fit. 274. 3V. Jahrgang. 3. Keilte In JonirtD" Sttlintt WllsdlM Sonlltllg. 19. Oktober 1913. Die Arbeiter und die ßeilis-Affäre. Unmittelbar vor Beginn der Verhandlung im Kielrcr BeiliS« prozetz hat das Zentralkomitee des„Jüdischen Allgemeinen Arbeiter- bundes" in Litauen , Polen und Rußland folgenden Aufruf er. lassen: An alle jüdischen Arbeiter! Die schändliche„Beilisaffäre" naht ihrem Höhepunkt: Beilis kommt auf die Anklagebank, das Gericht beginnt seine Arbeit. Der herrschenden Bande hat es nicht genügt, die Massen zwei Jahre lang durch blutige Verleumdungen des jüdischen Volkes zu verwirren. Sie braucht eine Gerichtsverhandlung, welche die abscheuliche Verleumdung bestätigen, für Generationen den Namen der Juden mit Schmutz bedecken und wie das Schwert des Damokles über den Köpfen der Juden hängen soll. Gewiß, die Beilisaffäre soll alle unmenschlichen Verfolgun gen, welche die russische Regierung gegen die Juden gerichtet hat und weiter richten möchte, rechtfertigen. Die niederträchtige raffinierte Entrechtung auf allen Gebieten, die blutigen Metze- leien, die erbarmungslose Verbannung in die Judendistrikte, die tausendfältigen Quälereien und Verfolgungen der Juden sollen gerechtfertigt werden durch die Feststellung: die Juden sind Kannibalen und haben das alles vollkommen verdient. Die Beilisaffäre soll Ketten für alle lebendigen Kräfte im Lande schmieden. Jede nationalistische Hetze stärkt die Reaktion Durch die Unterdrückung einzelner Nationalitäten sucht sie die Unterdrückung der gesamten Volksmassen zu verdecken. Vor keinem Verbrechen scheut man zurück, um das teuflische Ziel zu erreichen. Die Gesetze werden mit Füßen getreten, die Gerichte in Polizeireviere verwandelt. Und der schmachvolle Prozeß beginnt. Dürfen wir jetzt schweigen, dürfen wir an diesem Prozeß ohne unsere Meinung zu sagen, vorübergehen? Weder durch Schwüre, nach durch frier liche Versicherungen können wir die Herzen unserer Henker er- weichen. Stehen wir mit gebrochenem Gemüt und gesenktem Kopf tatenlos als klagende Zuschauer da, so können wir unsere Lage nicht verbessern. Mit Zorn und Protest müssen wir diesem Kampf begegnen und durch Kampf können wir uns schützen und retten. Arbeiter! Genossen! Wir, die wir so lange Jahre gegen die herrschende Reaktion einen bitteren Kampf führen, die wir schon soviel Opfer gebracht und soviel Blut für unsere Befrei ung vergossen haben, wir können auch diesmal den grauenvollen Ueberfall der herrschenden Bande nicht ohne Antwort lassen. Am 2ö. September(alten Stils) beginnt in Kiew die Ver Handlung. Und gleich am Anfang des Prozesses wollen wir unser altes bewährtes proletarisches Kampfmittel anwenden: ein ein tägiger allgemeiner Streik des Protestes— das ist'die Antwort der jüdischen Arbeiterklaffe. Die Fabrik soll ihre Arbeit einstellen, die Werkstatt soll sich schließen, die Geschäfte und Bureaus sollen leer bleiben, alle jüdischen Arbeiter müssen die Arbeit niederlegen! Unser eintägiger Streik wird unseren Protest in die ganze Welt hin austragen, unsere Kampfbereitschaft zeigen und unseren Zornes- ruf verkünden: � Verachtung der mittelalterlichen, blutigen Verleumdung! Nieder mit der jüdischen Entrechtung! Hoch die Gleichberechtigung der Juden! Hoch die Gleichberechtigung aller Völker in Rußland ! Hoch die internationale Solidarität der Arbeiter! Hoch der Sozialismus! Das Zentralkomitee des jüdischen ArbeiterbuudeS. Und die jüdischen Arbeiter Rußlands sind dem Aufruf gefolgt Sie haben gezeigt, daß weder die grausamen Verfolgungen, noch die blutige Verleumdung sie erschrecken und die revolutionäre Energie in ihnen auslöschen