2. Beilage zum„Vorwärts" Berliner Volksblatt.Nr. 9.Freitag, den 12. Januar 1894.11. Ilchrg.Crispi's Gottesfriede auf Sizilien.Wie ich es in meinem letzten Berichte Ihnen vorausgesagt.so ist eS gekommen. Alle telegraphisch in die Welt gesetztenNachrichten von dem warmen Herzen Crispi's für die verhungernden und zur Verzweiflung getriebenen Bauern und Ar-bester Siziliens, von angekündigten Reformen in der kommunalenBesteuerung, Kaden stch als erbärmliche Lügen erwiesen. DieseNachrichten sind. wie sich jetzt berausgestellt hat, in dem offi-ziellen Depeschenbureau von der Regierung selbst, die mit Lügen-depeschen und falschen Nachrichten geradezu Orgientreibt, sabrizirt worden. Die Wahrheit ist: Crispi'sBrutalität offenbart sich in ihrem vollen Glanz.Sizilien ist in Belagerungszustand erklärt worden. Flinteund Säbel wüthet auf der unglücklichen Insel. DasVeiterli-Gewehr muß seine Wunder zeigen an den Schlacht-opfern Crispi's, an Männern. Frauen und Kindern des Volkes.Schon werden die Tobten und Verwundeten zu vielen Hundertengezählt, alle natürlich aus Seiten des Volkes. Wurden doch erstkürzlich in Masineo, einem Orte von 10 000 Einwohnern inder Provinz Palermo, 80 Personen niedergeschoffen, 30 aus derStelle gelödtel und b0 schwer und leicht Verwundete, daruntereine große Anzahl Frauen, in die Spitäler getragen. Einsozialistisches Blatt Süditaliens ruft aus: Crispi bereitet sichvor, sich den Namen des Bluthundes von Sizilien zu er-werben, wie einst Marschall Haynau den Namen Hyänevon Ärescia sich verdiente. Alle bürgerlichen Rechteauf Sizilien sind aufgehoben; man denke: SämmtlicheOrgauisalionen der Fasci, die mit den Verzweiflungsausbrüchender Verhungernden gar nichts zu thun hatten, sind von Crispi'sWerkzeug, dem zum Oberbefehlshaber von Sizilien ernanntenGeneral Morra di Lavria no, einem Blutmenschen, derdurch Grausamkeil im Heere berüchtigt ist, für revolutionär er-klärt und aufgelöst worden. Die Organisation von 400 000Menschen, die zum ersten Mal aus thierischem Zustande sich zuerheben begann, ist zerstört, ihre geistigen Führer, die Präsidentender Fasci, darunter Parlaments-Abgeordnete und bei Freundund Feind angesehene Männer sind ins Gesängniß geworfen.Letzten Freitag wurden verhaftet die Präsidenten der FasciGabriele Bosco und De Felice Giuffrida in Palermo,ferner Petrina, Präsident des Fasci's von Messina, fernerder in früheren Berichten mehrfach genannte hochver-diente Arzt De Luca, Präsident des Fasci's von Girgenti,der Organisator der Schwefelarbeiter Siziliens, serner der'Advokat Montalto, Präsident des Fasci's von Trapani und derRcdaklcur des tiefernsten, vorzüglich geleiteten sozialistischenBlattes»II Maro"(„Das Meer), ferner in Palermo der Pro-jessor und Provinzialrath Vincenzo Curatolo, der sich offen alsüberzeugten Sozialisten erklärt hatte, und endlich der Leiter desBlattes„Giustizia Sociale" mit Namen Miniscaho. DiesesBlatt selbst, die sozialistische Hanptwochenschrift Siziliens, wurdebrutal unterdrückt, ihr ferneres Erscheinen verboten. Das ist derGoltessriede Crispi's auf Sizilien. Die Post- und Telegraphen-ämter stehen unter militärischer Slussicht, keine wahreNachricht, die der Willkürherrschaft nicht gefällt, wirdherübergelassen. Die Hauptvorstände der Fasci warenkurz vor ihrer Gefangennahme in Palermo zusammen-getreten und hatten einen Ausruf beschlossen, den wir schon invir. 