Vewegte sich, trotzdem er erwacht war, nicht, blickte nur starr zur Decke empor und lieh sich die Uhr im Rasseln und Klingen er. schöpfen. Da krampfte diese ihre metallenen Eingeweide zusammen, machte einen Knax— und verstummte. Der Erwachte lachte bitter auf. Mochte sie verdorben sein, stillstehen. Er brauchte jetzt die Uhr nicht, morgen nicht, wer konnte Wissen: wie lange nicht. Unausgesetzt starrte er zur graugetünchten Decke empor, ohne das Behagliche des ungewohnt längeren Ruhens empfinden zu können. Er fühlte, daß die Muskeln des Körpers gegen diese Ruhe rebellierten. Sie waren gewohnt, um diese Stunde bereits tätig zu sein, dem Rufe der Arbeit zu gehorchen, der sie fast täglich rief, dem sie folgen muhten— weil sie leben wollten. Aber heute scholl dieser Ruf nicht, denn er war arbeitslos. Arbeitslos! Armseliges, einfaches Wort! Wohl ein deutsches Wort, aber vielen unverständlich. Der Sinnende drang mit seinen Gedanken bohrend in die Höhen der sozialen Schichtungen ein. Dieses Wort verlor die furchtbare Bedeutung vor der Tür des Be- sitzes, aller jener, die die Verwaltung der Arbeit— der anderen oder deren Nutznießung pflegten. Vom einfachen unverstandenen Wort bei der Türe des Besitzes schwoll es auf dem Wege zum Pro- letariat zum furchtbaren Dämon an, wurde zum Ungeheuer, das seine Krallen in die Muskeln und Gehirne der Masse schlägt, sie zerfetzt, zermürbt, das Lachen und die Fröhlichkeit fristet und mit seinem verdörrenden, pestartigem Hauche Gesundheit, Glück und Sorglosigkeit verzehrt. Arbeitslos! Heulendes Lachen des Entsetzens, dessen Laut die Körper erzittern lätzt, die Stärksten mit geheimen Grauen erfüllt, die Schwachen erschüttert und zu Boden wirft. Das wie eine drohende Gewitterwolke am Horizont steht, seine Blitze entsendet und in Zeiten der Krise ganze Länder verheert! Was gilt da das Leid des einzelnen, das Leid der Familie, die Tränen der Mütter, die Seufzer der Väter— alles Leckerbissen für den Götzen, der sich in das kleine einfache Wort kleidet, Fabriken, Werkstätten und Maschinen stillegt und in betäubender Müdigkeit die Muskeln lähmt. Essen und Ambosse, Spinnmaschine und Guhform leer und verödet, erstarrt unter dem furchtbaren Einflutze des fluchwürdigen Wortes. ES ist eine Welle, die mit der EntWickelung der Menschheit an Gröhe gewinnt und deren Aufschäumen immer stärket: und furcht- barer wird. In wildem Auffluten rauscht sie über Städte und Länder, über die ganze Erde. Sie quillt auf im Süden Amerika «, rollt wie ein Samum über die Kulturzentren, entvölkert die Häuser, um mit grauser Wucht über die alte Welt niederzubrechen, Hunderttausende im Schlamme begrabend... Eine Fliege summte um die schweigende Uhr, eine bedrückende Stille kroch in das Zimmer, legte sich beengend über den Sinnenden. Aus dem Summen der Fliege glaubte dieser zu entnehmen, dah er träge sei, nicht ruhen dürf« um diese Stunde, in der ein brausendes Lied der Arbeit durch die Welt klang. Seufzend erhob er sich und trat zum Fenster. Die Sonne hatte sich hinter dichtgeballten grauen Wolken geflüchtet, kummergrau und sorgenschwer starrten die Fassaden der Zinskasernen auf die sonnenleere Strahe nieder, über die einige schlecht gekleidete magere Kinder verspätet zur Schule eilten. Hin und wieder rollte ein Geschäftswagen durch die schmale Gasse; mißtönend und ratternd scholl das Gepolter der Räder in