können. Das Fazit dieses Streiks ist noch nicht gezogen. Bis jetzt melden die Zeitungen gewaltige Arbeitseinstellungen in Warschau (20 000 Mann), Wilna , Grodne, Belostek, Bobrehse, Gornel, Dwinsk , Nimsch und Riga . Nicht nur Fabrikarbeiter, auch Handlungsgehilfen und Kontoristen haben gestreikt. Der Protest der jüdischen Arbeiterklasse fand einen lebhaften und mächtigen Widerhall bei den christlichen Genossen, den Russen, Polen , Letten. In Wilna , Riga , Odessa , Kiew usw. protestierten die christlichen Arbeiter mit ihren jüdischen Freunden. Und der dreitägige Massenstreik des Petersburger Proletariats im Zusammenhang mit der Verfolgung der Arbeiterpresse und der Arbeitervereine war zugleich auch ein Pro- test gegen die blutige Verleumdung. Auf großen und kleinen Ver- sammlungen wurden von vielen Tausenden Protestresolutionen an- genommen. AIS Beispiel sei ein Teil der Resolution der Arbeiter aus der Fabrik Erichson angeführt: Wir Arbeiter erklären hiermit, daß keine Legende imstande ist, die Arbeiter in Juden und Christen zu scheiden. Wir pro- testieren in der energischsten Weise gegen die von der Reaktion bewußt verbreitete Verleumdung des jüdischen Volkes." DaS ist die Meinung des Proletariats. Aber nicht nur die Arbeiter erhoben ihre Stimme. Die Beilisaffäre empört auch sonst teilnahmslose Kreise der russischen Gesellschaft, auch die ge- mäßigten Parteien. Proteste und Streiks in den Lehranstalten von Petersburg , Kiew und Charkow , Tausende von Unterschriften unter den Resolutionen— so nahm die studierende Jugend Stellung gegen den niederträchtigen Gewaltstreich. Zusammen mit diesen Nachrichten kommen andere: von Massen. Verhaftungen. Haussuchungen, konfiszierten Zeitungen, Strafen, aus allen Enden Rußlands . Doch nichts kann den Zorn der öffent- licben Meinung ersticken. Und die von der Reaktion inszenierte Beilisaffäre wird für sie verhängnisvoll. Aufgebaut auf der Ver- wirrung und Unwissenheit des Volkes, wird sie ein mächtiges Werk- zeug der Volksaufkläning und der Einigung revolutionärer Kräfte. Inszeniert mit der Absicht, die revolutionäre Volksbewegung zu ersticken, ruft sie einen revolutionären Sturm hervor. tiiordprozeß fiichel. (Dritter Tag.) Londgerichtsdirektor Rosenthal eröffnete die Sitzung um Qn Uhr. In der Beweisaufnahme wurden eine Reihe von Zeugen vernommen, denen gegenüber der Angeklagte Nickel seinerzeit das Geständnis abgelegt hatte, daß er auf Anstiften der Frau Menzel ihren Mann erschossen habe. Der Gastwirt Thomae, bei dem Nickel längere Zeit verkehrt hatte, bekundet, daß N. viel von seiner Braut erzählt habe. Nickel habe u. a. auch einmal erklärt, daß Frau Menzel, wenn er es wolle, kommen müsse. Sie wolle, daß er nach außerhalb gebe und dort Zwei Jahre arbeite; zu diesem Zwecke wolle sie ihm 100 M. geben. Bei dieser Gelegenheit habe N. geäußert:„Die Sache liegt tiefer, wenn Sie wüßten, was ich für dieses Weib getan habe." Er sei dann zu Frau Menze,. gefahren und mit vollem Portemonnaie wiedergekommen. Am 13. März habe, wie der Zeuge bekundet, Nickel wieder in dem Lokal gesessen. Er sei sehr betrübt gewesen und habe den Eindruck gemacht, als wenn er irgend etwas Schweres auf dem Herzen gehabt. Auf seine Frage, was denn los sei, habe Nickel angefangen zu weinen und mit Tränen in den Augen ihm die Hände auf die Schultern gelegt und geäußert:„Ich kann es Ihnen ja nicht sagen, was mich quält!"