6 vom 9. Januar zur Kenntuiß unserer Leser brachten.Dieser Aufruf, in der brennenden Roth des Augenblicksunter Verzweiflungsausbrüchen der Volkswuth verfaßt, ist einAltenstück von hoher politischer Bedeutung. Wie sehr man auchüber einzelne Forderungen, die an Lassalle's Vorschläge erinnern,so insbesondere über den Schlußsatz aburtheilen mag, oder ver-schiedener Meinung sein kann; man darf die Ausnahinever-hältniffe, wie sie in Sizilien bestehen, nicht außer Acht lassen,und mit dieser Berücksichtigung ist der Aufruf ein Vorstoß in dersozialen Bewegung der Gegenwart, und die Verfasser und Unter-zeichner haben sich für die Zukunstswelt ein Verdienst erworben.Die Forderung der unmittelbaren Enteignung(Expropriation) und Ver�esellschaftlichung der großen Latifundienzu Ackerbau- und Jndustrie-Verbänden zeigt von Muth und Ent-schlosfenheit und von klarer Erkennlniß dessen, was Roth thut.Die Regierung hat die Bedeutung des Aufrufes wohl erkannt,und im Schreck und Entsetzen über die sozialistischen Forderungen,die ja die heutige Ordnung, die Welt des Elends und dieHungersnoth zerstören wollen, mit der Gefangennahme der Unter-zeichner geantwortet.Uebcr die Erdrückung des Proletariats Siziliens durch dieUachvarschaftsgUden.Etanton Coit macht nun dunkle Andeutungen, daß nach derNeuorganisation der gesammten Bevölkerung in Nachbarschafts-gilben man in ihnen die brauchbarsten Werkzeuge zu einer völligenNeugestaltung der Gesellschaft besitze. Zu dem Zweck plant erdie Hineinziehung aller möglichen Aufgaben in ihren Thälig-keitsbereich. Gegenwärtig liefert die eine Mustergild-! in Leigh-ton Hall den Mitgliedern Fortbildungskurse und Unterhaltungs-abende. Coit denkt aber auch an einen ausgedehnten Hand-sertigkeitsunterricht, sowie an Näh- und Kochschulen für dieMädchen; serner soll die Gilde direkt ins wirthschastliche Lebeneingreifen, indem sie eine Kohlenniederlage für du Mitgliedererrichtet und ihnen auch sonst als Ersatz für Konsumvereinedient. Letzteres wäre ganz zweckmäßig, vorausgesetzt, daß derMitgliederbestand ein fester ist, und daß die Mitglieder genug Ge-meingeist besitzen, um die Entnahme der Waarcn aus derEildeniederlage unter allen Umständen dem Ankaufe in Privat-geschästen vorzuziehen.Ueberflüssig sind Handfertigkeitskurse, die den Fach-schulen überlassen bleiben müssen. Geradezu bedenklichwürde aber die Errichtung eines Arbeitsnachweis-Bureausdurch die Gilde sein, denn Arbeitsnachweise nützen nur,wenn sie in großem Maßstäbe wirken können.Obendrein solle» für diese und ähnliche Aufgaben besonderebesoldete Gildebeamle angestellt werden. Für die Leighton Hall-Gilde sind deren zwei in Aussicht genommen. Werden dieseGildebeamten nun auch nur, wie Coit vorschlägt, mit dem orts-üblichen Tagelohn entlohnt, so ist für ihren Unterhalt doch eineganz erkleckliche Summe Geldes erforderlich, und es frägt sichsehr, ob die Gilde außer ihren sonstigen beträchtlichen Ausgabenai'ch noch diese Summe aufbringen kann. Außer zu den direktenGildegeschäflen sollen diese Beamten nun auch noch zustaiistischen Erhebungen aller Art verwandt werden. Coit meint,daß sich besonders auf gesundheitssörderliche hygienische Re-formen auf diese Weise hinwirken lasse und erwähnt init Stolz,daß von feiten der Gilde die Errichtung eines öffentlichenWaschhauses für Kentish Town angeregt worden sei. Da müssenwir Herrn Coit darauf aufmerksam machen, daß eine solcheThätigkeit in Berlin in viel höherem Maße, als es durch dieGilde und ihre besoldeten Beamten geschehen kann, bereits durchdie Arbeiter-Sanitätskcmmission ausgeübt wird. Um irgendctwas Ersprießliches zu leisten, müßten auch in London derartigeUnternehmungen von einer Zentralstelle aus organisirt werden.kommunalen und