Einzelbild herunterladen
 

Hus der Frauenbewegung. Krankheit und Sterblichkeit der frau. In dem SammelwerkeKrankh-it und soziale Lage", heraus- gegeben von Professor Dr. M. Mosse und Dr. med. G. Tugend- reich(lJ. F. Lehmanns Verlag, München 1912) hat SanitätSrat Dr. med. Wilhelm Weinberg , Stuttgart ,'den dankenswerten Versuch unternommen, aus dem verhältnismäßig dürftigen Material, das die Statistik bisher geliefert hat, den Einfluß der sozialen Lage auf Krankheit und Sterblichkeit der Frau festzu- stellen. Ein Ergebnis dieser interessanten Untersuchung ist um eS gleich vorweg zu sagen, daß die Erwerbsarbeit verrichtende Frau gesundheitlich weit mehr gefährdet ist als der Mann, und zwar sowohl bei körperlicher wie bei geistiger Arbeit. Ganz be- sonders ungünstig ist der Gesundheitszustand der Lehrerinnen; sie erkranken doppelt so häufig und doppelt so lange als die Lehrer, wie statistische Vergleiche aus Stettin , Kiel , MaruiHeim, München , Hamburg und Magdeburg ergeben. Schulo daran sind unseres Erachtens verschiedene Umstände, vor allem die kostspieligere Aus- bildung und die niedrigere Besoldung der Lehrerinnen gegenüber der der Lehrer. Beide Faktoren verhindern nur zu oft eine rationelle Ernährung, die bei dem überaus anstrengenden Beruf besonders notig wäre. Dazu kommen später die nervenschädigenden Wirkungen des Zölibats. Nicht in demselben Matze wie diese Proletarierin der Kopfarbeit ist die Lohnarbeiterin dem Arbeiter gegenüber in bezug auf Erkrankungshäufigkeit und Krankheits- dauer b machteil igt; doch läßt sich die ungemein wichtige Tatsache aus den statistischen Zahlenreihen ablesen, daß es die Zeit der EntWickelung, der Fruchtbarkeit und des Erlöschens der Geschlechts- reife, im besonderen das Alter von 20 bis 55 Jahren ist, in dem die Frauen besonder? leicht erkranken. Ein ähnliches Bild zeigt die weibliche Sterblichkeit im Vergleich zur männlichen. Dagegen steht die Frau nach den Wechseljahren erheblich günstiger da als der Mann. Vergleichen wir aber verschiedene Bevölkerungs- schichten miteinander, dann erweist die Statistik die aufreizende Tatsache, daß die Uebersterblichkeit der Frau nur auf die ärmere Bevölkerungsklasse beschränkt ist. So ergibt ein Vergleich der Frauensterblichkeit in verschiedenen sozialen Schichten Bremens , daß im Alter von 15 bis 39 Jahren die Sterblichkeit der armen Frauen 7mal und im Alter von 39 bis 69 Jahren mehr als doppelt so groß war, als die der wohlhabenden Frauen. Bekannt ist die größere Fruchtbarkeit des Proletariats im Ver- gleich zu der der Bourgeoisie. Allein gerade die fruchtbaren Mütter, die Frauen der Armen, die dem Staate unermüdlich neue Bürger schenken, sind es, die Krankheit und Tod am schwersten bedrohen, weil jene nicht genug der ungeheuren Kraftausgabe des Tra- genS, Gebärens und der Aufzucht der Kinder häufig auch noch zu schwerer Erwerbsarbeit gezwungen sind. Diese Doppel- belastung der Proletarierin rächt sich frühzeitig durch Erschütte- rung der Gesundheit. Wir sehen, daß die Frau infolge von Leiden und Krarrkheiten, die in irgendeiner Beziehung zu ihrer Ge- schlechtssphäre stehen, eine erheblich höhere Krankhcitsziffer auf. weist als der Mann. Nicht nur bei den Folgekrankheiten von Ge- burt und Wochenbett ist dies der Fall, sondern auch bei den Krank- Herten deS EntwickelungSalters. In der Leipziger Krankenkassen. statistik kamen z. B. auf 19 999 Pflichtmitglieder 