—„Ich sagte zu ihm," so fährt der Zeuge fort,„daß es doch daS Beste wäre, wenn et sage, was ihn bedrücke, und sein Gewissen erleichtere. Da er schon vorher alle möglichen Andeutungen über die Menzelschen Eheleute gemacht hatte, nahm ich an, daß seine gedrückte Stimmung hier- mit in irgendeiner Weise in Verbindung stehe und fragte ihn da- nach. Nickel erklärte hierauf weinend:„Ich habe den Mann er- schössen, das Weib hat mich dazu angestiftet!"— Auf meine Frage, wie et denn zu einer so furchtbaren Tat gekommen sei, erzählte Nickel:„Ich habe die Frau geliebt und hätte alles für sie getan. Sic sagte mir erst, ich solle ihren Mann ins Wasser werfen, damit sie ihn los werde. Als ich mich weigerte, etwas Derartiges zu tun, fragte sie mich, ob ich mit einem Revolver umzugehen ver- stände. Als ich dies bejahte, forderte sie mich auf, ihren Mann zu erschießen. Ich sagte ihr, daß ich so etwas nicht tun würde, da nannte sie mich„Feigling" und da habe ich eS getan!" Nicke! gab mir dann feine Photographie mit dem Bemerken, ich solle sie zum Andenken in dem Lokal aufhängen, falls er nicht wiederkomme." — Der Zeutze schildert dann noch, wie Nickel einige Tage nach diesem Gespräch zu ihm gekommen sei und die Photographie zurück- verlangt habe. Nickel habe wieder geweint und geäußert, wenn er angetrunken sei, so rede er ein bißchen viel durcheinander und habe wohl neulich törichtes Zeug durcheinander geschwatzt, er, Zeuge, solle nicht darüber sprechen, denn, was er erzäblt habe, sei natürlich nicht wahr. Einige Tage später sei Frau Menzel zu ihm ge- kommen und habe ihm erzählt, Nickel rede alles mögliche durch- einander. Als er(Zeuge) ihr erzählte, daß Nickel sie sogar der Anstiftung zum Morde bezichtigt habe, sei Frau Menzel völlig ruhig" geblieben.— Der Zeuge hat den Eindruck gehabt, daß Nickel in die Frau M., die er selbst als ein„dämonisches Weib" bezeichnet hatte, wahnsinnig verliebt gewesen war. Der Zeuge Adler wird noch einmal vorgerufen und verneint die Frage eines Geschworenen, ob Frau Menzel ihm gegenüber jemals das Geständnis abgelegt habe, daß Nickel nach dessen eigener Angabe Herrn Menzel erschossen habe. Wenn sie ihm so etwas gesagt hätte, würde er jede Verbindung mit Frau Menzel sofort abgebrochen haben. Arbeiter Greve bekundet einen Borfall, der sich in einer Stube der Frau Albisch abgespielt hat. Er befand sich dort zusammen mit Nickel und Frau Menzel. Zwischen letzteren entstand ein Streit, in dessen Verlauf Nickel heftig auf die Frau Menzel ein- schlug, als sie wider feinen Willen weggehen wollte. Da habe Nickel wütend ihr zugerufen:„Tu mußt machen, was ich will, Tu weißt, daß Du Anstifterin eines Mordes bist!" Frau Menzel habe gegen diese Beschuldigung nicht nachdrücklich sich gewehrt, sondern nur gewimmert und laut geweint und geschluchzt: er solle doch ruhig sein und das Schlagen sein lassen. Am nächsten Tage habe ich Nickel zur Rede gestellt, was die Aeußerung denn zu bedeuten habe, er hat aber geantwortet:„Du mußt auf so etwas nichts geben, ich rede manchmal etwas so hin, was keine Bedeutung hat." Er habe dann mit Nickel nicht mehr an derselben Arbeitsstätte ge- arbeitet, sondern sei von seiner Firma nach Hamburg , Stratzburg, Zürich , Karlsruhe , Hannover und an verschiedenen anderen Orten zur Arbeit geschickt worden und sei erst vor vierzehn Tagen an die Sache erinnert worden, als er eine Vorladung zu diesem Termin erhalten und dadurch erfahren habe, daß gegen Nickel der Vorwurf des Mordes erhoben wurde.