dem Luftschachte der beiden hochaufftrebenden Häuserfronten empor. Nun ging es ans Ankleiden. Am Tisch lag das Arbeitsbuch und schien sich in lästiger Behaglichkeit die Kammer zu betrachten. Freilich nicht lange. Die muskulösen Finger schlangen sich um den steifen Deckel und versenkten das Buch in die weite dunkle Tasche. Melancholisch schweigend blickte die Uhr dem Scheidenden nach, der mit einem unterdrückten Fluche die Tür hinter sich zuschlug. Der Arbeitslose schritt über die Straße, eilte an Fabriken vor- bei, deren Schornsteine mit schweren Stöhen Rauchschwaden in die Luft bliesen. Aus den finsteren Kellerwerkstätten scholl dumpfes Hämmern, vor den Bauten knarrten die Winden der Flaschenzüge. Ueberall Bewegung, Leben, Tätigkeit, Schaffen, nach dem sich auch der Müßige sehnte, durchdrungen von einer Moral, die in ihm wohnte, deren er sich nicht bewuht war und die ihn doch in un- klarem Drange zum Schaffen drängte. Die Stunden flohen dahin, die Fabrikpfeifen durchrissen gellend die Luft. Dunkle Knäuel quollen aus den Toren, eilten hastig über Weana san, dös heißt a„Weanaverein", a Verein, wo— mein't- wegen— lauter Landstraher san, heitzt a„Landstraherverein", no und mir san lauter Leut' vom Neubau, heißen mir unS'n „Neubauerverein". Da weiß man wenigstens, in welchen Bezirk ma hing hört. I Hab' ausg'red't!" Wieder ein Beifallsmurmeln. Kaum, daß es sich gelegt, meldet sich Herr Deubner, ein alter Stammgast de-?„Grünen Baum", zum Wort und erhält es. „Meine Herrn, fängt er an,„Neubauer-Verein"— no, dös 15 ja ganz gut— aber es sagt nit g'nug. Wist'n S'. meine Herr'n, mir san lauter Gast auS'n„Grünen Baum"— no. als- dann— was wollen S' no mehr— heißen mir uns'n"Grüner- Baum-Verein". Jubelnde Zustimmung. Beifallsklatschen und Bravorufe. «Dös ja! DöSiSaNam'! Bravo Deubner!" schallt es umher und nur mit Mühe macht sich der nächste Redner verständlich. „Meine Herr'n", beginnt er,„seh'n S', i bin Stammgast bei der„Schlange"—"a, und wann Sie sich'n„Grüner-Baum- Verein" heißen, da Hab' i ja in ihrem Verein nix zu tun. Oder muß a jed'S Mitglied auch Stammgast vom„Grünen Baum" werd'n? Kommt dös am Eno' in die Statuten?" Vergnügtes Lachen und Rufen: „Sehr gut!"' „No. alsdann! T<r Nam' paßt mt- den nimm i nit an. I tueiß zwar kan' bester'», aber dös macht nix. die nit Stcunm- gäst vom„Grünen Baum" sind, mir san auch wer, und mir lasten uns nit vor'n Kopf stöß'n. So, jetzt Wissen s eSl Lautes Lachen und jene, die dem nun bekämpften Antrag vor- her beigestimmt, rufen diesmal:„Recht hat erl Mir san auch wer! Un ander' n Namenl" Eine längere Pause entsteht. Niemand meldet sich weiter zum 5�' �Linger weiß nicht, was er beginnen soll. Mutig springt C" � Bresche und beginnt:„ is. meine Herr'n! Alles was recht.Sl Der Deubner hat recht und mein sehr geehrter Herr Vurredner hat a °»'■ w--»-w° 6a6'n � Ein Auflachen. ,. berj�irat' war'n, prügelt der Mann die Alte durch und dann b halt er sicher recht" Vergnügtes Zustimmen der Männer und lachendes Protestieren der anwesenden grauen. Im Hintergrund- ruft eine Stimme: „■�er hat leicht reden, seit er Witwer iS." „Dann freilich!" schallt's umher und Brinat's auch noch ZUM ©inianil(Pantoffelheld)!"