Die JVIemoircn Katharinas II.Der eigenartige ästhetische Reiz der Memoirenliteraturstammt aus dem persönlichen Erlebnis. Das Bilddes achtzehnten Jahrhunderts entfaltet sich in frischerenFarben, wenn mau selber als ein leibhaftiger Mensch imachtzehnten Jahrhundert auf der Erde wandelte. Den wissen-schaftlichen Ueberblick und das wissenschaftliche Urteil mußnian beim Historiker suchen! die künstlerische Lebendigkeitder Schilderung aber findet map am ehesten beim Memoiren-fchreibcr. Die persönliche Färbung seiner Arbeit, diehistorisch-sachlich als ein Nachteil angesehen werden muß, wirdkünstlerisch zu einem Vorzug.Am interessantesten müssen naturgemäß die Erinne-rungen eines Menschen aussallen, wenn der Kreis seinesLebens bedeutend war und wenn er die Ereignisse mit über-lcgenem Geist anzuschauen verstand. Es gibt zwar Memoiren,die ihren historischen und selbst ihren künstlerischen Wert ledig-lich dem Stoff verdanken. Die Denkwürdigkeiten vompäpstlichen Hofe Aexanders VI., die Burcardus mit einementsetzlich trockenen Stift aufgezeichnet hat, bieten hiervon einBeispiel. In solchen Arbeiten findet sich gleichsam nur dasFarben in»terial, und es bleibt der Phantasie desLesers überlassen, das künstlerische Bild zu schaffen. Manarbeitet sich mühsam durch viele lange leere Seiten, um dannirgendwo einen beglückenden Pinselstrich zu finden, den nurder Verfasser geben konnte, weil nur er die Dinge in frischerLebendigkeit vor sich sah.Am reizvollsten wird jedoch die Lektüre immer dann sein,wenn die Niederschrift nicht nur aus einer bedeutungsvollenZeit, sondern auch aus einer bedeutungsvollen Feder stammt.Was man aber immer von Katharina II. historisch haltenmag: an dem entsetzlichen Hof, an dem sie lebte, war siezweifellos eine überlegene Erscheinung, und da sie zudem einesehr lebendige Feder führte, strömt uns aus ihrer Arbeit dereigentümliche Memoirenreiz in ungebrochener Kraft entgegen.Vor allen Dingen hat sie mit starker Menschlichkeit ein Bilddes damaligen russischen Hoflebens geschaffen, dasan satter Farbenfrische von einem Historiker nur sehr schwererreicht werden könnte.Bevor wir uns indessen mit diesem Bild etwas näherbefassen, mögen einige kurze Worte über die beiden deutschenAusgaben gesagt sein, in denen die Erinnerungen der Kaiserinbis jetzt vorliegen.Die Memoiren wurden zum ersten Male im Jahre 1859von dem berühmten russischen Publizisten Alexander Herzenherausgegeben, und diese Ausgabe hat in der vortrefflichenMemoirenbibliothek von Robert Lutz in Stuttgart ihre Auf-rrstehung gefeiert. Die Ausgabe Herzens basierte auf einerjener Abschriften, die damals in Rußland heimlich im Um-lauf waren. Im Jahre 1997 hat nun aber die kaiserlichrussische Akademie der Wissenschaften eine offizielle Ausgabenach dem ursprünglichen Manuskript Katharinas veranstaltet,die einerseits die Echtheit der Herzenschen Ausgab« bewies,andererseits aber auch klar werden ließ, daß er nur einB r u ch st ü ck der ganzen Memoiren in der Hand gehabt hatte.In der eigenhändigen Niederschrift der Kaiserin bestehendie Memoiren aus sieben französischen und zwei russischenStücken, von denen Herzen 1859 das umfangreichst« fran-zösische Stück veröffentlichte. Sechs französische und zweirussische Stücke waren. demnach der Sesfentlichkeit unbekanntund sind uns erst im laufenden Jahr« von dem bekanntenJnsel-Verlag in Leipzig in zwei starken Bänden vor-gelegt worden. Die Ausgabe des Jnsel-Verlags darf alsofür sich in Anspruch nehmen, daß sie zum ersten Male dasvollständige Werk bietet, und ist dadurch selbstverständ-lich der einfacheren Ausgabe bei Lutz in Stuttgart überlegen.Neben der Vollständigkeit hat sie dann auch noch einen reichenApparat von Anmerkungen aufgeboten, der den Text derMemoiren in ausgezeichneter Weise illustriert. Wer aber inseinen Mitteln beschränkt