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phantafien über den Jahrgang 1913. Nein, wer mit Leib und Seele auf die Abstinenz ein- geschworen ist, braucht nicht zu erschrecken und sich nicht zu entrüsten, der Weinjahrgang 1913 hängt noch an den Reb- stöcken, und nicht um Phantasien handelt es sich hier, wie sie der selige Hauff im Bremer Ratskeller erlebt, sondern der Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist ein Buch, genannt ,. Statt st ischesJahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 1913". Es kann kaum etwas Nüchterneres geben. In dem Kaiserlichen Statistischen Amte sitzen sie bei- einander, Geheimräte, wirkliche und unwirkliche, Assessoren, angestellte und nichtangestellte, Kanzleiräte, Hilfsarbeiter und Kanzlisten, und alle füllen tagaus, tagein große Aktenbogen mit Ziffern, nehmen zuweilen ein Lineal und ziehen einen schnurgeraden preußischen Strich, und dann kommen wieder die Ziffern daran, Bataillone von Ziffern, Regimenter, Bri- gaden, Divisionen, ganze kriegsstarke Armeekorps von Ziffern. Und wenn derart durch gemeinsame Mitarbeit der neue Jahr- gang zustande gekommen ist, wimmelt auch er von Ziffern, über 500 Seiten nichts als Ziffern und Tabellen. So bietet es sich nicht gerade als unterhaltsame Backfisch­lektüre an, aber in Wahrheit gibt es kein Buch, das interessanter wäre im echten Sinne deS Wortes. Denn diese Ziffern sind ja keine langweiligen, abstrakten Zahlen, wie sie der Mathematikprosessor mit Kreide an die Wandtafel malt, sondern sie stellen das Leben eines ganzen großen Volkes während eines ganzen langen Jahres dar, in geronnenem, in erstarrtem Zustand gewissermaßen, und wenn man Seite auf Seite des Buches nachdenklich umschlägt, verwandeln sich die toten Ziffern wieder in frisches Leben, und mehr an Liebe und Haß, an Hoffnung und Enttäuschung, an Glück und Elend, an Hunger und Verzweiflung, an Laster und Tod um- schließt dann dieses Werk namenloser Bureaukraten, als alle Tragödien aller Dramatiker zusammengenommen, von Euripides hinweg über Shakespeare und Schiller bis zu Schnitzler. Mehr Stoff enthält es, als alle lebenden Dichter je zu ver- arbeiten imstande wären, und säßen sie auch hundert Jahre am Schreibtisch! Ein paar Tabellen nur: auf dem Gebiete des Deutschen Reiches von heute saßen 1810 24 Millionen Menschen, 1864 waren es erst 39, 1910 aber 65 Millionen I Hier sind's ein paar Ziffern, aber in der Wirklichkeit birgt sich hinter diesem Be- Völkerungszuwachs ein ganzer Rattenkönig von ökononnschen, sozialen und politischen Problemen. Es birgt sich dahinter ein ganzer llniwälzungsprozeß, dessen Ergebnis, Jndustriali- sierung, Zurückdrängung der Landwirtschaft, Zertrümmerung selbständiger Existenzen, auf anderen Tabellen verzeichnet steht, in Ziffern, immer in nüchternen Ziffern. Tabelle I , 8. enthüllt dieReichsbevölkcrung nach Geburtsjahr en und Familienstand am I.Dezember 1910. Da marschieren als Junioren der männlichen Abteilung auf: ein Verheirateter, der im Jahre 1895 das Licht der Welt erblickte, ein Witwer, dessen Geburts - datum in das Jahr 1894 fällt und ein Geschiedener, der 1892 als geboren in die Register eingetragen wurde. Wer in dem krausesten Roman drei Jünglinge dieser Art nebeneinander- stellte, einen fünfzehnjährigen Ehemann, einen sechszehnjährigen Witlver und einen achtzehnjährigen, der bereits wieder die Fesseln der Ehe abgestreift hat, der würde als heilloser Phantast erledigt sein. Das Leben ist talentvoller als jeder Roman: es hat die drei Gestalten geschaffen, aber das Statistische Jahrbuch verrät uns nur die Ziffern. Was den einen dazu trieb, sich in einem Alter zu binden, da man noch gemeiniglich von den Freuden des Jndianerspiels mehr hält als von den Freuden der Ehe, was