„Wird schon a�ers pfeisnl" Wiederum lacht cS in der Runde, und auch der Dullinger stimmt ein, wahrend er fortfahrt: .Lassen S' es gut fein, meine Herr'n� Msdann. meine Herr- die Straßen, verrieselten in die dielen kleinen Gassen. Der Arbeits- lose aber schlich scheu und gedrückt durch die Reihen der Arbeiten- den, die an ihm Vorbeiflossen, bis er wieder allein durch die Straßen glitt, in einer kleinen Wirtschast feinen Hunger stillte. Sollte er im Alkohol diesen Ueberdrutz ersäufen, der ihm jeden Bissen im Munde aufquellen ließ, da er nicht erarbeitet war? Nein. Der Alkohol besaß keine Macht über ihn. Hinaus auf die Strahe, dem heimtückischen Gegner entfliehend, immerzu, bis der Abend kam, die Nacht, die barmherziges Vergessen brachte. Die Uhr schwieg, trauernd und müde, das Werk stand still— wie der Besitzer... Ein Tag reiht sich an den andern; der erste Zahltag in der Organisation kommt, wo der Arbeitslose Elendsgefährten trifft. Die Krise spült mit jeder Woche mehr Arbeitslose auf den„Markt", auf dem Menschenkräfte als Ware gefordert oder unbeachtet liegen gelassen werden. Immer mehr find es, die mit müden glanzlosen Augen durch die Straßen irren, die Hände in den Taschen krampf- Haft geballt, in mutloser Resignation Untertan und geknechtet von einem Worte: Arbeitslos... Bis wieder der Tag kam und der Besitzer der schweigenden Uhr stöhlich heimkehrte, die Uhr in Gang setzte und sich dabei ein heiteres Liedchen pfiff. Wie da das- Gehäuse leuchtete, die kleinen Räder sich hurtig bewegten und sich die Uhr dem Morgen entgegen- sehnte, an dem die Sonne wieder über da? Antlitz ihres Herrn spielen würde. Und wenn er sich dann erheben wird, den unheim- lichen Zauber brechend, dann wird auch von ihm der Bann ge- nommen sein des elendstarrenden« sorgenschwangeren Wortes: Arbeitslos. Jos. Ferch. Die j�atur und der JVIenrcb. Seit mehr als hundert Jahren ist die Frage der Natur und der Stellung der Menschen zu ihr mit Fälschungen und Entstellungen ohne Zahl behaftet. Sie haben ein zähes Leben, sie sitzen uns so tief im Blute, daß sie sich als feste Prägungen sogar der Sprache bemächtigt haben. Als Vorurteile, als Gemeinplätze nisten sie über- all in den Winkeln der gesprochenen und geschriebenen Rede. „Die Natur macht den Menschen frei und großzügig, einfach, offen und klar, wie sie selbst in ihrem innersten Wesen ist." „Die Stadt macht den Menschen klein und dürftig, verarmt seine Seele, macht ihn selbstsüchtig und engherzig und drückt ihn auf alle Weise nieder." DaS ist uns allen so geläufig, wie das Bild des seelenguten Freitag, dieses Juwels eine? Niggers, der in drei Tagen aus einem Menschenfresser zum sanften Wiederkäuer und zum pietistischen Frömmler angelsächsischer Prägung wird. Man muß nie, ich will nicht sagen, unter Wilden, aber unter Bauern oder überhaupt unter den Menschen auf dem Lande gelebt haben, um solchermaßen an den „natürlichen" Menschen zu glauben. Verfälscht ward die Frage der Beziehung zwischen Mensch und Natur vor allem durch die Sehnsucht des Stadtmenschen, durch die Erinerung an die glückliche Einwirkung, die er stets bei seinen kurzen Berührungen mit der Natur erfuhr. Der Gegensatz zwischen Lärm, Steinpflaster, Rauch, Enge und Ruhe, Wiesengrün, frischer Luft, weitem Raum ward überwältigend von ihm empfunden. Er fühlte sich frei und kindlich werden, seine Brust dehnte sich in mächttgen Atemzügen aus. Mes, was Natur an ihm war, ward erquickt und gestärkt. Auch sein Seelisches fühlte er einfacher werden. Fragen, die die Stadt mit hitziger Diskussion ständig