28 Erkrankungen an Blutarmut bei den Männern gegen 676 bei den weiblichen Mitgliedern; eS kamen ferner 9,2 Fälle von anderen EntWicke- lungskrankheiten bei Männern vor gegen 121 Fälle bei Frauen. Blutarmut und Bleichsucht, die so oft die Grundlage zu Tuber- kulose bilden, sind häufige Entwickelungskrankheiten bei jugend- lichen Arbeiterinnen, denen Neberarbeit bei gleichzeitiger Unter- ernährung zugemutet wird. Kein Wunder, da unsere Gesetz- gebung die Kinder nur bis zum 13. Lebensjahre vor der AuSbeu- tung in den dumpfen Erwerbshöhlen der Industrie schützt! Die Blutarmut hängt wiederum häufig zusammen mit den bei ar- bettenden Frauen so zahlreichen Krankheiten der Verdauungs« organe. Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane, die bei Frauen vielfach Folgen von Geburten sind, zeigten bei den weib- lichen Mitgliedern der Leipziger Krankenkasse die enorme Ziffer von 255 gegen 49 Erkrankungen bei den Männern. Dieses Miß- Verhältnis war besonders ungünstig in der Altersklasse vom 26. bis 35. Lebensjahre, also den Jahren der höchsten Fruchtbarkeit deS WeibeS. Ein direkter Zusammenhang besteht ferner zwischen Tot » geburten und sozialer Lage. Die bis unmittelbar vor der Niederkunft hart arbeitenden Frauen haben häufiger Totgeburten als solche Frauen, die in auskömmlichen Verhältnissen leben und sich schonen können. Eine österreichische Statistik erweist, daß die Sterblichkeit an Kindbettfieber bei unehelichen Müttern und da? find zumeist die ärmsten der armen um 22 Proz. höher ist als die der ehelich Gebärenden. Klaffend treten die sozialen Unterschiede zutage im Vergleich der Wochenbettsterblich- keit der wohlhabenden und der armen Frauen in einer österreichi- schen Tabelle. Die Sterblichkeit der Frauen der Industrie- und Lohnarbeiter an Kinobettfieher war fast doppelt so hoch, die der landwirtschaftlichen Arbeiterinnen gar spinal so hoch, wie die der Frauen von selbständigen Industriellen.Die antiseptischen Schutzmaßnahmen bei der Entbindung verlangen einen gewissen Komfort," sagt Dr. Brennecke, der bekannte Vorkämpfer einer Re- form der Geburtshilfe. Wo wäre dieser Komfort, der der wohl- habenden Frau ohne weiteres zu Gebote steht, in den Wochen« stuben der Armut zu finden? Noch mehr der erschütternden Tatsachen: eine der am meisten gefürchteten Krankheiten, gegen die die ärztliche Wissenschaft noch wenig ausrichten kann, der Krebs, vor allem der Krebs der Ge- bärmutter, ist bei armen vielgebärenden Frauen weit häufiger als bei wohlhabenden Frauen mit wenigen oder gar keinen Kindern. Die Tuberkulose wütet unter den Frauen im Alter von 25 bis 35 Jahren mörderischer als in derselben Alters- klasse von Männern. Vergleichen wir aber verschiedene soziale Schichten der Frauen miteinander, so finden wir von neuem die alte Wahrheit bestätigt, die nur ein M u g d a n leugnen kann, daß die Tuberkulose die Proletarierkrankheit ist. Nach der Bremer Statistik von Funk starben von je 19 999 Frauen im der Alter wohlhabenderen mittleren ärmeren von Klasse 1589 Jahren 1,6 11 49 39-69, 2,9 11 84 über 69, 19 18 31 Auch andere Berechnungen zeigen eine, wenn auch nicht so krasse, so doch sehr erhebliche Uebersterblichkeit an Tuberkulose bei den Frauen der Armen, besonder? bei den vielgebär-nden. Diese oft ungeheuerlichen Zahlenkontraste bedürfen kaum eines Kommentars, denn sie offenbaren auch dem blödesten Auge sichtbar die letzten