den andern zwang, zwei Jahre vor dem militärpflichtigen Alter, wieder der Ehe den Rücken zu kehren, wer weiß es und wer will's enträtseln? Man weiß nur, daß die beiden Senioren derselben Abteilung IVlanövermarfcd. Von Sson BeuBeL Bepackt mit mörderischem Blei und Sklavenqual, bestürmen wir ein Dorf, drin niemals Schlachtgesänge tobten. Der Tanzschritt, den wir auf den Äöfen der Kasernen probten, reißt müde Bauern auf vom kargen Mittagsmahl. Der knappen Uniformen übertreßtes Lügenbunt fängt Kinderjubel und der Mädchen jäh entflammtes Gieren. Am Funkeln des Gewehrs klebt junger Burschen blödes Stieren. Gejaul der Körner klirrt geschlossne Fenster wund. Doch unsre Augen, die ein harter Kelm beschattet, sind schon zu müde aufzublitzen im Gefühl, und das Geschlecht ruht dumpfbesinnungslos ermattet. Wir warten nur auf eine rot heraufbeschworne Stunde mit rauchverdreckten Horizonten, draus gewitterkühl Kommandos fallen, die uns hetzen wie auf Wild geworsne Kunde. Nachdichtung __ von Paul Zech . ZZls Vater lebte und starb. .Da lebst Du so hin! Ein Tag ist so häßlich wie der andere, jede Stunde zerbricht eine Hoffnung, jede Minute splittert eine Sehnsucht der Armen. Du kommst nie hoch aus dem Alltagskram. lleberall find Ketten, überall sind Mauern. Deine Kräfte zerspringen in erbärmliche Funken, Dein ehr- kichstes Mühen ist nicht mehr als ein Raketenschuß in die Nacht. Eine Minute Glanz und Gefunkel dann Rauch und Qualm. Aber einmal bricht doch grausame Klarheit in Dein Leben. Da siehst Du den Jammer um Dich. Da siehst Du: alle die Fäden, die Du zur endlichen Rettung geknüpft hast alle die Fäden sind morsch und zerrissen. Du siehst alle Wege, die Du gegangen bist es waren Irrwege. Da siehst Du das Ringen Deiner Klasse r- die wie Du geboren wird, lebt und stirbt. dagegen trivial erscheinen: 1810 geboren, paradieren sie in der Rubrik Ledige, sie wollen's sich noch überlegen.... Sind in dieser Tabelle Männlein und Weiblein streng getrennt wie in einem Kölner Bad, so stehen sie auf Tabelle II, 8. in den allerintimsten Beziehungen zueinander. Nach- prüfen kann man bis aufs tz, wer wen geheiratet hat, das heißt: natürlich nicht nach Namen, son- dern nur nach Altersklassen. Wer neugierig ist, erfährt nicht, ob Herr Müller doch Fräulein Schulze bekommen hat und ob nicht die Verlobung von Fräulein Lehmann zurück- gegangen ist, aber wir nehmen zur Kenntnis, daß die meisten Frauen im Alter von 22 bis 25 Jahren das Standesamt besuchen und zwar sind es 56 762 von insgesamt 512 819, die im Jähre 1911 ihren Namen gegen den eines Mannes ver- tauscht haben. Die Männer dagegen haben es im Alter von 25 bis 26 Jahren am eiligsten: da verzichteten 58 574 auf ihr Junggesellendasein und hoffentlich auch auf ihre Junggesellengewohnhciten. Auch hier- finden sich seltsame Schlafgefährten zusanimen: wenn 727 Männlein über 60 Jahren sich niit ebensoviel Weiblein über 60 Jahren kopulieren, so ist das in aller Ordnung und aller Ehren wert, aber bei dem ©reise über sechzig, der ein Mädel von siebzehn freite, bei der Fünfzig- bis Fünfundfünfzigjährigen, mit der sich ein Ein- undzwanzigjähriger einte, sieht der Dichter und der Psychologe auf die Dauer Tragödien, Komödien und Tragikomödien voraus. In dem Statistischen Jahrbuch freilich nehmen diese Tragödien, Komödien und Tragikomödien nur nach ihrem Ab- schluß ziffernmäßige Gestalt an, in der Tabelle II, 10. Ehescheidungen" oder wohl auch II, 11.Selbst- morde im Jahre 1911". Natürlich steht bei den Ehescheidungen dasSündenbabel" Berlin an der Spitze mit 96,2 Ehescheidungen auf 100000 Ein- wohner im Gegensatz zu der Staatsspielschachtel Lippe, wo auf die gleiche Einwohnerzahl nur 5,9 Scheidungen entfallen. Allerdings hängt das wohl mit anderen Ursachen als