— Nickel bestreitet ganz entschieden die Behauptung des Zeugen, daß dieser seit jenem Abend nicht mehr mit ihm zusammen gearbeitet habe. Tatsächlich sei es nicht richtig. daß Greve Ende Januar 1011 nach Hamburg gegangen sei. Da die Geschworenen Wert auf die genaue Feststellung dieser Bd- hauptung legen, werden sofort die nötigen Erhebungen vom Vor- sitzenden angeordnet. Der alsdann vernommene Zeuge ist der Sohn des Gastwirts Danner. Er kennt Nickel aus dem Lokal seines Vaters. Dort hat Nickel mehrfach erzählt: er habe eine Braut, er habe nicht nötig, zu arbeiten, denn er bekomme genügend Geld von seiner Braut; er habe mit seiner Braut eine schwere Sache vor. wenn er kein Geld von ihr bekomme, würde sie auch dran sein. Erhalte er ge- nügendes Geld, dann würde er ins Ausland gehen und die Sache würde unaufgeklärt bleiben. Nickel sei dabei angetrunken gewesen und er(Zeuge) habe deshalb nicht weiter gefragt. Die Vernehmung der Sachverständigen gestaltete sich zu einem Demonstrationsvortrag über die Fortschritte auf dem Gebiete der forensischen Medizin, der allerdings starke Anforderungen an die Nerven der Zuschauer stellte. Ii: der Mitte des Gerichtssaales wird ein Tisch hingestellt, dessen Fläche noch durch ein daraufgestellier Rednerpult erhöht wird. Der erste Sach- verständige, Medizinalrat Dr. Stoermer, öffnet nun eine un- scheinbare Holzkiste und entnimmt aus einem in dieser stehenden Glasgefäß den Kopf des Ermordeten. Der noch mit dem vollen Haarschmuck versehene Schädel, der einen wahrhaft grauenerregen den Eindruck macht, ist noch mit der Haut umgeben, die eine gelb lich-grüne Fäulnisfarbe angenommen hat. Der Sachverständige betont, daß es sehr schwierig war, den Kopf, nachdem er über 1% Jahre im Grabe gelegen hatte, in einer Weise zu konservieren, um daran die erforderlichen Untersuchungen vornehmen zu können, Der Sachverständige schildert, wie die Leiche im Grabe gelegen habe, und erklärt dabei, daß die Berliner Friedhofserde im allgemeinen gut konservierend wirke. Nach zwanziglvöchiger Behandlung mit einer Konservierungsflüssigkeit sei der Schädel dann geöffnet war- den, nachdem mehrere Röntgenaufnahmen davon gemacht worden seien. Auf den den Geschworenen vorgelegten Röntgenbildern sind deutlich die in dem Schädel befindlich gewesenen Revolver kugeln zu erkennen. An dem in verschiedene Teile zerlegbaren Schädel sind die zwei Einschußöffnungen, die dicht vor dem linken Ohr in der Schläfengegend liegen, deutlich erkennbar. Wie der Sachverständige weiter erklärt, sind sogar die in der Nähe der Schläfe befindlichen Haarparticn mikroskopisch untersucht worden, wobei sich ergab, daß sie der Hitze des Feuerstrahls der Schußwaffe ausgesetzt gewesen seien. Es handelt sich jedoch nicht um Schüsse, die ans«nmittelbam Nähe abgegeben worden seien. Verschiedene Anzeichen sprächen dafür, daß die Schüsse ans zirka 10 Zentimeter Entfernung abgegeben seien. Der Sachverständige fährt dann in seinem Vortrage fort: Das Wichtigste ist die Feststellung der Schuß- richtung, und da mutz gesagt werden: es ist etwas ganz Unge- wöhnliches, daß ein Selbstmörder in dieser Weise einen Schuß auf sich abgibt. Man muß schon eine Häufung von Ungewöhnlichem und Seltsamkeiten annehmen, wenn man hier einen Selbstmord annehmen wollte. Zu den von mir angegebenen Gründen kommt doch noch, daß der Schuß aus einer gewissen Entfernung abgegeben worden ist. Der Schutz, der wahrscheinlich als der erste anzu- nehmen ist, ist ein solcher, daß die Möglichkeit vorliegt, der Er- schossene konnte vielleicht schwer verletzt werden, konnte aber noch eine Weile leben und vielleicht sogar mit dem Leben davonkommen. Etwas anderes ist es, wenn man die Blutung, die durch diesen Schutz hervorgerufen wurde, die sehr bedeutend war und durch die Blutung durch den anderen Schuß noch vergrößert wurde, in Be- tracht zieht. Nach den genauen Feststellungen, die bezüglich des ersten Schußfanals mühselig getroffen werden konnten, ist zu sagen: es