ist, wird auch aus der billigen Aus-gab« bei Lutz in Stuttgart ein glänzendes kulturhistorischesBild gewinnen können.Im ersten Band der Insel-Ausgabe findet sich aufSeite 249 eine Schilderung, die dem höfischen Lebeneinen so bezeichnenden Hintergrund schafft, daß wir sie mit-teilen wollen. Damals noch viel mehr als jetzt, berichtetKatharina, wurde es dem Adel im allgemeinen sehr schwer,Moskau zu verlassen, die Stadt, die sie alle so lieben, woTrägheit und Nichtstun ihre Hauptbeschäftigung ist. Hierwürden sie gern ihr ganzes Leben damit zubringen, sich ineiner übertrieben vergoldeten gebrechlichen Karosse sechs-spännig umherfahren zu lassen, ein Symbol des falsch ver-standenen Luxus, der da herrscht, und den Augen der Massedie Unsauberkeit des Herrn, die Unordnung seines Haus-Wesens und seiner Lebensführung verbirgt. Es ist keineSeltenheit, aus einem großen, von Hausen Schmutz undUnrat erfüllten Hofe, der zu einer elenden Baracke aus ver-faulten Brettern gehört, eine prachtvoll gekleidete Dame ineinem wundervollen Wagen mit sechs schlechten, schmutzig ge-schirrten Pferden herauskommen zu sehen, mit ungekämmtenLakaien in hübscher Livree, der sie durch ihr linkisches Be-nehmen Schande machen. Im allgemeinen verweichlicht sichMann und Weib in dieser großen Stadt: sie sehen und treibennur Armseligkeiten, die auch das ausgesprochenste Genie ver-kümmern lassen müßten. Weil sie nur ihren Launen undEinfällen folgen, umgehen sie alle Gesetze oder führen sieschlecht aus. Das Ergebnis ist. daß sie niemals befehlenlernen, oder daß sie zu Tyrannen werden. Nirgends in derbewohnten Welt istderBodenfürdenDespotismusso günstig wie dort. Vom zartesten Alter an gewöhnen sichdie Kinder an ihn, weil sie sehen, mit welcher Grausamkeitihre Eltern die Dienerschaft behandeln. Denn gibt �s etwaein Haus, in dem sich nicht Halseisen, Ketten und ähnlicheWerkzeuge vorrätig finden, um wegen des geringsten Ver-gehens diejenigen zu martern, welche die Natur dieser un-glücklichen Klasse angehören läßt?Wer in den Memoiren das intimeLeben des da-nialigen russischen Hofes mit erlebt, wird immerwieder an diese farbige Schilderung aus Moskau erinnertwerden. Immer wieder kommt durch Prunk und Glanz derFeste die schmutzigste und widerwärtigste Barbarbei zumDurchbruch: immer wieder wird man an die prachtvoll ge-kleidete Dame erinnert, die zu einer elenden Baracke aus ver-faulten Brettern gehört.Damals liebte ich den Tanz über alles, erzähltKatharina an einer Stelle, und wechselte bei den öffentlichenBällen gewöhnlich dreimal meine Toilette. Meine Kleidungwar stets sehr gewählt und wenn mein Maskenkostüm allgemein Beifall fand, so erschien ich gerade deshalb nie wiederdarin, weil ich mir sagte, daß ein Anzug, wenn er einmalgroßen Effekt gemacht, zum zweitenmal nur einen geringenerzielen werde.... Sicher hatte die Koketterie damals amHofe einen so hohen Grad erreicht, daß es nur noch die Fragewar, wer es am besten verstehe, die Feinheiten desAnzuges in größter Vollendung zu ent-falten.An demselben Hofe aber, an dem die weibliche Klugheitzu einfachen Kostümen zurückkehrte, weil sie daran ver-zweifelte, die Toilettenpracht der anderen zu überbieten, fehltees an den notwendig st en Möbeln. Der Hof litt da-mals so großen Mangel an Möbeln, daß dieselben Betten,Spiegel. Stühle, Tische und Kommoden, die im Winterpalastgebraucht wurden, in den Sommerpalast und von dort nachPetersburg, ja selbst nach Moskau geschafft wurden. Wäh-rend des Transports wurde natürlich eine große Anzahlzerstoßen und zerbrochen: nichtsdestoweniger aber mußteKatharina, als die Gattin des Thronfolgers, sie benutzen.In Moskau bewohnte sie gelegentlich einen aus Holz ge-bauten Flügel, in dem daS Wasser am Gebälk herniederliefund alle Zimmer an großer Feuchtigkeit litten. IhreKammermädchen. Kammerfrauen und