mit der Babelhaftigkeit" der Reichshauptstadt zusammen, wie denn industrielle Gegenden einen weit höheren. Prozentsatz der Scheidungen aufweisen als agrarische Landstriche. So kommen im Königreich Sachsen 34,2, in der Provinz Posen nur 9,0 Scheidungen auf 100000 Einwohner. Aehnlich ist es mit den Selbstmorden, deren Ursachen, von Ausnahmefällen ab- gesehen, immer die gleichen sein mögen: Hunger und Liebe. Da überflügelt Sachsen-Kobnrg-Gotha mit 45,7 Selbstmorden auf 100 000 Einwohner selbst Berlin mit 35,0 auf die gleiche Einwohnerzahl ganz bedeutend. Man könnte an einen Zufall denken, wenn nicht immer im Statistischen Jahrbuch dieser thüringische Kleinstaat mit einem Prozentsatz von Selbstmorden aufträte, als befände sich ein Monte Carlo innerhalb seiner Grenzpfähle. Aber sonst gilt auch hier das Gesetz: hoch- entivickelte Industrie, hohe Selbstmordziffer(Königreich Sachsen 31,5, Provinz Posen 9,0 Selbstmorde auf 100 000 Einivohner) I Doch häufiger noch als zum Selbstmord treibt der Hunger zur Auswanderung. Ihre Ziffern sind in den letzten Jahren etwas zurückgegangen, aber noch immer genug. noch immer zu viel Deutsche schütteln den Staub des Vaterlandes, das ihnen als Stiefvaterland erscheint, von den Füßen: 25 531 waren's 1910, 22 690 1911 und 18 545 im Jahre 1912. Wieder nur ein paar dürre, nüchterne Ziffern und doch sieht man sie, die bleichen Kolonnen des Elends, sich in die Zwischendecks der riesigen Ucberseedampfer ergießen, Mann und Weib, Greis und Kind, mit Sack und Pack und mit so viel Enttäuschung und so viel Hoffnung im Herzen. Was diese 18 545 hier erduldet, was diese 18 545 drüben er- wartet, welcher Dichter könnte es unternehmen, das zu schil- dern eine Folge und Fülle von Romanen wäre es 1 Wo­her sie kommen, wohin sie gehen, verrät noch das Statistische Jahrbuch: am meisten strömen- aus den agrarischen, am wenigsten aus den industriellen Provinzen übers Meer: 57 Auswanderer auf 100000 Einwohner in Posen, 17 auf 100000 im Königreich Sachsen! Auch hier hebt sich Sachsen - Schon als Kind wurde ich sehend. Trotzdem der Vater schon jahrelang lungenkrank war, mühte er sich als Maurer ab. Die Not zwang ihn. Anfangs war er Baumeister. Die mächtige Krise der neunziger Jahre zerbrach sein bisheriges Leben. Er baute sich aus den Stücken ein neues er nahm Kelle und Hammer und schaffte an fremdem Werk. Den jähen Sturz hat er nicht überwunden. Er trank hier und da seinen Schnaps. ES kam vor, daß er betrunken oder ar- beitslos war. Das war für uns der gleiche Jammer. Die Mutter schickte jeden Sonnabend einen ihrer fünf Buben auf den Bau, Vater abzuholen. An den Tagen war gewöhnlich kein Brot im Haus. Wir Kleinen ahnten kaum das Ungeheuerliche dieses Lebens. Wenn der Vater krank war. gingen wir mit ihm in den Wald, Weidenkätzchen, Moos oder Reisig zu holen. Daß das verboten war, kümmerte uns nicht. Die Mutter band Kränze. Sie mutzte uns durchbringen. Die Toten gaben unS Brot. Das waren graue Tage. Doch ab und zu zuckte ein Wetterleuchten auf und unser Leben stand vor uns, anklagend und mißgestaltet. Mit den Brüdern verkaufte ich Seife, Soda und Wichse. Auch Weidenkätzchen und Blumen. Wir brachten uns eben so durch. An jedem MonatSersten verdüsterten sich die so wie so schon finsteren Gesichter der Eltern. Die Mutter wurde mürrisch und zänkisch, das Brot seltener. Mietzins war ein Wort, das uns unverständlich blieb. Auch in der Schule war's ein Elend. Von den Kameraden wurde ich verhöhnt und verspottet meine Kleider waren ja gottserbärmlich. Einmal frug der Lehrer, wo unsere Väter arbeiten. Vater sucht Arbeit, sagte ich. Mit was, fragte der Lehrer mit dem Schubkarren oder dem Opernglas? Ich schämte mich. Ich wußte auch noch nicht, daß Armut Schande sei und daß Lüge