. Es ist Zeit, daß Griechenland und Serbien einsehen, daß die Ge- duld Europas erschöpft ist. Es besteht eine wachsende Entrüstung gegen ihre Politik, die ein besonders unerfreuliches und unhcil- volles Aussehen hat. Wir hoffen, daß dieses nachdrückliche Auf- treten der Mächte dem unziemlichen Spiel der Balkanstaaten ein Ende machen und daß zunächst einmal der Friedens- vertrag von allen kriegführenden Parteien ohne Auffchub unter- zeichnet wird. Nach anderen Meldungen aus London wird angenommen, daß die Friedenspräliminarien am Freitag unterzeichnet werden. Die scrbisch-bulgarische Verstimmung. Belgrad , L7. Mai. Das ZtegicrungSorgan„Samouprawa" er- klärt in einem„Am schicksalschweren Scheideweges detitelten Ar- tikcl, Serbien habe im Interesse des Balkanbundes seine Vertrags- mäßigen Verpflichtungen verdoppelt, während Bulgarien nicht ein- mal seine vertragsmäßigen Verpflichtungen erfüllt habe. Nach den gegenwärtig besetzten iLebicten würde Serbien ein Territoriuni von insgesamt 85 000 Ouadrattilomctcrn, Bulgarien aber 150000 Quadratkilometer erhalten. Trotzdem neide Serbien seinem Schwcstcrstaate Bulgarien die Vergrößerung nicht, es müsse aber an die Gewissenhaftigkeit und Ehre seines Verbündeten appellieren, damit die von ihm gebrachten Opfer ancrlannt würden. Nie- wand habe das Recht, von Serbien , selbst unter Berufung auf die Notwendigkeit der Erhaltung des Balkanbundcs, zu verlangen, daß es auf seine staatliche Unabhängigkeit und auf die Sicher- heit friedlichen Lebens innerhalb seiner Grenzen verzichte. Am allerwenigsten könne es zu einer solchen Erniedrigung durch einen Vertrag gezwungen werden, der von der zweiten Vertrags- Partei eigenmächtig abgeändert wurde, indem sie sich von den eigenen Verpflichtungen lossagte, Serbien aber doppelte Verpflichtungen und doppelte Opfer auferlegte. DaS sei ein Unrecht, vor welchem Serbien sich ohne Zwang nicht beugen könne. Dessen mühten die Freunde Serbiens uwd des Balkans eingedenk sein. Ablösung österreichischer Reservisten. Wien , 28. Mai. Im Hinblick auf die lange Tauer der Er- höhung des Bestandes der in Bosnien , der Herzegowina und in Dalmatien dislozierten Truppen hat der Kaiser, wie die„Militä- rische Rundschau" meldet, angeordnet, daß die ältesten Reserve- und Ersatzreservejahrgänge(1902 bis 1905) und die meistbegün- stigtcn Ersatzreservisten lFamiliencrhalter und einzige Söhne) aller Jahrgänge, die seinerzeit zur Ergänzung des TruppenbestandcS in Bosnien , der Herzegowina und in Dalmatien einberufen worden waren, soweit Ersatzmannschaften verfügbar sind, durch jüngere Re- servemannschaften und nichtbegünstigte Ersatzreservisten o b g e- löst werden. Diese Verfügung ist einerseits auS der Erwägung hervorgegangen, daß die auswärtige Lage ein Herabgehcn in den Beständen in Bosnien , der Herzegowina und in Talmatien nicht möglich erscheinen läßt, andererseits aus dem Bestreben, den be- reits seit mehreren Monaten in aktivem Dienst Stehenden die Rück- kehr zu ihren Familien zu ermöglichen. Eine an sich Wünschens- werte gleichzeitige Entlassung oller Reserve- und Ersatzreserve- männer wäre, auch falls die auswärtige Lage dies zuließe, schon aus TranSportrücksichtcn undurchführbar und mühte staffclwcise erfolgen. Ungarn . Der Panamaprozeß des Ministerpräsidenten. Budapest , 28. Mai. In dem Verleumdungsprozeß des Minister- Präsidenten L u k a c S gegen den Abgeordneten Zoltau D e s y wurden heute die Zeugen der Verteidigung vernommen. Der stellvertretende Generaldirektor der Ungarischen Bank und Handelsaktiengesellschaft Emmerich V a j d a gab an, daß die Bankdirektion seinem Kollegen Paul Elek größere Beträge zu diskreter Verwendung über- geben habe, und daß er selbst mit der Kontrolle beauftragt worden sei. Elek habe sich geweigert, einen Betrag von mehr als einer Million zu verrechnen. Elek gab als Zeugs an, er habe einen drei Millionen übersteigenden Betrag für den Wahlfonds gegeben, da die Ungarische Bank- und Handels- aktiengesellschaft an zahlreichen Unternehmunge» der Regierung beteiligt gewesen sei. Vajda habe auS eigener Wissenschaft keine Kenntnis davon. an wen Elek diese Summe gezahlt habe. Mehrere Zeugen, darunter Graf Emmerich K a r o I y. Generaldirektor S a n d o r und General» direktor B u l l m a n n erklärten, daß Elek sich vor ihnen vollkommen gerechtfertigt und die richtige Verwendung dieser Gelder nach- gewiesen habe.— Zeuge Graf Julius A n d r a f s y, früherer Minister deS Innern, erklärte, er habe es abgelehnt, an der RechtfertigungS- aktion für Elek teilzunehmen, da er keine Schweigepflicht habe über- nehmen wollen für den Fall, daß er von politischen Mißbräuchen Kenntnis erhalte.