Diene-rinnen— 17 Frauen und Mädchen— wurden i neine S t u b e z u s a m m e n g e p f e r ch t. In ihrem eigenenSchlafzimminer wimmelte es derartig von Ungeziefer,daß sie nicht zu schlafen vermochte. Als einmal in Moskaudas Schloß brannte(die Kaiserin Elisabeth verlor bei dieserGelegenheit 4999 Kleider), wurde die großfürstliche Familiein dem Hause eines vornehmen Höflings untergebracht. Indiesem Hause fegte der Wind nach allen Himmelsrichtungenhindurch: Fenster und Türen waren halbversault, in denFußböden befanden sich Oeffnungen von 3 bis 4 Zoll Breite.Dazu strotzte es von Ungeziefer und an Möbeln fehlte es fastganz. Mit der glücklichen Hofdame aber, die zu diesemvortrefflichen Haus gehörte, verspielte Katharina in einemJahre allein 17 999 Rubel.Nach 6 Wochen wurde die großfürstliche Familie insofernbegnadigt, als sie uunmehr in ein Haus übersiedelte, das tuKaiserin gehört« und das Bischofshaus hieß, weil sie esvon einem Bischof gekauft hatte. In diesem kaiserlichenHaus waren die Oefen so alt und voller Risse, daß man dasFeuer hindurchscheinen sah, wenn sie geheizt wurden, und derRauch die Zimmer erfüllte. Tie Herrschaften liefen hier allemit Kopf- und Augenschmerzen herum und Katharina selberbekam eine starke Halsentzündung, begleitet von heftigemFieber. Da es sich nur um einen Holzbau handelte, der alsAusgang nur eine hölzerne Treppe besaß, waren sie zudem inständiger Gefahr, lebendig verbrannt zu werden.Und wie die äußeren Lebensverhältnisse waren, so warenauch die Mensche n. Unter der höfischen Tünche kamenimmer wieder die rohen und selbst die schmutzigen Barbarenzum Vorschein.Der halbidiotische Großfürst hatte neben ihrem gemein-samen Schlafzimmer, nur durch einen Bretterverschlag ge-trennt, einen Hundestall eingerichtet und amüsierte sichdamit, die armen Tiere bis aufs Blut zu quälen. Er befofssich mit seinen Bedienten und traktierte sie mit Stockschlägen,wenn sie im Rausch vergaßen, daß er ihr Herr und Meisterwar. Die Kaiserin Elisabeth glaubte an Hexerei in derdümmsten Form und ließ das Land von ihren fortwährendwechselnden„Günstlingen" ausbeuten. Auf einem Hofballwußte man keinen geistreicheren Scherz, als daß die Männerin Frauenzimmerkleidung erscheinen mußten, während umge-kehrt die Damen Herrenkostüme trugen. Mit brutalem Suffund wildem Hasadieren wurde die Oede des Tages tot-geschlagen.Und mitten in diesem Mischmasch aus Dummheit undRoheit erscheint dann ein affektierter Stutzer als dänischerGesandter, um mit dem ewig besoffenen Großfürsten über dasSchicksal Hol st eins zu verhandeln.Erich Schlaikjer.Mas ist ein Verein?Ja, lieber Freund, da sagst du: Das ist doch ganz einfach!Das ist doch ganz klar! Das ist doch— na, wie kann man über-Haupt so dumm fragen?!Und erklärst mir: Ein Verein ist eine Vereinigung von Leutenzu einem bestimmten Zweck; sie wählt sich einen Vorstand, beschließtSatzungen, erhebt Beiträge usw.Ja, früher Hab' ich das ja auch gedacht. Aber es ist eine sehrveraltete Ansicht, werter Zeitgenosse. Die Sache verhält sich näm-lich ganz, ganz anders und ist bei Licht besehen wesentlich einfacher.Das Essener Landgericht hat uns da ein Licht aufgesteckt, daskein Talglicht ist. Es hat einen Genossen verknackt, weil er Spielefür die Abonnenten der„Arbeiter-Jugend" veranstaltete. Dasaber waren Vereinsveranstaltungen, weil„das Gericht zu der An-nähme gelangt ist, daß es sich um einen Verein handle, zwar nichtum einen Verein im gewöhnlichen Sinne, doch sei ein festesBand zu erkennen, das die Gruppe umspanne, ein gewisses recht-liches Band" usw.Siehste! Das verdau' erst mal, mein Junge. Und dann über-lcg's dir zwei Stunden. Und dann lern'S auswendig. Vor- u n drückwärts.Und wenn du das alles überstanden hast, dann h a st du dieErkenntnis.Nämlich: Menschen mit irgendeiner gemeinsamen Willen?