in ihm wach gehalten, sah er im Meere rauschender Waldwipfel untersinken. Die Land- schaft itand mit dem reinen Gesänge ihrer schönen, strengen Linien vor ihm wie ein Spiegel seiner eignenen Seele: er genoß sich selbst in ihr, und er fand in diesem Spiegel die einfache, ewige, gültige und rein Form seines Ich. Dachte er an die Stadt zurück, so erschien sie als etwas Wildes un» Widernatürliches, als eine Hölle aus Stein, Lärm und Mühe, in der seine Seele verarmte und verdorrte. Und während sein Blick den schwelgerischen Wohllaut klingender Höhenlinien aufnahm, sagte er sich: Hier sind bessere Bedingungen des Daseins, hier kann der Mensch gedeihen. So, aus solchen gelegentlichen und kurzen Berührungen des Stadtmenschen mit der Natur entstanden die Meinungen, von denen schaften, mir san Leut vom alten Schlag— heißen mir uns cruch so—„dö Alten" oder„dö vom alten Schlag" oder so waSl So, meine Herr'n, dös Hab' i burschlagen woll'n." „Freili, dös iS a Red' l" wird auch ihm zugestimmt.„Tos iS a Nam'I" „Weana san mal Und Weana bleib'n ma..." fängt einer zu singen an. und ein zweiter stimmt mit ein, und dann ein dritter und ein vierter, und wie eS zur zweiten Strophe kommt. da singen sie alle. Die Herren am Ausschußtische summen allerdings nur, aber dafür schütteln sie um so mehr energischer den Kopf im Takte. Und wie das Lied beendet ist, da erhebt sich der Bielgruber-Schurdl und apostrophiert die Anwesenden, ohne von Dullinger das Wort erbeten oder erhalten zu haben. „Meine Herrschaft'»," beginnt er,„alles was recht iS! Aber dös mit die polütischen Vereins döS iS z' fadl Geht'S, hört'S auf mit die Pflanz'! DÖS is a Holla(etwas Wertloses)! Wenn die Wahl kommt— da geh'» mir wählen, und die G'schicht iS firtil Wen mir wählen soll'», dös les'n mir im Blatt'l. Alsdann wozu d' Versammlungen und döS ewige Polütisier'n? Geht'S, Lcut'ln, seid's nöt fad! Wann ma am Abend z'samm' kommt, da soll's a Hetz' geb'n! Da soll ma a Freud ' hab'nl A Verein, wie a Verein — guat, g'ründct'S an Verein! Aber an G'selliqkeitSverein, bitt' schön! Daß der Mensch a Freud ' hat, und daß ma weiß, wozu ma auf d'r Welt iSl Wer in a Versammlung geh'n will, mein'twegen, i halt' ihn nit z'ruckl Aber, wißt was, meine Herr'n: hol' d'r Teuxel die ganze Polütik!'s is a Blödsinn! Mir san gute Weana und gute Christ'n und wähl'» halt— aber erst am Wahltag. Wen mir wähl'» sollen— dös kümmert unS nix— döS soll'n die andern Herr'n, die in d'r Partei, sich untereinander auSmach'n! Aber vor- her soll'n s' uns a Ruh' geb'nl Und mir, meine Herr'n, mir gründ'n an Verein! Aber an G'selligkeitSverein! Und was a echter Weana iS, so aner mit an eisern' Hamur (Humor), der muß mir recht geb'nl Punktum! SatiS! Streusand d'rauf!" Ein Jubeln und Lachen und stürmisches Stufen:„Recht hat er! Hört's auf mit d'r Polütik l DöS is eh' alles für d' Katzl A Freud' woll'n mir haben!" Und schon fitzt einer der Gäste am Klavier und im nächsten Augenblicke schallt es durch den Sqal: „DöS Drah'n*), dös iS mein Leb'n, Nix Schönere? kann's geb'n, Als Drah'n die ganze Nacht, Bis an die Sunn' anlacht!" •} Schwärmen, sich vergnügen. oben die Rede war. Und diese Meinungen samt allen daran hängen« den Vorurteilen und Gemeinplätzen sind falsch. Rehr noch: Das Gegenteil von ihnen ist wahr. Der Stadtmensch vergaß, daß es lediglich sein Abstand von der Natur war, der diese Wirkungen