— Graf Johann Z i ch y. der ehemalige Unterrichts- minister erklärte, daß er wegen des Falles Desy-LukacS auS dem Kabinett ausgetreten sei? er habe als Minister von dieser Angelegen- heit Kenntnis erhalten und glaube sich nicht berechtigt, darüber auS- zusagen. frankmeb. Die Orgie der Ordnung. Paris , 27. Mai. (Eig. Ber.) Das Komplot ist da— das Komplot der militaristischen und kapitalistischen Reaktion. die die Soldatendemonstrationen benutzen will, um in ganz Frankreich die Kräfte des politischen und wirtschaftlichen Widerstandes der Arbeiterklasse zu brechen. In Paris und 88 Provinzstädten hat die Polizei gestern Haussuchungen gehalten in Gewerkschastslokalen, Redaktionen, sozialistischen Organisationsbureaus, Konsulnvereinen und Privatwoh- nungen. Die Gewalttätigkeit der Dupuyschen Aera ist über- troffen, der patriotische Schrecken tobt wilder als der An- archistenschrecken. Nicht einmal das Feigenblatt der gesetz- lichen Formalität wird vorgesteckt. Im Verbandshaus der Seinegewerkschaften, bei der C. G. T.. auf der Arbeitsbörse haben die Polizisten die Organisationslokale in Abwesenheit der Vertreter der Organisationen durchsucht. Tischladen und Schränke aufgebrochen, Mappen aufgerissen, Dokumente fort- geschleppt, den Rest wüst auf einen Haufen geworfen. Und was haben sie mitgenommen? Bei den Erdarbeitern die Geschäftsbücher, eine Tabelle über die Pensionen der Unfall- Versicherung, auf der Redaktion der„Vie Ouvridre" eine Liste, die die Namen von Persoire» enthielt, denen das Abonnement auf eine Jugendzeitschrift— angeboten werden sollte, Bücher und Broschüren, die einen„verdächtigen" Titel zeigten, wenn sie auch schon vor 20 Jahren erschienen waren. alte Zeitungsnummern. Manuskripte. Und so ungefähr über- oll. Wie sinnlos, einfach nach einem vom Ministerium aus- gegebenen Schema, verfahren wurde, geht daraus hervor. daß z. B. in C l e r m o n t- F e r r a n d die Polizei bei dem dortigen Parteiblott„Ami du Peuple" haussuchte, dessen Redakteur der extreme Reformist Baren ne ist. der erst vor ein paar Tagen in einein Artikel die Soldatendemonstra- tionen bedauert hat. Was die Polizei vor allemjuchte, waren Dokumente, die die— vollkommen legale— Soldatenunterstützungskasse der Gewerkschaften betrafen, sowie Soldatenbricfe an GeWerk- schasten und Redaktionen. Sie hat vielleicht ein paar Briefe gefunden, die der M i l i t ä rj u st i z genügen werden, die Schreiber nach Afrika zu schicken. Aber war dieses edle Ziel die Verletzung der ge- sctzlichcn Freiheiten, die Verhöhnung aller demokratischen Prinzipien der republikanischen Verfassung wert? Soll dem gestrigen Vorstoß der große Schlag folgen— der Versuch, die gewerkschaftliche und politische Organisation des französischen Proletariats zu zertrümmern? Jedenfalls— das eine steht fest. Die Reaktion wird auf Granit beißen. Ihre Gewalttätigkeit peitscht das Gefübl der proletarischen Würde, des proletarischen Selbstbewußl> seins auf. Auch die bürgerliche Demokratie ist noch nicht so ganz verkommen, als daß nicht aus ihrer Mitte dem Prole- tariat Helfer erstehen sollten. Bezeichnend ist dafür, daß neben den Arbeiterorganisationen auch der G e in e i n d e r a t von Lyon mit allen gegen 2 Stimmen einen Protest be- schlössen hat. Proteste gegen die Komplottschnüffelei. Paris , 28. Mai. Der Ausschuß des Allgemeinen ?lrbeitSvcrbandes beschloß, in einem Aufruf gegen die letzten polizeilichen Haussuchungen Einspruch zu erheben. Der Gemeinderat von Lyon protestierte auf Antrag zweier Sozialisten nahezu einstimmig gegen die in der dortigen Arbeitsbörsc und in den Wohnungen der Gewerkschaftssekretäre vorgenommenen Durchsuchungen. welche ungerechtfertigte Herausforderungen seien und der Meinungsfreiheit widersprächen. Die Mehrheit des sozialistischen Gemeinderats von B r i g n o l e s(Departement Var ) lehnte es ab, die Mittel zur Unterbringung eines Regiments zu gewähren. Die darüber aufgebrachte Volksmenge(?) drang in den Sitzungssaal ein, beschimpfte �die Gemeinderäte und zerschlug die Fensterscheiben. Zehn Gendarmen mußten einschreiten, um den Bürgermeister und die Mitglieder des Gemeinderats beim Verlassen des Stadthauses vor der Volkswut zu schützen. Amerika. Bestrafung eines bestechlichen Senators. New Aork, 28. Mai. Senator S t i I l w e l l, der der Bestechlichkeit in Verbindung mit der Börsengesetzgebung schuldig befunden wurde, ist zu einer Zuchthaus st rafe von unbestimmter Dauer, die nicht weniger als vier und nicht mehr als acht Jahre betragen soll, verurteilt worden.
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