-richtung sind ein Verein. Vorstände, Satzungen, Beiträge— daswar bloß früher. Jetzt sind wir ein Stück weiter.Wenn du zum Beispiel in einer Kneipe sitzst und andere Gästemit dir, und ihr trinkt gar aus einem Faß, so ist hier ein festesBand zu erkennen, das alle in einer gemeinsamen Willensrichtuikgbeisammen hält. Ihr seid ein Verein.Oder:Tu fährst in der Eisenbahn, in der Elektrische», im Omnibus.Du willst, sagen wir mal, zum Spittelmarkt. Tie anderen auch.So seid ihr ein Verein. Denn ein gewisses festes Band umspanntdie Gruppe.KebeUion.Die Welt soll erzittem vor unserem Schreiten,wir branden und landen, ein donnerndes Meer.Wir wälzen und wühlen mit unsern befreiten,entfesselten, großen Gedanken einher.Wir stürmen die Klippen— wir fressen das Land,in modriges Dachwerk zuckt unser Brand.Wir kommen, die Sklaven, mit Äerrschergebärde,daß brünstiges Träumen Gewißheit werde!�_ Max Marthel.Der Prälat.Eine Episode aus belgischen Streiktagen.Die Kinder der streikenden Arbeiter vckn Verviers sollten nachBrüssel kommen, um dort für die Dauer des Kampfes bei bessergestellten Genossen und Freunden untergebracht zu werden. Erklangdoch im Frühjahr durch ganz Belgien und von außerhalb her vonallen Arbeitern, die es irgend machen konnten, der solidarische Ruf:Lasset die Kinder zu uns kommen.Und sie zogen aus die Kinder mit kleinen Päckchen unter denArmen, in der armen, aber sauberen Kleidung, die ihnen ihreEltern mitgeben konnten. Sie zogen nach Holland, nach Frank-reich, sie zogen von einer Stadt in Belgien nach der anderen undwaren es auch nur wenige— überall wurden sie von jubelndenHerzen empfangen. Die Arbeiter wußten, daß ihnen ihre kämpfen-den Kameraden das Teuerste anvertrauten, was sie hatten, ihreeinzigen und besten Güter, und nahmen daher diese kleinen, aberso kostbaren lebenden Schätze in treue und brüderliche Hut. Ichkann die Tage, wo ich die Kinder von Alost, dann einige von Brüsselin die Ferne ziehen sah, geleitet von Männern und Frauen, diesie während der Fahrt betreuten, nie vergessen. Ja, ich schämemich nicht, es zu gestehen, daß mir dabei die Tränen in die Augentraten. Sah ich doch, wie das Große, das Gewaltige, was dasinternationale Proletariat verbindet und dereinst zum Siegeführen wird— die Solidarität— lebendig geworden war inTausenden von Arbeiterherzen! Und so etwas greift tief hineinin das Gemüt, erschüttert und befreit und löst alle Hofsnungenaus auf die große Zukunft, di« errungen werden muß.—Weil ich erfahren hatte, daß den Kindern von VervierS eingroßer Empfang von den Brüsseler Arbeitern zugedacht war, be-schloß ich, um diesen Empfang recht auf mich wirken zu lassen,den Kindern bis Löwen entgegen zu fahren. In Löwen ange-kommen, mußte ich noch etwa zwei Stunden auf den Zug vonVerviers warten, während der ich einen Spaziergang durch dieStadt unternahm. Als ich dann die Rue de la Station wiederzum Bahnhof zurückging, schritt vor mir ein höherer Geistlichereinher.Sein langer, schwarzer, kaftanartiger Rock ging bis auf dieFüße herab. Er war mit violetten Säumchen eingefaßt. Violett-färben war. auch die Schärpe, welche der Prälat um den Leibtrug. Die Ränder seines muldenförmigen Hutes waren mitSchnüren an den Kopf herangebogen. Mit großer Würde schrittder Mann dahin, die demütigen Grütze der Enrgegenkommendennur leicht und kaum merkbar erwidernd. Mich interessierte dieserDiener Christi, und da ich desselben Weges mußte, wie er, gingich hinter ihm her. Seine Bewegungen hatten— vielleicht infolgedes langen, frauenhaften Rockes— etwas Weibisches. Ich mußtelächeln, wenn er eine Ouerstratze überschritt, die nicht gerade sehrsauber war und dann seinen Rock mit einer gewissen Grazie raffteund seine violetten Strümpfe sehen ließ. Kurz vor dem Bahnhofkam ihm ein nettgekleidetes Kind entgegengesprungen. Aber erwinkte schon von weitem ab und rief