Wirkungen der kapitalistischen Wirt- schaft mit ihren bis aufs äußerste zugespitzten Klassengegensätzen. Diese können wir nicht anders überwinden als im Klassenkampf, im Kampf der Besitzlosen gegen die Besitzenden, der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Die Frauen deS Proletariats wahren nur ihre eigensten, von der heutigen Gesellschaftsordnung am ver- Vorwärts" Nr. 229. Donnerstag, den 4. September 1913. hängnisvollsten bedrohten Interessen, wenn sie als sozialdemo- kratische Klassenkämpferinnen tatkräftig mithelfen, allen Ange- hörigen des Volkes die gleichen Existcnzmöglichkeiten zu erringen. Die bürgerlichen frauen zum Code Bebels. Die gesamte Frauenwelt hat den tapferen Vorkämpfer sür ihre Rechte auf allen Gebieten nur den wärmsten Dank zu widmen und sein Andenken hoch in Ehren zu halten. Wird sie es tun, wird die bürgerliche Frauenwelt wenigstens in diesem Augenblick, alle Gegensätze beiseite setzen, um diesem Dank Ausdruck zu geben, wo der große Kämpfer für ihre Rechte nicht mehr seine flammenden Worte für sie in die Wagschale zu ihren Gunsten hineinwerfen kann? Wird die bürgerliche Frauen- welt großdenkend sein und damit dankbare Worte dem Kämpfer auch für ihre Rechte zu widmen verstehen?" So fragt die bürgerliche Frauenrechtlerin Minna Cauer in ihrem OrganDie Frauen- bewegung "<Nr. 17 vom 1. September). Aber vergeblich haben wir die Frauenbeilagen der bürgerlichen Tageszeitungen durchsucht. Nicht eine Zeile auch nur der Mitteilung von der Tatsache des Todes, geschweige denn die Würdigung über Bebels� Arbeit für die gesamte Frauenwelt. Auch die meisten bürgerlichen Frauenzeitschriften ziehen es vor, über Bebels Tod zu schweigen. Diese Feigheit charakterisiert sich von selbst. Sie ist umso auffälliger, als Bebel nach dem Zeugnis bürgerlicher Frauen auch ihnen gern Rat und Hilfe brachte. Bisher liegen nur zwei Stimmen aus bürgerlichen Frauenkreisen zu seinem Tode bor . In dem Zentralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine Die Frauenfrage" sVerlag G. B. Teubner) schreibt Marie Stritt u. a.: Nicht nur den Frauen des Proletariats, auch den bürgerlichen Frauen ist er ein Erwecker geworden, Tausenden hat er das eigene und das allgemeine Leid ihres Geschlechtes zum Be� wußtsein gebracht, Tausenden aber auch Mut und Kampfesfreudigkeit gestärkt und den Weg zur Höhe und zu einem befriedigenden Lebens inhalt gewiesen.... Das war überhaupt das Charakteristische an Bebels tiefgründiger Behandlung der Frauenfrageprobleme, das Große in seinem Kampf für die Frauen: ging er dabei auch stets vom Stand- Punkt und den Interessen seiner Partei aus, so übersah er doch niemals die allgemein menschliche, die allgemein kulturelle Be deutung dieser Probleme, dieses Kampfes. So ist er denn auch, wenn im Reichstag Petitionen bürgerlicher Frauen oder Fragen behandelt wurden, die diese hauptsächlich berührten, ihr Verständnis vollster, beredtester, glänzendster Fürsprecher gewesen, schon zu einer Zeit, als die Vertreter der bürgerlichen Parteien noch nichts als seichte Witze und banale Redensarten für die Mütter der Nation übrig hatten. Und nie hat er, solange er das Wort im Reichstage ergriff, eine derartige Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne sür die Frauen einzutreten. Das darf und wird ihm in der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung nicht vergessen werden. Dank und Ehre seinem