ermöglichte. Die Natur ist großzügig und einfach für den, der rein betrachtend und von starken Distanzgefühlen vor ihr steht. Der Mensch aber, der keinen Abstand zur Natur mehr hat, der allen Ernstes in ihr lebt und aufgeht, der wird wirklich Natur und zeigt sogleich alle Merkmale der Natur- Wesen: Ichsucht, Begrenztheit, Einschränkung der geistigen Regsam- keit auf seine nächsten Interessen, Enge des Gesichtspunktes in jeder Art von Urteil und Stellungnahme. Die Bauern und die das Land bewohnenden Kleinbürger: da ist der Boden, wo Herzensenge, Geistesdürre, Seelenarmut gedeiht und nirgend anders. Frei sind die Felder und Wälder, die großen Ausblicke von den Höhen, der Gesang der Hügellinien wie der Zug der Wolken. Aber der M e n s ch hat offenbar nicht die Bestimmung, Natur zu sein. Denn er ver- trägt es nicht, ohne empfindlichen Schaden an dem, was in präg- nantem Sinne menschlich an ihm ist. Das Leben der ländlichen Kleinbürger und Bauern: welch eine kümmerliche Nachäffung städti- scher Formen, welche Armut an Temperament, welche finstere skla- vische Abhängigkeit von lächerlichen Sitten und dem bösen Mund« werke des Nachbarn, welche grobschlächtige Dürftigkeit im moralischen Urteil, welches Untertauchen in wechselseitigen Bosheiten, in Schadenfreude, Klatschsucht und kleinlichster Erwerbsgier! Alles das, was die Gemeinplätze der Stadt nachsagen, trifft auf die Menschen zu, die in der Natur leben, Punkt für Punkt. Man darf sich nicht darüber täuschen: Dem Geiste ist die Natur feind, der menschlichen Differenzierung setzt sie sich entgegen, Entfaltung und Entwicklung des Geistes und der Seele läßt sie nicht zu. Denn diese Entfaltung geschieht nur durch vielfältige Begegnung mit fremden Schicksalen, Charakteren und Individualitäten; sie ist ein Ge» selligkeits-Produkt ersten Ranges und der Boden, auf dem Entfaltung und wahre Individualisierung allein möglich ist, ist die Stadt, die Großstadt. Schon in der beschriebenen Vereinfachung, die der Städter durch seine kurzen Berührungen mit der Natur erfährt, liegt ein erster Angriff auf sein Menschliches: auf seine Fragelust, auf seine Er» kenntnisgier, auf seine entwickelten und verfeinerten Sittlichkeits- begriffe, auf die Vielseitigkeit seiner Interessen, auf seine Jndivi- dualität, die die Stadt durch die häufigen Berührungen mit fremden Charakteren und Erscheinungen klar und sauber herauspräpariert hat. Ein Angriff also auf alles, was im auszeichnenden Sinne menschlich ist. Der Mensch braucht, um Mensch zu sein, unaufhörliche Di?- kussionen. Begegnung mit mancherlei Fremdem, Reizung seines höheren(und wohl auch seines weniger hohen) Begehrens; er braucht vor allem Kenntnis der Vielgestaltigkeit menschlichen Lebens, will er anders auf der Höhe seiner Urteilsfähigkeit in ethischen, politischen oder ökonomischen Dingen bleiben. Die Stadt tut alles das am Menschen, was die erwähnten Vorurteile der Natur nachsagen. Zeugen dieser Wahrheit sind jene zahlreichen Geistesarbeiter, die von der Phrase„Landleben" verführt, Stadtflucht begehen und nach ein, zwei Jahren reumütig wieder in die„Steinwüste" als in ihre wahre und eigentliche Heimat zurückkehren. Auch geistig minder Anspruchs- volle müssen diese Erfahrung machen. Denn auch die einfachen Be- Ziehungen zwischen Mensch und Mensch gedeihen wesentlich besser in der Stadt« Freundschaft, Kameradschaft, Kollegialität. In