Lebensmittel-Steuern hat der„Vorwärts"schon eine Zahlenangabe gemacht. Die genaueren Vergleichs�zahlen sind folgende:In Piemont bezahlen 1133 Kommunen die Jahressummevon 12 Millionen Lebensmittel-Steuern, in Venezien 771 Kom-munen T/i Millionen, in Ligurien(Genua) 267 KommunenIIVs Millionen.Im Vergleich zu diesen Provinzen wird Siziliendurch die Lebensmittel, Steuern geradezu ausgepreßtSizilien bezahlt nämlich bei einem Bestand von nur340 Kommunen, an jährlichen Konsumsteuern die horrende Summevon 22 218 000 Franks. Es ist von sehr anziehendem und ein-schneidendem Werth, diesen Zahlen, die also das den Armenund Aermsten abgepreßte Einkommen bedeutet, ein anderes Ein-kommen entgegenzuhalten, über das gegenwärtig von allenBlättern Italiens gesprochen wird, das ist die Zivilliste und dasVermögen des königlichen Hauses von Italien. Bekanntlich be-zieht der König des allerärmsten Großstaates Europas die aller-reichste Einnahme, die kolossale Zivilliste von 14 Millionen jähr-lich. Aber dies ist bei weitem nicht alles. Das Geldvermögendes königlichen Hauses von Italien— also ganz ab-gesehen von den Landgütern und zahlreichen Schlössern mitihren Kunstschätzen— beläust sich nach neuerer Fest-stellung auf rund 110 Millionen Franks. Diese Summe hatSeine Majestät erst kürzlich in weiser Voraussicht möglicher,nahender Ereignisse dem von den Königen so allgemein ver-ehrten Schatzmeister Rothschild in sichere Verwahrung gegebenund bezieht daraus allein eine Rente, die den größten Theilalles Elendes in Sizilien zu heben vermöchte. Welche Be-trachtungen diese Gegenüberstellung von Zahlen und Einnahmenhervorzurufen geeignet ist. kann sich der Leser leicht denken.—Die Ereignisse in Sizilien beginnen allmälig auch auf dem Fest-lande Italien ihre Wirkung zu äußern. In Mailand, Turin,Genua und Venedig haben kleinere, aber bezeichnende An-sammlungen, Aufläufe mit Kundgebungen stattgefunden,an denen sich auch zum Theil Mitglieder der organi-sirte», sozialistischen Partei der Arbeiter betheiligten.Ueberall offenbarte sich die wärmste begeistertste Theilnahme mitdem Proletariat Siziliens. Hoch Sizilien! Nieder mit denKonsumstenern! Rieder mit der Schandwirthschaft Crispi's!war der immer wiederholte Schrei des Volles. Crispi hat bis-her diesen Ruf beantwortet, wie es von ihm zu erwarten war,durch Wiedereinberulung der Reserven, durch Verstärkung allerGarnisonen in den Hanptplätzen des Festlandes und durch Sen-dung immer neuer Truppen nach seinem geliebten HeimathlandeSizilien. 40 000 Mann Soldaten stehen gegenwärlig bereits inSizilien; Tag und Nacht ununterbrochen wird die Ueberfahrt vonMilitär, Flinten und Kanonen fortgesetzt; er hat versprochen,die Ueberschwemmung Siziliens mit Militär auf 60 000 Mannzu bringen. Die bürgerlich- radikalen Blätter, deren Korrespon-denzcn auf Befehl Crispi's von der Post unterschlagen werden— ich wiederhole es, keine wahre Nachricht kommt offiziell mitWissen der Regierung aus Sizilien— haben beschlossen. Geheim-korrcspondenten hinzuschicken, die auf Umwegen wahrheitsgetreuberichten sollen. Im Angesicht dieser neu einsetzenden Schand-wirthschaft des Staatsmannes nach berühmten Muster» ringtsich in dem aufwachenden Bewußtsein von Millionen Menschenheute der Ausschrei und die Frage los: Wie lauge noch sollKretinismus und der Wahnsinn auf Erden die Well regieren!rokrorles.Arbeiter-BildungSschule. Den Mitgliedern zur Kenntniß,daß Montag Abend in der Südost-Schule unentgeltlicher Unter-richt in Stenographie ertheilt wird. Theilnehmer mögen sich dortmelden. Der