Andenken. Minna Cauer berichtet über ihre persönlichen Beziehungen zu Bebel(a. a. O.): Es war mir vergönnt, Bebel in seiner kämpfe reichsten und schwersten Zeit während deS Sozialistengesetzes zu hören, wo er Gefängnis, Verbannung und Entbehrung für seine Ideen zu ertragen hatte. Nie werde ich es vergessen, wie dieser Mann zu wirken verstand, keine Klage über das, was er zu ertragen hatte, nur flammende Worte der Begeisterung, die die Unterdrückten, Gebeugten und Verfolgten zu mächtiger Tatkraft anspornten. Dann lernte ich Bebel persönlich kennen, als ich fast hoffnungslos nach der Gründung des Bundes Deutscher Frauenvereine in betreff des Ver> Hallens desselben den Arbeiterinnen gegenüber in einem inneren schweren Konflikt stand. Die Unterredung mit Bebel in betreff der bürgerlichen Frauenbewegung und meine Auffassung dazu sowie Bebels Ansichten ist für mich ein Markstein geworden. Seit dem habe ich manchesmal, wenn eS sich um Eingaben an den Reichstag oder um wichtige Versammlungen handelte, mich an Bebel gewandt. Immer erhielt ich von ihm als Freund der Lage der gesamten Frauenwelt, nicht nur der seiner Partei, die bereitwilligste Auskunft und die besten Ratschläge.... Die Frauen aber, ob sie seinem Werk verstehend oder ablehnend gegenüberstehen, sollten nie vergessen, was Bebel für sie geleistet hat, er, der ihnen als Ver mächtnis hinterlassen hat:Es gibt keine Befteiung des Menschen ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter." Die Gefelllchafterin. Der Kapitalismus hat eine Reihe von Berufen ins Leben ge- rufen, die nur auf seiner Herrschaft basieren und die schwinden müssen in dem Augenblick, in dem an seiner Stelle eine gesunde, lebensfähige Gesellschaftsordnung sich entwickelt. Zu diesen nicht lebensfähigen Berufen gehört der der Gesellschafterin. Alte, reiche Damen, meist Offiziers- oder Beamtenwitwen, die sich nach einem Leben voller Vergnügen ohne ernstes Lebensziel einsam fühlen und sich langweilen, brauchen eine Gesellschafterin, an der sie alle ihre Launen auslassen können, von denen sie tausenderlei kleine Dienst- leistungen verlangen und deren Lebenszweck darin bestehen mutz, das Leben ihrer Gebieterin so erträglich wie möglich zu gestalten. Die Gesellschafterin entstammt ebenfalls fast immer einer Militär- oder Beamtenfamilie. Sie hat die übliche Jnstitutsbildung ge- nassen, musiziert und malt ein wenig, tanzt vorzüglich One und Twostep und spielt auch sehr gut Tennis. Gewöhnlich hat sie den letzten Schliff in einem Pensionat der französischen Schweiz ge- nassen. Ausgerüstet mit allen Tugenden, die die Gesellschaftsfähig- keit der oberen Zehntausend ausmachen, wird die junge Dameaus dem Stall geführt", s�st sie jung und hübsch, so fehlt es ihr nicht an Verehrern und Tänzern. Aber es sind nur Verehrer, keine Nehmer. Am Schluß des Winters verloben sie sich mit der Tochter irgend einesKrämers", über die sie sich vorher lustig gemacht haben. Die Flamme vom Winter muß sehen, wie sie sich mit ihrem gebrochenen Herzen abfindet. Sie wird älter und aus den Ver- ehrern werden immer mehr Pflichttänzer, denn der Papa ist ein- flußreich. Schließlich bekommt er aber den Abschied und man zieht nachPensionopolis", irgendeiner kleinen Stadt, wo es von Exzellenzen und sonstigen hohen Tieren wimmelt, die alte über- ständige Töchter haben. Eine ernste Beschäftigung kennen diese nicht. Sie machen Handarbeiten oder