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Nr. 17.

Erscheint täglich außer Montags. Breis pränumerando: Viertel­jährlich 3,30 Mart,

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11. Jahrg.

Infertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Bfg., für Vereins- und Beriammlungs- Anzeigen 20 Pfg Inserate für die nächste Nummer müssen bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochen­tagen bis 7 Uhr Abends, an Sonn­und Fefttagen bis 9 Uhr Vor­mittags geöffnet. Fernsprecher: Amt I, 1508. Telegramm- Adresse: Sozialdemokrat Berlin Berliner  

Bolksblatt.

ou 10x19

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Eine Utopie.

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Sonntag, den 21. Januar 1894.

des Gueux, des Königs der Bettler und Proletarier, der von Gottes Gnaden und durch hundertjährige Ueberlieferung des Hohenzollerngeschlechts die geschichtliche Mission hat, den Klassengegensatz zu beseitigen, die Armen, das aus gebeutete Volk der Arbeit gegen die Reichen, gegen das Bolk der Ausbeuter zu schützen.--

Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

Und Bismarck   drückte den Stempel des Königthums auf den Schmuz des Klassenstaats.

Herr von Caprivi ist zwar nicht der bestgehaßte, aber Das thut Caprivi nicht, und das wird er nicht thun. vielleicht der falschest beurtheilte Mann seines Jahrhunderts. Er ist ein Idealist, wie er seit den Zeiten des großen Die Einen erklären ihn für einen Zwerg an Geist und Ritters der Mancha nicht wieder gelebt hat. Er glaubt an seine Wissen verglichen mit Bismarck  . Und in Wirklichkeit ist Dame: die lilienreine über den Parteien stehende Monarchie, und er demselben an Geist mindestens ebenbürtig, an Wissen Wir wissen, was daraus geworden ist. Der moderne bricht Lanzen und Lanzen für sie. Mit bewunderungswürdiger hundertfach überlegen, wozu freilich bei der säkularen Ün- Dedipus, der auf dem Boden der Monarchie und des Christen- Kraft sucht er sich der Saugarm des großen Tintenfisches wissenheit des Sätularmenschen nicht viel gehört. Die thums das Räthsel der Sphyny: die soziale Frage Klassenstaat zu erwehren, und stößt die Junker zurück, die Anderen werfen ihm Mangel an Kühnheit vor und in lösen und sie aus der Welt schaffen wollte, hat sich zum ihn erobern" oder erdrosseln wollen. Wirklichkeit hat er die Kühnheit eines Löwen, er hat sogar antisemitischen Sozialdemagog und sozialen Kurpfuscher C'est beau mais ce n'est pas de la guerre. Es ist den Muth, der Lächerlichkeit zu trotzen, und mit dem niederfter Corte   gemaufert". Aus dem Prophet des sozialen schön, aber es ist kein Krieg, sagte der französische   General Stoizismus eines heiligen Sebastian sich von den Pfeilen der Königthums wurde der Hohepriester des goldenen Kalbes, beim Anblick des englischen Todesritts von Balaclava( im Kritik durchbohren zu lassen. Wieder Andere klagen ihn an, kein der Millionäre züchtete und er, der Eiserne  ", abwechselnd Krimkriege). Es ist schön, aber es ist keine Regierung. festes Ziel zu haben und in Wirklichkeit hat er ein Ziel in Blut und Gold watete. Und der König der Bettler" Der Klassenstaat ist allmächtig, und der Klassenstaat ist un­dem er treu anhängt und unverdrossen nachgeht, wie ist von der historischen Kritik in blauen Dunst aufgelöst erbittlich. Es giebt wohl eine Zauberformel, vermittelst ein Troubadour der Dame seines Herzens, und das worden. deren er zu bannen ist, aber sie lautet Sozialismus, er mit einer Ausdauer und einem Glauben verfolgt, Herr v. Caprivi hat sich durch das Treiben und Ende und vor ihr graut es dem Herrn v. Caprivi. Er fürchtet die des berühmtesten, edelsten und tapfersten aller Ritter seines Amtsvorgängers nicht irre machen lassen. Er den Sozialismus mehr als er die Junker und die übrigen würdig sind: des großen und unsterblichen Don Quixote, flammert sich nur um so fester an das Ideal. Wenn Priester des goldenen Kalbs haßt und verachtet. Und so dessen Ehrenrettung, nachdem die philisterhafte Menschheit Bismarck   es nicht erfüllt hat, so trägt nicht das Ideal die gewinnt denn der Schollen- und Schlotjunker mehr und ihn Jahrhunderte lang schmählich verkannt hatte, von dem Schuld, sondern Bismarck  . Gut Caprivi will die persön- mehr an Boden, und die Saugarme des fürchterlichen größten der modernen Dichter so glorreich bewirkt wurde. lichen und politischen Fehler Bismarck's vermeiden. Er ver- Tintenfischs Klassenstaat werden von Tag zu Tag länger Auch für Herrn von Caprivi wird dieser Tag kommen. abscheut den Giftbaum der Börse, er verachtet den Großwucher und stärker. Der arme Caprivi! So wenig der edle Ritter Und wir wollen hier prophetisch schon auf ihn hinweisen. des Junkerthums, die Begehrlichkeit der Schlotbarone. Er meint Don Quixote von der Mancha das tausendjährige Reich Herr von Caprivi hat möglicherweise keine Ideen, aber es wir zweifeln nicht- gut mit den Arbeiterner des idealen Nitterthums fand, ebenso wenig wird er das er hat weit mehr: er hat ein deal. Sein Biel ist will niemand Unrecht thun, fein Unrecht dulden. Das tausendjährige Reich des über den Parteien stehenden sozialen ein Ideal- das hat die Welt nicht begriffen und darum Königthum soll über den Parteien stehen, die sozialen Gegen- Königthums- oder Kaiserthums- finden und wenn auch sätze versöhnen, der Menschheit den sozialen Frieden geben. der praktische Sancho Pansa Miquel pfiffig lächelnd hinter Sein Jdeal ist die Verwirklichung des Königthums, Gewiß, es ist ihm ernst mit dem Ziel. Gewiß, es ist ihm ihm drein trottet. das über den Parteien steht, des sozialen Königthums", ernst mit dem Entschluß, sich und die Regierung rein zu Je schärfer die Klassengegensäße sich zuspizen, je näher das den Klassenkampf und den Klassenstaat beseitigt, und halten von Bismard'schen Prattiken. Er hat keinen Ar der Entscheidungskampf zwischen Sozialismus und Kapita­das Wohl Aller anstrebt und herbeiführt. und keinen Halm" er gehört nicht zu den gemeinen lismus heranrückt, desto unbehaglicher und unmöglicher wird Naturen, welche die Staatsmacht benutzen, um sich zu be- die Lage Caprivi's, desto dringender das Werben des reichern oder zu erhöhen. Junkervolts und eines schönes Tags wird Don Quixote in den Pott" hineinspringen- nachdem der schlaue, findige Sancho Pansa ihm vorgesprungen.