Unterricht in Gesetzeskunde findet Freitag Abenddaselbst statt. Zur Besprechung gelangt das Gesetz betreffend dieGewcrbcgerichte. Die Gewerbegerichts-Beisitzer, sowie Vereins-vorstände werden höflichst ersucht, sich diesem Kursus anschließenzu wolle».Sonnabend, den 13. d. Mts., fällt der Unterricht in volks-lhümlicher Medizin, des Stiftungsfestes wegen, aus.Ein Idyll auS der Ferienkolonie. Der im KaiserAlexander-Garde-Grenadier-Regiment dienende Gefreite Hart-mann ist wegen Soldatenmißhandlung dem Kriegsgericht unter-stellt worden. Die Affäre hängt mit dem Vorfall zusammen.daß ein Rekrut des genannten Regiments fahnenflüchtig gewordenwar, den man Unter den Linden festnahm. Derselbe erklärte,Die Gilde und ihre besoldeten Beamten dürften nur ausführendeOrgane sein.Nun trägt sick Coit auch noch mit dem ehrgeizigen Plan,durch die Gilden direkt aus die Gesetzgebung zur Durchführungsozialer Reformen einzuwirken, verwickelt sich Vrber dabei in dieerstaunlichsten Widersprüche. Im Anfang seiner Darlegungenbetont er, alle Leute, ohne Unterschied des religiösen Bekennt-nisses oder der politischen Ueberzeugung, sollten den Gilben an-gehören. Er schwelgt in dem Gedanken, wie nützlich es fürLiberale und Konservative sein würde, wenn sie innerhalb derGilde ihre Ansichten gegenseitig austauschen könnlen. Daß esauch Sozialdemokraten in England giebt und daß also auch diesein den Gilden Aufnahme finden mußten, übersieht er entwederaus Unwissenheit oder aus Berechnung. Nun ist es zweifellosmöglich, Leute der verschiedensten religiösen und politischen An-schauungen zu irgend welchen gemeinsamen unwesentlichen wirth-schafllichcn Unternehmungen, wie Kohlenniederlagen es sind, zuvereinen. Auch zum gemeinsamen Meinungsaustausch lassen siesich mit Erfolg anHallen. Die Gemeiuschasl solcher verschieden-artiger Elemente müßte aber sofort in die Brüche gehen, wennes sich um die gcmeinsame Fortbildung in der Ethik, im RechtS-wesen, in der Geschichte, in der Nationalökonomie Handell, wieCoit das plant. Ter Lehrer, der solche Stoffe behandelt undvorträgt, niuß doch selbst von einer ganz bestimmten Anschauungs-weise ausgehen; er muß, wen» er Freidenker oder Rechtgläubiger,wenn er Konservativer oder Liberaler oder Sozialdemokrat ist, beiLeuten gegnerischer Anschauung Anstoß erregen. Tie Hörer iverden,falls sie überhaupt eine eigene Anschauung haben, es sich nichttefalle» lassen, im gegnerischen Sinne„fortgebildet" zu werden.genn Coit und seine Freunde in Kentish Town auf keinen der-artigen Widerstand gestoßen sind, so läßt sich das nur darauserklären, daß sie mit politisch rückständigen Leuten zu thunhatten, die zivar in unklarer Weise mit allgemeinen Fortschritts-bewegungcn sympathiesirten, sich aber doch noch keine eigeneMeinung aus irgend einem Geistesgebiete gebildet hatten. Dafür,daß die Leighton Hall-Gilde nicht aus klassenbewußten Arbeiterngebildet wird, haben wir ein schlagendes Beispiel angeführt.Wären die Gildegenossen ausgesprochene Anhänger der Sozial-deniokratie gewesen, so würden sie es sehr übel vermerkt haben,daß der Lehrer und Berather um den Kern der sozialen Fragewie die Katze um den heißen Brei herumgeht.Trotz dieser Zaghaftigkeit, oder vielleicht gerade wegen derUnklarheit, die ihn deherrscht, glaubt Herr Coit nun doch in denNachbarschaftsgilden das richtige Mittel zur Lösung der sozialenFrage an der Hand zu haben. Er meint, eine umfassende Or-wegen schlechter Behandlung desertirt zu sein. Die eingeleiteteUntersuchung hat nun herausgestellt, daß Hartmann den Rekrutenbefahl, sich