brennen uno malen aller- Hand unnütze Gegenstände, die sie meist nicht verkaufen können. Ein anderer Gelderwerb gilt ftir nicht standesgemäß und so führen sie ein trotz Kaffeegesellschaften und Tennispartien unbefriedigtes Dasein. Da findet eine von ihnen ein Inserat in derKreuz- zeitung", durch das eine vornehme Beamtenwitwe ein nicht zu jun- ges Mädchen aus guter Familie als Gesellschafterin sucht. Pflich- ten werden nicht verlangt, dagegen wird die Stellung einer Haus- tochter zugesichert. Selbst dem Papa erscheint dies Angebot seiner hohen Stellung würdig. Er führt selbst die Korrespondenz, in der der Geldpunkt unerwähnt bleibt, nur ein Taschengeld sichert die Frau Geheimrat aus Berlin zu. Voller Hoffnungen reist die Ge- sellschafterin ab. Sie kommt in eine elegante Wohnung in Wil - mersdorf, in der sie allerdings nur ein kleines dunkles Hinter- stübchen neben dem Schlafzimmer der Frau Geheimrat eingeräumt bekommt. Dafür darf sie ja aber ani Tage die vorderen Pracht- räume benützen. Die Verbindungstür des Schlafzimmers muß nachts offen bleiben. Die Frau Geheimrat leidet an Schlaflosigkeit und muß dann jemand haben, mit dem sie sprechen kann und zwar gibt es keine Nacht, in der die Gesellschafterin nicht Pulver oder Tropfen mischen muß. Die Sehenswürdigkeiten von Berlin kann sie nie besuchen. Die Frau Geheimrat geht nur Sonntag für Sonn- tag zu Schulte, wo sich die vornehme Welt trifft. In der Woche werden vormittags Besorgungen gemacht, denn die Kinder, die in der Provinz verheiratet sind, wollen alles aus Berlin . Den an- strengenden Teil muß die Gesellschafterin übernehmen; sie muß durch die Läden hetzen, denn das Alleinsein verträgt die Frau Ge- heimrat schlecht. Nachmittags kommen ein paar alte Damen zum Tee, den die Gesellschafterin servieren muß. Ab und zu fährt man in den Grunewald , immer Len gleichen Weg, an dem sie jeden Baum und Strauch kennt; oder man geht zur Abwechselung in den Zoo". Abends muß sie stundenlang vorlesen, Bücher, die sie in- und auswendig kennt; die aber dem geistigen Horizont der Fran Geheimrat entsprechen. Ab und zu besuchen die Damen Diners oder Abendgesellschaften, in denen es von verwitweten Exzellenzen und dergleichen wimmelt. Die Rolle der Gesellschafterin dabei ist nicht sehr amüsant. Statt einer muß sie zehn alte Damen be- dienen, darf nur sprechen, wenn sie gefragt wird und wird nicht als voll angesehen. Auch das Theater besuchen sie zuweilen, aber nur das Schauspielhaus, weil das das einzige ist, in dem man sicher ist, keineunanständigen" modernen Stücke zu sehen. Auch in die Kürfürstenoper wird die Gesellschafterin mitgenommen und sieht dort zum fünften oder sechstenmal die OperTiefland". Ihr bescheidener Vorschlag, ob man nicht einmal in das Opernhans gehen könnte, wird abgelehnt. Da spielt man immer Wagneropern, und die sind nichts für die Nerven der Frau Geheimrat. Ueber- Haupt spielen diese Nerven eine große Rolle in ihrem Leben. Nachts lassen die Nerven sie nicht schlafen, und sie kann nicht allein sein. Am Tage kann sie erst recht nicht allein sein, denn wenn sie so an- gegriffen ist, muß sie jemand um sich haben. Nicht einmal Sonn- tags kann die Gescllschaferin allein ausgehen, denn da ist es gerade so langweilig" in Berlin . Köchin und Stubenmädchen haben das Recht, regelmäßig Sonntags oder auch in der Woche abends aus- zugehen. Die vornehme Gesellschafterin beneidet sie