ihm ein lautes und hartes„In Ewigkeit, Amen" zu. bevor noch das Kind sein„Gelobt seiJesus Christus" gesagt hatte. Das Kind blieb, als er die Handabweisend ihm entgegenstreckte, erschrocken stehen. Als ich an derKleinen vorüberging, sah ich, wie Tränen in ihren Augen standen.Auf dem Bahnhos angekommen, war der Zug von Verviersnoch nicht eingetroffen. Ick wandelte in W Bahnhofsha-- aufund ab. Ter Prälat auch. Er hatte sein Brevier hervorgezogenund durchschritt mit langen hastigen Schritten die Halle. Noch nicktalt, hatte durch eine gewisse Gewöhnung sein Gesicht bereits tiefeFalten und zeigte etwas Starres und Abweisendes. Ich glaubenoch heute, daß er sein Brevier weniger des BetenS wegen vor dasGesicht hielt, sondern nur um auf Grüße nicht danken zu müssen.Als endlich der Zug einlief, öffnete er rasch, bevor ihm der rol-bemühte Bahnhofsbcamte, der dazu schon auf der Lauer stand,helfen konnte, eine Türe zu einem Abteil erster Klasse und stiegein. Auch ich nahm in dem Zuge Platz.Angelangt in Brüssel, war die ganze Einfahrtshall« schwarzvor Menschen, welche alle auf die Kinder von Verviers warteten.Ich stieq au? und, mich mühsam duxch die Menge arbeitend, sahich, daß einige Abteiltüren noch geschlossen waren. Hinter denFenstern bemerkte ich die Kinder, die mit erstaunten und erschrecktenAugen auf die vielen Menschen schauten. Unwillkürlich blickte ichmich nach dem Prälaten um. Er stand noch weit hinter mir, alSzögere er, sich in das Menschengewühl zu begeben. Plötzlich schritter in energischem Entschluß vorwärts. Man machte ihm bereit-willigst Platz, ohne ihn irgendwie besonders zu beachten. In demAugenblick aber, wo er vor den bisher geschlossenen Kupeetürcnankam, wurden diese geöffnet, und nun stürzte alles herbei, dieKinder herauszuheben und an die Herzen zu drücken. Laute Will-kommenrufe erschallten. Begeistert klatschte die Menge in dieHände. Da war nun an ein Durchkommen vorläufig nicht zudenken. Dep Herr Prälat, der jetzt dicht an meiner Seite stand,mußte sich gedulden. Sein Gesicht wurde so starr, als versteinerees. Die Augen schauten finster auf das mein Herz so tief er-greifende Schauspiel. Er murmelte mit zusammen gekniffenenLippen etwas vor sich hin. Dann wandte er sich an einen nahe-stehenden Bahnbeamten und rief, auf die Kinder deutend, laut undscharf:„Ist der Bahnhof nur für diese da?"Der Beamte beeilte sich, ihm Platz zu schaffen. Aber nunsetzte sich der Zug der Kinder in Bewegung—«s waren ihrernur einige zwanzig— und alles strömte dem Ausgang zu. TerGeistliche wurde gleich mir mit fortgeschoben. Vor uns gingendie Kinder, geführt von jungen Mädchen, Frauen und Männern.die ihnen ihre kleinen Bündel trugen. Mir schnürte sich das Herzzusammen vor innerer Bewegung. Der Prälat starrte düster vorsich hin. Als wir an die Bahnhofssperre kamen, sah ich, wie derganze weite Platz Charles Rogier vor dem Nordbahnhof mit Men-scheu geradezu besät war, die in dem Augenblick, als die Kinderaus der Bahnhofshalle traten, in begeisterte jubelnde Zurufe, be-gleitet von lautem Händeklatschen, ausbrachen.Auch der Prälat sah das großartige Schauspiel. Aber erblinzelte mit den Augen, als träfe ihn ein mächtiges, gewaltigesLicht. Mit einem Gesicht, von Wut und finsterem Zorn entstellt,drehte er sich um, rücksichtslos, fast grob, brach er sich durch dienachdrängende Menge Bahn und verschwand in der düsteren Bahn-hofshalle.Ich aber trat hinaus ins Freie, reihte mich dem Zuge ein.der sich rasch bildete und schritt hinter den Kindern her durch dieStraßen Brüssels bis in da? Arbeiterviertel, wo sich das Volt?»Haus erhebt, von dessen Balkon herab den Kindern ein Plakat«nt-gegenrief: Willkommen den Kindern unserer streikenden Käme-raden von VervierS! Und auS allen Fenstern des VolkShaufeSund der umliegenden Häuser streckten Kinder, Frauen, Männer