hat sie ihn nicht verstanden.

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Gewiß ein hohes Ideal. Und der edle Ritter Don Quixote von der Mancha, welcher da auszog, das reinste wahrste Ritter­thum zu entdecken und zu üben, alles Unrecht aus der Welt Er will, was er sagt, und weiß auch, was er will. zu schaffen, die Schwachen gegen die Starken zu beschützen- Schade nur, daß das, was er will, eine Unmöglichkeit ist, er hatte fürwahr kein höheres Ziel. ein schöner Traum, wie der weiland des Ritters von der Freilich das Ideal ist kein neues es haben sich in traurigen Gestalt kurz eine Utopie. Frankreich   und Deutschland   schon verschiedene Staatsmänner Das Kunststück, Jemanden den Pelz zu waschen, ohne ihm hingegeben und mit heißem Bemühen an der Erfüllung ihn naß zu machen, ist eine Kleinigkeit gegen das Kunststück, gearbeitet, allein das macht dem Unerschrockenen nur Ehre, im Klassenstaat eine parteilose Regierung zu schaffen, die der trotz der schlimmen Erfahrungen und Mißerfolge seiner über den Parteien, das heißt über den Klassen steht. Vorgänger den tückischen Sisyphusstein wieder angepackt hat und im Schweiße seines Angesichts emporschiebt.

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Aus England.

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London  , 18. Januar 1894. In Leicester  , das als ein Zentrum der Bekleidungsindustrie es in den letzten Jahren bis auf gegen 180 000 Einwohner ges. Daß Fürst Bismarck   diesem Ideal so bald und so bracht hat, tagt zur Zeit der Jahrskongreß der Bergarbeiter schnöde untreu ward, ist nicht blos die Schuld seines federation. Aus der durch Sam. Woods erlassenen Ansprache Jusbesondere der Amtsvorgänger hatte für das soziale gewaltthätigen und habsüchtigen Naturells, es war auch, des Präsidenten der Federation, B. Pickard, geht hervor, daß der Königthum" geschwärmt. Ehe derselbe in dem Morast seiner und in erster Linie, die zwingende Logik der Thatsachen. große Kampf im Sommer und Herbst v. J. der Federation außer Bluts, Eisen- und Goldpolitit versant, und als er noch den Er sah ein, daß der Klassenstaat mächtiger ist, als das den unsicheren Kantonisten in Durham   und Northumberland   nur Rathschlägen seines gescheidtesten Rathgebers, des Herrn Königthum daß das Königthum, gleich jeder anderen einen Distrikt gekostet hat: den von Süd Wales her beeinflußten von Wagener Dumerwig zugänglich war, hatte er das politischen Einrichtung, nur das Produckt der Verhältnisse Forest of Dean Distrikt in Gloucestershire  . Sonst haben überall Ideal des sozialen Königthums sich als Herzensbraut und der wirthschaftlichen Entwickelung ist. Er begriff, daß deutlicher spricht als die große Summe, die während des Lockout erforen. Man kennt ja die Idylle mit Lassalle, die nicht das Königthum den Klassenstaat beherrscht, sondern von Bergarbeitern, die wieder in Arbeit getreten, als Extrasteuer Deputation der schlesischen Weber, die Kriegserklärungen der Klassenstaat das Königthum und nicht blos beherrscht, an die Zentraltasse abgeliefert wurde. Sie beläuft sich auf über an die Bourgeoisie, die mystische Verherrlichung des Roi sondern nach seinem Willen zurechtknetet. 1/2 Millionen Mark( 83 000 Pfd. Sterl.), und es heißt, daß einzelne