manchmal. Sie darf ihren Posten nie verlassen. Nur nach dem Mittagessen kann sie eine Stunde für sich lesen oder schreiben. Da aber machen sich die gestörten Nächte geltend und sie schläft regelmäßig ein zum großen Erstaunen der Frau Geheimrat, die in dem Akter nie am Tage schlief. Das in Aussicht gestellte Taschengeld ist durchaus nicht fürstlich. Die Frau Geheimrat knausert gern, wo es nicht gilt, nach außen zu protzen. Zudem hat ja die Gesellschafterin ihrer Meinung nach den ganzen Tag nichts zu tun, sondern darf die Freuden Berlins umsonst genießen. Die Gesellschafterin wagt nicht zu opponieren, denn von Geld zu sprechen, ist za nicht vornehm. Aber die Geheim- rätin bemerkt ihr enttäuschtes Gesicht und meint etwas spitzig, es gäbe genug Damen aus guten Familien, die eine so gute, bequeme Stellung umsonst übernehmen würden. Auch auf Reisen darf die Gesellschafterin die Frau Geheimrat begleiten. Die Damen fahren erster Klasse und wohnen in den ersten Hotels. Aber eine Erholung sind diese Reisen für die Ge- sellschafterin nicht. Sie findetkeine Ruhe bei Tag und Nacht", denn die Frau Geheimrat hat immer wieder einen anderen Wunsch und versteht es, ihrer Gesellschafterin jede Freude an Kunst oder Naturgenuß gründlich zu stören. Dazu jammert sie so viel über die hohen Preise, sucht sich auf der Speisekarte die teuersten Ge- richte aus, da sie sich pflegen muß, paßt aber argwöhnisch auf, ob die Gesellschafterin auch nicht so anspruchsvoll ist. Diese wagt schließlich kaum noch, sich sattzuessen. Nach Hause schreiben will sie nicht. Sie schämt sich, daß gleich ihr erster selbständiger Ausflug ins Leben mit einem Fiasko enden soll. Zudem denkt sie mit Schrecken an die Atmosphäre der Langeweile und Beschränktheit, die sie auch dort erwartet. Wie ganz anders sie im Leben stehen könnte, wenn sie irgend etwas Nützliches gelernt hätte, daran denkt sie nicht. Ihre Brüder konnten einen Beruf ergreifen. Sie ist ja nur ein Mädchen, noch dazu ein Mädchen aus guter Familie. Immer klarer wird ihr, wie überflüssig sie eigentlich überall ist, und wie ihr das Leben nichts mehr zu bieten vermag. Sie wird stiller und stiller, und die Frau Geheimrat beklagt sich bitter bei ihren Bekannten.Immer ist sie still und verdrossen und die geistige Anregung, die ich von Fräulein v. H. erwartete, ist gleich null," schreibt sie ihrer verheirateten Tochter.Dabei fiihrh sie ein Leben wie eine Prinzessin." Endlich wird der Hausarzt, der häufig wegen der verschiedenen kleinen Leiden der Frau Geheimrat konsultiert wird, um Rat ge- fragt. Er macht ein ernstes Gesicht bei der Untersuchung der Ge- sellschafterin. Hochgradige Nervendepression stellt er endlich fest und rät zur Ueberführung in ein Sanatorium. Entsetzt tele­graphiert die Frau Geheimrat an den Vater ihrer Gesellschafterin und macht ihm eine Szene, daß man ihr zumuten konnte, einen kranken Menschen zu sich zu nehmen. Sich selbst mißt sie keine Schuld bei. Sie hat die Gesellschafterin wie ihre Tochter gehalten und ihr das Leben in jeder Beziehung so angenehm wie nur mög lich gemacht! Bekannte und Verwandte pflichten ihr bei.Unglaub lich!" sagt ihr Schwiegersohn, der Leutnant.Wie gut hat sie es gehabt, nichts zu tun, das gute Essen und Trinken und die schöne Wohnung und die Reisen gratis. Sogar Taschengeld hat sie noch bekommen. Wenn man denkt, was von einem Leutnant alle� verlangt wird für sein bißchen Gehalt." A. B. Veranstaltungen Cagungen. Der Verein für Frauen nnd Mädchen der Arbeiterklasse ver- Lffentlicht sein Winterprogramm für 1913/14; Vorträge: Joh. Sassenbach, Wanderungen durch Italien (8. Sept.); Toni Breitschcid, Geschichte des Frauenwahlrechts<15. u. 29. Sept.); Dr. Wilh. Hausenstein, Napoleon I.