darüber weghilft. Eine Tante schickte einmal getragene Kleider und eine neue Mütze für mich. Der Lehrer machte einen Witz: ob wir geerbt hätten. Alle Kinder lachten. Da schämte ich mich wieder. Warum. weiß ich nicht mehr. Vielleicht der schönen Kleider wegen. Vater kam eines Sonntags ohne Ausbeute heim. Um die ihm angetane Schande zu vergessen, hatte er getrunken. Der Feld- jäger hatte seinen Sack beschlagnahmt. Und der war dazu noch ein alter Bekannter. Als Vater Baumeister war, hatte er oft mit ihm Bier getrunken und Zigarren geraucht. Und nun?! Vater war ein Dieb...... Ter Gemeinderat ließ die Sache auf sich beruhen, oenn alle kannten Vater. Er schrieb, das Reisig könne abgeholt werden. Ich sollte es holen. Doch auf dem Wege kehrte ich um der Sohn eines Diebes...... Nach einigen Wochen sollte die Mutter zwei Kränze binden. Ich mutzte nach den: Unglücksdorf, Flieder laufen. Der Gartennbesitzer frug nach meinem Namen. Ob der und der mein Vater sei. Ja. Und was wir jetzt machen. Ich Koburg-Gotha durch eine Merkwürdigkeit ab: das Land der verhältnismäßig meisten>selbstmörder Hot die verhältnismäßig wenigsten Auswanderer nur ihrer 2 entfallen hier auf das Hunderttausend! Das Ziel der deutschen Auswanderer aber ist in jedem Jahr mehr eine beschämende Abfuhr für die kolonialpolitischen Schreihälse, die nach einemgrößeren Teuffchland" in Afrika sich heiser rufen, damit die nach diesem Erdteil strömendeüberschüssige Bevölkerung" indirekt wenig- stens dem Vaterland erhalten bleibt, denn von den 18 543 zogen nicht weniger als 18 129 nach Amerika und nicht mehr als 4(in Buchstaben: vier!) nach Afrika . Wegen dieses Ueberschusses" von vier Mann noch einen Krieg mit Frank- reich zum Zwecke der Eroberung Marokkos zu beginnen, dürfte am Ende doch nicht recht lohnen. Aber noch in anderen und besseren Ziffern kommt Seine Majestät der Hunger in diesem Buche zum Ausdruck. Was er über das Meer nach anderen Erdteilen treibt, gibt hier den Kampf auf. Wertvoller ist, was hier entschlossen den Kampf weiterführt, und davon berichtet Tabelle V, 5, die uns ver­kündet, daß im Jahre 1912 von insgesamt 2510 Streiks im Deutschen Reich 415 ganz und 1001 tcilweis erfolgreich ab- schlössen. Die sich aufbäumende Kraft der mächtig empor- wachsenden Arbeiterklasse steckt in diesen Ziffern ebenso wie in ein paar anderen, die sich in Tabelle XIII finden. Da heißt es: Ergebnisse der Reichstags ivahlen: Von den gültigen Stimmen kamen auf Angehörige folgender Parteiflellung: Sozialdemokraten: 1893 1898 1903 1907 1912 1786 700 2 107 100 3 010 800 3 259 000 4 250 400 Und das sind wohl die stolzesten Ziffern des ganzen ziffernreichen Buches! Sin liberales Jubiläum. Wir wollen auch einmal ein wenig in Jubiläen machen. Warum sollte man diese angenehme Beschäftigung so ganz der Gegenseite überlassen? Für die sind ja in diesem Jahre die Arbeitsloge nur noch dringend nötige Ruhepausen, um die Heiserkeit vom Hurra- schreien zu kurieren. In Königsberg , Breslau , Berlin , Ketzlheim (hier unler besonders heiterem Gelächter der ganzen Welt und bei geschlossenen Fensterläden der UntertanenZ, in jeder Stadt, auf jedem Schlachtfest ist gefeiert worden. Kassel schiebt sinnigerweise als Abwechselung seine Tausend- Jahrseier ein, unter kleinlichster Vermeidung des Königs Jerome, der Wilhelms Vorfahren auch einmal als ilonsieur mon frere anreden durfte, und am Horizont droht schon wieder die Völkerschlachtdenkmalenthüllungsfeier(kein schlechtes Wort!) in Leipzig , zu der die Allerhöchsten, Höchsten, und Hohen Herrschaften bereits eingeladen worden sind, während der Deutsche Reichstag mit gutem Geschmack bis jetzt nicht aulgefordert wurde. Es wird also seinen streng monarchisch und patriotisch ge« stimmten Mitgliedern nicht