hinzulegen, worauf er dieselben mit einer Klops-peitsche behandelte.Die„Musteranstalten" als Gabenspender. Eine sehrdeprimirende Festüberraschuna soll dem Beamtenpersonal derStadt- und Ringhahn noch kurz vor Jahresschluß durch einegeheime Verfügung des vorgesetzten Betriebsamtes zu Theil ge-worden sein. Die Stationsvorstände seien— heißt es— an-gewiesen worden, Unter st ützungsgesuche fernerhin nichtmehr anzunehmen und einzureichen, weil der Unterstützungs-fonds erschöpft sei und daher Unterstützungen nicht mehr bewilligtwerden könnten. Nur in den„a ll e r d r i n g e n d st e n Fällen"soll es zulässig sein, solche Gesuche dem Betriebsamt vorzulegen.Die Verfügung sei den Beamten zur Kenntniß und Unterschriftvorgelegt worden. Es sollen seitdem selbst Nothstände, welchedurch Krankheiten oder Todesfälle in den Familien von Beamten,auch gering besoldeter, eingetreten sind, von den Stations-vorständen nicht als stichhaltig genug für die Annahme von Unter-stützungsgesuchen anerkannt worden sein. Ganz recht so. Destoklarer die Beamten darüber belehrt werden, was sie an Hilfe imfurchtbarsten Elend vom Staat zu erwarten haben, desto besserfür— die Sozialdemokratie.In den hiesigen Klein-Geschäften haben in den letztenTagen Umfragen durch Polizeibeamte stattgefunden, um fest-zustellen, ob und in welchem Umfange der Verkauf von Flaschen-bier stattfindet. Bei den Geschäftsinhabern hat diese Umfragedie wohl auch begründete Vermuthung erweckt, daß es sich umeine Vorermittelung für eine neue Biersteuer handeln könne.Ein Beitrag zum wirklichen Elend der landwirth-schaftlichen Arbeiter. Ende Oktober vergangenen Jahres sankein 68jähriger Mann auf den Straßen Berlins zusammen. Vonmitleidigen Samaritern wurde er nach dem KrankenhauseFriedrichshain geschafft. Dort stellte sich heraus, daß der Zu-sammengebrochene der Hofarbeiter Daniel Augnstin aus Piplin,Kreis Gumbinnen, war. Infolge Enlkräftung und infolgekolossaler Schmerzen, die ihm ein Beinbruch verursachten, war erzusammengebrochen. Nach wochenlanger Behandlung wurde ihmdann im Friedrichshain ein Bein amputirt. Der Arme soll sichnoch dort i» Behandlung befinden. Wie kam er nach Berlin?Er wollte sich an„seinen Kaiser" wenden, wurde nicht vorgelassenund warf die Bittschrift in einen Briefkasten. Und was steht inder Bittschrift? Weshalb wendete Augustin sich an„seinenKaiser"? Augustin stand nebst seiner Ehefrau seit 23 Jahren beidem Rittergutsbesitzer v. Bolzin zu Parecken(Kreis Gumbinnen)als Hofarbeiter im Dienste. Vor etwa 12 Jahren verunglückteer im Dienst: er zog sich beim Steinabladen einen Bruch undeine Beschädigung der Füße zu. Seine Erwerbsfähigkeit nahmab. Seit etwa 5 Jahren wurde er nur noch zum Holzbackenund zur nächtlichen Bewachung des Gutes verwendet. Er erhielthierfür(abgesehen von Essen) die horrende Belohnung von2,50 bis 4,50 M. monatlich— je nach Gunst seines Herren. Vor3 Jahren machte eine längere Krankheit dem Augustin die Aus-Übung seines Wächterpostens unmöglich. Nach überstandenerKrankheit war er noch weniger erwerbsfähig wie vordem. Durchdie Arbeit seiner Frau, die als Hofarbeiterin seit 23 Jahrengegen einen jährlichen Lobn von 24 Thalern und wöchentlich einBrot angestellt war, wurde der Hauptverdienst der Familie b».schafft. Da beging die Frau im Juni 1893 ein furchtbares Ver-brechen: sie warf das Futter, das ein Schwem des gnädigenHerrn nicht fressen wollte, einem Schwein eines anderen Hof-arbeiters vor. Diese Sünde erfuhr der„gnädige Herr", prügeltedie alte Frau durch, entließ sie und verbot, bei 10 M. Strafe.ihr