(6. Okt.); Wally Zepler, Die Fran in der neuen Literatur<29. Okt. u. 3. Nov.); Robert Schmidt, Theorie und Praxis der Gewerkschaften<17. Nov.); Rob. Breuer, Die Malerei des Berliner Realismus<1. u. 15. Dez.); Friedr. Stampfer, August Strindberg <5. Jan. 1914); Frl. Dr. Whgodzinski und Frl. Böse, Körperkultur und Kleiderreform<19. Jan.); Rudolf Wissell , Jugend- fürsorge<2. u. 16. Febr.); Dr. Ernst Meyer, Die Seele der Fran nach der experimentellen Psychologie<2. März). Die Vorträge fallen stets auf einen Montag und finden 8Vz Uhr abends in Kellers Neuer Philharmonie, Köpenicker Str. 96/97, statt. Konzerte: Werke von Joh. Seb. Bach<21. September); von L. v. Beethoven <23. November); von Lifzt, Wagner und Strauß<28. Dezember). Die Konzerte beginnen Sonntag nachmittags 4 Uhr im Blüthner - Saal, Lützowstr. 76; Eintrittskarten 69 Pf. Ferner finden statt: eine Weihnachtsfeier am 29. Dezember, das 15. Stiftungsfest am 8. Februar in den Sophien-Sälen, Sophienstr. 17/18, und die Generalversammlung am 16. März in Kellers Neue Philharmonie. Alle Veranstaltungen(Vorträge, Konzerte, Führungen durch Muscen usw.) werden regelmäßig am Donnersrag unterVeranstaltungen" im all- gemeinen Teil desVorwärts" bekannt gegeben. Der Monatsbeitrag beträgt 29 Pf. Gäste<Männer und Frauen) stets willkommen! An- fragen nnd Billetts für Konzerte bei Fran Knlicke, Prinzenstr. 192. Beruf und Ehe" bildet den Gegenstand der Verhandlungen der Generalversammlung des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine am 29. und 39. September in Berlin . Am Montag, den 29. September, vormittags 19 Uhr, spricht Professor Dr. L. v. Wiese- Düsseldorf über:Der geschichtliche Wandel in der Stellung der Ehefrau in Familie und Gesellschaft". Am Dienstag, den 39. September, vormittags 19 Uhr, spricht Dr. Renetta Brandl- Wht über:Die verheiratete Frau in der deutschen Volkswirtschaft" und Dr. Klara Ratzka- Ernst über:Sozialpolitische Fürsorge für die berufstätige Frau und.Mutter". In einer öffentlichen Abend- Versammlung am Montag, den 29. September, 8ll3 Uhr, werden Adele Schreiber-Krieger und Else Lüders Ansprachen halten über: Familie nnd Frauen- Berufsarbeit". Die VormittagSsitzungen inden im Architektenhaus, Wilbelinstraße 92, die öffentliche Abend» Versammlung in den Spichernsälen, Spichernstr. 3, statt. Der Allgemeine Deutsche Frauenverciu(zugleich Verband für Frauenarbeit und Frauenrechte in der Gemeinde) hält seine 27. Generalversammlung vom 6.-8. Oktober in Gießen ab. Neben geschäftlichen Angelegenheiten werden erörtert werden: Probleme der tädtischen Wohnungspflege und die Wohnungsinspektorin(Dr. Marie E. Lüders), Ausbildung sür die sozialen Frauenberufe(Dr. Elisabelh Altmann- Fottheiner). Notwendigkeit des weiblichen Einflusses in der Mädchenbildung(Dr. Agnes Fosche), Reform der privaten Wohl- tätigkeit tHelene Bonfort). Ocffeutliche Abendversammlungen werden ich beschästigen mit: Frauenbewegung und Geburtenrückgang Dr. Marie Bernays ), Wirtschaftliche Tatsachen und Kulturfordcrungen n der Frauenfrage(Dr. Gertrud Bäumler), Der Weg zum Frauen- stimmrecht(Helene Lange ).