möglich sein, ihr Hurra mit dem der Edelsten der Nation harmonisch zu verbinden, was besonders im Interesse der liberalen Ritter des Roten Adlers zu bedauern ist, die sich bei dieser Gelegenheit sicherlich gern kirschblau und in eine neue Ordensklane geschrien hätten. Ihnen aber gilt das Jubiläum, daS wir heule feiern wollen, das 26 jährige Jubiläum liberaler Denkunfähigkeit. Vor 25 Jahren erschien nämlich das Tagebuch Friedrichs III., den das fortschrittlich loyale Bürgertum einen liberalen Kaiser zu nennen sich erlaubte. An seiner Bahre eriönte aus liberalen Bratenröcken die dumpfe Klage, jetzt sei es mit der erhofften freiheitlichen Aera in Deutschland herum-uid der Ordens­regen. den Friedrichs Regierungsantritt so angenehm eingeleitet hatte, werde leider der erste und lezte bleiben, der sich in liberalen Knopflöchern blitzend festhefte. gab Auskunft. Da bekam ich ein Glas Milch und für den Vater einen Brief. Das Geld für die Blumen durfte ich behalten. Vater weinte vor ohnmächtigem Zorn, als er oas Schreiben laS. Er wurde aufgefordert, bald die fünfzig Mark Schulden zu be- zahlen. Was für Schulden, wutzte:ch nicht. Ich bekam Schläge, weil ich bei solch einem Kerl Flieder ge- kauft hatte. Das Geld behielt ich. Vater hätte nur noch mehx getobt. In der Schule brauchten wir schon lange neue Bücher, ich war der letzte, der sie laufte..... Als Vater starb, war ich gerade zehn Jahre alt. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen. Der erste war mein Vater. Er wußte von seinem Ende und schwieg. Alle die papiernen Ge» sichtshelden der Schule waren nichts gegen meinen Vater. In den letzten Tagen sah ich seinen harten Kampf. Er lag in der Stube auf dem harten Sofa und wälzte sich hin und� hek. Sein Atem ging pfeifend. Das Gesicht war blau und auf Stirn und Händen krochen die Adern wie dicke Regcnwürmer. Er konnte nicht sprechen. Er winkte mit der Hand, ich solle gehen. Zum Sterben brauche er niemand. Der Mutter sagte ich nichts. Ich rannte auf die Vorstadtfelder und heulte wie ein Hund. Erst spät am Abend ging ich heim. Die Lampe brannte nichts- sagend wie gewöhnlich. In der Küche saßen Mutter und Brüder beim Abendbrot. Dem Vater gehe es besser, sagte die Mutter. Wenn nur erst der Winter vorüber sei, seufzte sie. Da ahnte ich, daß im Winter viele Lungenkranke sterben. Bis zum Winter brauchten wir nicht zu warten. Vater starb in der ersten Herbstnacht. Um Mitternacht rief er dreimal meinen Namen, er bat um Wasser. Als er trank, gluckste es eigentümlich. Es war. als ob die Flüssigkeit ins Bodenlose fiele. Früh, als wir erwachten, war er tot. Die Mutter schrie auf, wir Kinder weinten. Ich sah den ersten Toten.... Die rechte Gesichtsseite war blau und rot an- gelaufen, auch die Brust war so häßlich gefleckt. Herz- und Ge- Hirnschlag zerbrach endlich sein Leben. Die Mutter schnitt sich zum Andenken von Vaters prächtigem Haar eine Lecke ab. Nach drei Tagen wurde er begraben. Der Pastor hielt seine Leichen- rede uno bekam 10 Mark dafür. Die Verwandten trösteten die Mutter, so gut es ging. Dar- auf erzählte sie. daß in jener Nacht cm Hahn dreimal laut ge- kräht habe und die Uhr sei stehen geblieben. Fast alle der Gäste wußten eine gleiche Geschichte. Zuletzt mutzten wir vortreten und der Mutter doppelten Gehorsam versprechen. Als der Schwärm auseinander ging, sagte eine alte Tante: Mutter könne eigentlich froh sein, Vater sei doch nur ein unnützer Esser gewesen. Am liebsten hätte ich sie angespuckt, aber oas ging nicht vor so vielen Leuten. Wir haben der Mutter nicht doppelt gehorcht. Da erzahlte sie unö, was der Vater in seinen letzten Tagen gesagt habe: Mutter, wenn Dir die Kinder nicht gehorchen, schlage sie, bis Dir die Arme weh tun, meinen Lederriemen lasse ich Dir da.