ist nicht möglich, sich mit der rechten Hand einen solchen Schutz selbst beizubringen; mit der linken Hand wäre eS zwar möglich, aber es ist nicht wahrscheinlich. Ueber den zweiten Schußkanal war bestimmtes nicht mehr festzustellen. Es ist an sich mög- lich, daß ein Selbstmörder mehrere Schädelschüsse auf sich abgibt, es ist mber nicht wahrscheinlich; daß beide dann links und so dicht nebeneinander abgegeben wären, wäre mir ein Novum. Wenn man, wie gesagt, nicht eine Häufung von UnwaHrscheinlichkeiten und Ungewöhnlichkeiten annehmen will, so ergibt sich als Schluß- folgerung der sehr sorgfältig gemachten Feststellungen, daß Menzel von fremder Hand getötet ist. Bei diesem Gutachten bleibt der Sachverständige auch nach wiederholten Fragen der Verteidiger. Es kommt dann auf Grund der.inzwischen stattgehabten Er- Mittelungen über den Zeitpunkt, Wanst der Zeuge Greve aus Berlin wegegangen ist und wie lange er noch mit Nickel zusammen ge- arbeitet hat, zu lebhaften Auseinandersetzungen zwischen beiden, die Nickel mit der lauten Bemerkung abschließt: „Der Zeuge sagt wissentlich die Unwahrheit!"— Vors.: Unterlassen Sie solche Bemerkungen. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß der Zeuge Sie deswegen gerichtlich belangen kann. Der zweite Sachverständige, Privätdozent Dr. Fraenkel, schließt sich im allgemeinen dem Gutachten des Medizinalrats Stoermer an. Die Möglichkeit für einen Selbstmord sei sehr gering. Der gerichtliche Schießsachverständige, Hofbüchsenmacher Ba- rella, hat Schießversuche mit dem zu der Tat benutzten Revolver gemacht. Nach seiner Ueberzeugung seien die Schüsse in einer Entfernung von zirka IS bis 20 Zentimeter von dem Kopf abge- feuert worden. In der Mehrzahl der Fälle werde ein Selbstmörder die Waffe nicht so weit vom Kopf entfernt halten, sondern fest an die Schläfe setzen. Auch dieser Sachverständige glaubt, daß ein Selbstmord nicht vorliege. lieber den Geisteszustand der Frau Menzel wird hierauf der Medizinalrat Dr. Stoermer kurz vernommen. Der Sachverständige erklärt, daß bei der Frau M. weder eine Geiste?- krantheit, noch eine(Geistesschwäche vorliege. Der Sachverständige Dr. Berns-Mülheim ist vorgeladen Ivor- den, da der Angeklagte Nickel wiederholt auf den von ihm 1907 in Mülheim erlittenen Unfall zurückgekommen ist, wo ihm eine Schraube auf den Kopf gefallen sein soll. Der Sachverständige, der den Angeklagten damals behandelt hat, sagt aus, daß die Ver- letzung nur eine unbedeutende gewesen war und keinerlei Rück- Wirkung aus die geistige Beschaffenheit des Nickel ausgeübt habe. Ueber den Geisteszustand des Nickel äußert sich Geh. Medizinalrat Dr. Leppmann in längerem Vor- trage. Er kommt zu folgendem Schluß: Aus krankhafter Grund- läge habe Nickel seine Fabulierungen nicht entworfen. Wenn man annimmt, daß er sich fälschlich bezichtigt Hai, so sind auch keine krankhaften Gründe dafür maßgebend. Selbstbezichtigungen pathologischer Patienten oder starker Melancholiker kommen ja vor, von einer seelischen Depression, die in solchen Fällen vorzulisgen pflege, sei aber bei Nickel auch keine Rede. Alles in allem: es sei weder erwiesen, noch wahrscheinlich gemacht, daß Nickel aus krank- haften Gründen feine Selbstbezichtigung ausgesprochen, d. h. in einem Zustande, wo er dem freien Willen entrückt war. Eine Frage des Rechtsanwalts Dr. Walter Frankel, welchen Einfluß der bei dem Angeklagten vorhandene Liebeswahnsinn auf die allgemeine Stimmung ausgeübt habe, beantwortet der Sach- verständige damit, daß dabei nicht der Psychiater in Frage komme, fondern daß dies eine Frage der allgemeinen Lebenserfahrung sei. Nach