der Stadt ist ja der Mensch dem Menschen alles. In der Natur ist er ihm meist eine Störung, eine Bedrohung, etwas Aufgezwungenes, nicht selten ein Feind. Die höchste Entwicklung des Einzelmenschen und der Beziehung zwischen den Menschen sind Aufgaben, die heute nur in einem der Natur möglichst entgegengesetzten Milieu gelöst werden können. Und man sage nicht, daß die Stadt doch etwas Künstliches und als Pflanzboden für lebendiges Wachstum der Natur Unterlegenes sei. Gerade die modernen Weltstädte zeigen in der elementaren, überwältigenden UnPersönlichkeit ihres Treibens, in der ungeheuren Vielgestaltigkeit ihrer Topographie, in der Kühn- heit und Größe ihrer Gebilde wieder naturhafte Elemente. Wie Meere dehnen sie sich aus, tiefer als im Urwald kann sich der Mensch in ihnen verlieren. Die Großstadt— das ist wieder Natur auf dem Umwege über den Geist und die Arbeit des Menschen. Wilhelm Michel . Um 1 Uhr nachts leerte sich der Saal. Die Heimkehrenden waren Mitglieder des eben gegründeten Vereins„Die lustigen Brüder"; dessen Ausschuß bestand aus den Herren Dullinger. Wanneck, Stienböck und Vielgruber. Das Mtmäer von Kevelaer . Heinrich Heine , der bittere Spötter und doch auch wieder über» mäßig Empfindsame, hat in seiner„Wallfahrt nach Kevelaer " dichterisch-frei den damals sehr stark verbreiteten und angeblich durch Beweise gestützten Glauben der Katholiken behandelt, daß Kranke durch eine Wallfahrt nach Kevelaer wieder gesund werden könnten. DaS war vor etwas mehr als SO Jahren. Wer nun aber annehmen sollte, baß dieser Wunderglaube heute abgenommeu habe, der muß sich jetzt eine Berichtigung gefallen lassen. Die„Niederrheinische VolkSzeitung" in Krefeld , ein Zentrums» organ, schreibt nämlich folgendes, und alle übrigen Blätter dieser Couleur drucken eS bereitwilligst nach: „In der vorigen Woche verbreitete sich in der Stadt das Ge» rilchi von einer wunderbaren Heilung eines etwa dreißigjährigen Mädchens in Kevelaer . Wir haben, obschon wir von verschiedenen Seiten gedrängt wurden, von dem Gerücht keine Notiz genommen. Nachdem nun aber die auswärtige Presse und im Anschluß daran die hiesige Presse über daS Ereignis berichtet haben, sind wir in der Lage, folgendes als Tatsache mitzuteilen: Es handelt sich um ein Mädchen, daS seit 1907 seitens der Stadt in der Krankenstation des Franziskanerklosters am St. Dionisius» platz untergebracht, seit etwa zehn Jahren an schweren Leiden erkrankt ist und sich in den letzten Jahren mit Hilfe zweier Krücken im Hause fortbewegen konnte. Ihrem dringenden Wunsche entsprechend machte sie am Sonntag. den 20 Juli, unterstützt von der leiblichen Schwester und zwei Freundinnen, eine Wallfahrt nach Kevelaer . Vom Bahnhof aus wurde sie im Fahrstuhl nach der Gnadenkapelle gebracht, ging mehrmals auf den Krücken in die Gnadenkapelle hinein, wurde am Montag nachmittag in derselben von einer Ohnmacht befallen, er- hob sich dann und verließ die Kapelle, ohne ihre Krücken brauchen zu müssen. Seit dieser Zeit geht das Fräulein ohne Beschwerde umher." Diese Erzählung wird ja nun fieilich von sehr vielen Leuten recht skeptisch oder gar lächelnd aufgenommen werden. Die Wunder» gläubigen aber haben eine neue Stärkung erfahren: Nach Kevelaer ging mancher auf Krücken. Der jetzo tanzt auf dem Seil, Gar mancher spielt jetzt die Bratsche, Dem dort kein Finger war heil.