Essen zu geben. Augustin sollte fortan Essen nur in der Kücheverabreicht erhalten, um nicht etwa seiner Fran etwas abzugeben.Verstohlen steckte der im Dienst des Gnädigen erwerbsunfähigGewordene ein paar Kartoffeln für seine Frau ein. Diese er-hielt übrigens bald darauf eine andere— bessere— Stellung.Das Fußleiden des Augustin verschlimmerte sich, da ihm. keineärztliche Behandlung zu theil wurde. Da befahl denn der„gnädige Herr", dem„faulen Hund" fortan nur noch täglicheinen Tops Suppe zu geben. Die einzige Kuh, dieAugustin besaß, verkaufte der gnädige Herr fürsich! Das sei. meinte er auf Vorstellungen dagegen, sein Recht.denn er erhalte ja den Augustin. Augustin erschien seine Lageselbst für einen ostelbischen Landarbeiter zu trostlos. In seinemwohl wenig gerechtfertigten, aber durch nichts erschütterten Ver-trauen zur Allmacht der Polizei wendete er stch an den Amts-Vorsteher, dann an die Polizei— vergeblich. Nunmehr wendeteganisation des geistigen und sittlichen Lebens des Volkes wäredie nothwendige Voraussetzung zur Besserung seines irdischenLooses. Sehen wir einmal ab von der konventionellen theologischenAusdrucksweise des Verfassers, der neben der Sorge für das irdischeLoos des Volkes auch noch ein überirdisches Loos im Auge hat. sosteht seine Grundausfassung doch auch sonst in unmittelbaremGegensatz zu derjenigen, auf der die gesammte zielbewußte, mo-derne Arbeiterbewegung fußt. Sie bat es klar erkannt, daß diegeistige und sittliche Hebung der Menschheit erst nach der Um-estaltung unserer gesammlen Wirthschaftsverfassung in vollerFreiheit vor stch gehen kann und daß Alles, was wir jetzt zurlusbildung der Einzelnen thun können, nur den nächsten Zweckhat, sie für den wirlhschaftspolitischen Emanzipationskamps desProletariats befähigter zu machen.Coit will nun aber gerade den umgekehrten Weg ein-schlagen. Er meint, die Gilden sollten nach erfolgter geistigerund sittlicher Organisation des Volkes„ihre ganze Kraft an emeAenderung der Gesetzgebung setzen." Diese Idee ist von so kind-licher Naivität, daß es sich nicht lohnt, darüber zu reden. HerrCoit könnte füglich wissen, daß in Deutschland und Englandjetzt bereits große Parteien sich mit der Reorganisation vonStaat und Gesellschaft durch das Mittel der Gesetzgebungrecht ernstlich befassen und sicher nicht ihre Thätigkeiteinstellen werden, weil in Zukunft möglicherweise einmalein« Coit'sche Gildenpartei mit einem noch vorläufigganz unbestimmten sozialen Programm in Wirksamkeit tretenkönnte.Die Nachbarschaftsgilden haben einen weit beschränkterenWerth and Wirkungskreis, als Herr Coit ihnen beimißt, dennochhaben sie einen gewissen Werth auch für uns, da sie in Einzel-heilen mit manchen Bestrebungen innerhalb unserer eigenen Be-wegung zusammenklingen, und deshalb haben wir uns so aus-führlich mit ihnen beschäftigt. Wir dürfen nichts unbeachtetlassen, was wir zur Förderung der proletarischen Bewegungnutzbar machen können.Indem wir den berechtigten Kern der Nachbarschaftsgildenherausschälen, müssen wir zu unserem Bedauern noch den letztenAnschein von Originalität zerstören, der ihnen anhastet. Coitselbst erwähnt, daß er die Anregung zu seinen Bestrebungen vonder Heilsarmee und der Toynbee- Hall- Bewegung, einem durchjunge Gelehrte gebildeten Volks-Bildungsverein, empfangen hat.Aber auch für die Form der Organisation und ihre wesentlichstenEigenheiten. sogar für deren Namen giebt es Vorbilder, undzwar bei einem deutschen Volksstamme, den Siebenbürger Sachsen.Seit Jahrhunderten bestehen in Siebenbürgen Verbände, die mit