Schluß der Beweisaufnahme werden die an die Ge- schworenen gerichteten Schulbfragen formuliert. Sie lauten auf Mord bezw. Anstiftung. Die E'-wtual- fragen gehen auf Totschlag bezw. mildernde Umstände, und bezüg- lich der Frau Menzel auch noch auf Begünstigung. Plaidovers. Staatsanwaltfchaftsrat Mix sucht an den Ergebnissen der Ver- Handlungen darzulegen, daß unzweifelhaft kein Selbstmord vor- liegt, sondern Menzel einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Als die Staatsanwaltschaft am 23. November 1010 sich zuerst mit der Sache zu befassen hatte, habe man der Annahme eines Selbst- mordes den Vorzug gegeben. Die Sache ruhte, bis der Buchbinder Boeker, ein langjähriger Freund des Menzel, betonte, daß Selbst- mord ausgeschlossen erscheine. Ter Charlottenburger Kriminal- kommissar Gerike hielt indes die Ansicht Boekers für nicht stichhaltig. Der Sache irat man wieder näher, als am 13. Mäiiz 1912 der Zeuge Held und an demselben Tage der Gastwirt Thomae auf verschiedenen Polizeirevieren Angaben machten, die es nahe- legten, daß ein Verbrechen vorliege. Die Verhandlung habe zur Evidenz erwiesen, daß deren Ansicht zutraf und daß kein Selbst- mord vorgelegen habe. Der zweite Vertreter der Anklagcbehörde, Assessor Eckert, geht auf die Einzelheiten der Verhandlung ein und gelangt zu dem Schluß: Nickel hat einen völlig planmäßigen Mord verübt, er bat den Menzel, ohne daß irgendein Streit vorangegangen war, heim- tückisch erschossen, als dieser ihm das Notizbuch zeigte. Angestiftet zu der Tat habe Frau Menzel den Nickel. Insbesondere seien die Aeußerungen, die Nickel hierüber zu anderen Personen getan habe. ein Beweis. Außerdem lasse sich die kolossale Uebermacht, die Nickel über Frau Menzel gewonnen, nur dadurch erklären, daß si« sich schuldig fühlte und sich damit ganz in seine Hand gegeben hatte. Ter Staatsanwalt beantragte deshalb, gegen Nickel die Schnlbfrage wegen Mordes, gegen Frau Menzel die wegen Anstiftung zum Morde zu bejahen. Die Verteidiger, Rechtsanwälte Dr. Fränkel, Dr. Alsberg, Münk und Dr. Rothschild geben in längeren Ausführungen der des Staatsanwalts entgegenstehenden Ansicht Ausdruck. Sie fassen die Momente zusammen, die für die Möglichkeit eines Selbst- mordes sprechen. Sollte man aber annehmen, daß Selbstmord ausgeschlossen sei, so sei zu erwägen, ob nicht ein anderer, als di« Angeklagten, die Tai ausgeführt habe. Käme man auch zur Ver- neinung dieser Frage, so müsse mit der Möglichkeit eines Tot- schlageS und der ferneren Möglichkeit gerechnet werden, daß Frau Menzel erst»ach der Tat dem Täter aus Furcht Begünstigung habe zuteil werden lassen. Sie plädieren für Verneinung der Schuldfragen, eventuell der Frage nach Bejahung der mildernden Umstände für den Fall der Bejahung der Fragen des Totschlages. Um 10 Uhr zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück, die sich bis Mitternacht ausdehnte. Der Spruch der Geschworenen lautete gegen Nickel auf schuldig des Totschlages unter Ausschluß mildernder Umstände, gegen Frau Menzel aus schuldig der Begünstigung. Staatsanwaltschaftsrat Mix beantragte gegen Nickel 12 Jahre Zuchthaus unter Anrechnung von 10 Monaten Untersuchungshaft, gegen Frau Menzel die Höchststrafe von 1 Jahr Gefängnis unter Anrechnung von 0 Monaten. Das Gericht verurteilte Nickel zu 12 Jahren Zuchthaus unter Anrechnung von 1 Jahr Untersuchungshaft und Ehrverlust auf die Dauer von 10 Jahren. Frau Menzel zu 1 Jahr Gefängnis, welches auf die erlittene Untersuchungshaft voll angerechnet wurde. Nickel erklärte, sich bei dem Urteil nicht zu beruhigen.
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