Feuilleton. Helene.

Nachdruck verboten.]

[ Alle Rechte vorbehalten.

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plöglich so eilig, daß sie ihn zu bezahlen vergaß und sich ins Gewühl stürzte.

Er schien nicht im Geringsten davon betroffen zu sein, lächelnd sah er ihr nach.

Helene bemühte sich an die Seite der Russin zu kommen und hatte sie bald erreicht.

Es gelang ihr, die noch immer Vorwärtsdrängende am Arme zu fassen, und sie flüsterte ihr ins Ohr:" Sonja". Da fühlte sie eine Hand, die nach der ihrigen langte; schob ihr die Tasche entgegen.

Roman in zwei Bänden von Minna Kautsky  . Die junge Frau wand die blonde Flechte, die sie ge­löst hatte um ihren Kopf und nahm die Nadeln, eine nach der anderen wieder auf, um sie feft zu stecken. Und sie wieder telegraphirte sie auf diese Weise eine Frage: Ab­warten?"

Ein Nicken wie vorhin war die Antwort. Sie lächelte, und voll in den Spiegel blickend, grüßte sie den Mann darin mit den Augen.

Der Portier fam herein und rief laut in den Saal: Schnellzug nach Stuttgart  , Straßburg  , Paris-" Sofia Alexandrowna hatte in größter Ruhe ihr Müzchen wieder aufgesetzt und begab sich auf ihren früheren Platz zurück.

Jetzt wurden die bisher geschlossenen Thüren nach dem Perron wieder aufgemacht und alles drängte dahin.

Helene pochte das Herz; der entscheidende Moment war gekommen. Sie ergriff die Tasche und schloß sich den nach dem Ausgange Zustrebenden an.

Als sie sich umfah, bemerkte sie Sonja noch immer am Tisch stehen, ihre Handschuhe anziehen. Es regte sie auf. Warum tam sie nicht? Erwartete sie eine Weisung! Sollte sie zu ihr treten, ihr sagen? Nein, sie mußte thun, was man ihr geheißen, nichts anderes.

Und jetzt rief der Portier ein zweites Mal: Nach Stuttgart  , Straßburg  , Paris, höchste Zeit!" Die Nussin rührte sich nicht.

Da trat der Zeitungsverkäufer an sie heran, ihr ein Blatt überreichend. Sie nahm es, und nun hatte sie es

Jetzt erst sahen sich die beiden Frauen ins Gesicht. Grüßen Sie die Freunde von mir," flüsterte die Russin, sich Helene zuneigend, und seien auch Sie gegrüßt und bedankt."

Helene nickte:" Glückliche Reise." Sie waren bei der Thür angelangt und Sofia Alexandrowna Dodukoff trat auf den Perron und stieg in den bereit stehenden Bug.

Als Helene wieder in den Saal zurückkam, war er fast leer, Lazar und Konrad verschwunden.

Der Personenzug nach Holzkirchen  , mit der Abzweigung nach Miesbach  - Schliersee  , ward angezeigt. Helene wußte, daß sie sofort einsteigen tönne und begab sich dahin.

Es erschien ihm undenkbar, aber er fand in der Woh­nung hinlängliche Belege dafür. Ihr Sonnenschirm lag am Schreibtisch und Frau Ler­mina's Bild am Boden, zugleich mit dem Briefchen, das Helene aus dem Kouvert genommen hatte.

Bebender Zorn brannte in ihm auf.

Gegen sein ausdrückliches Verbot hatte sie gehandelt. Allein war sie nach München   gefahren, und war in seine Wohnung gekommen, wohl nur, um ihre Neugier au befriedigen.

Er hätte ihr das nicht zugetraut, niemals hätte er bas von ihr geglaubt!

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Sie mußte ihn auf der Jagd vermuthen, vielleicht wat sie so dumm zu glauben, daß er es nicht erfahren werde, daß sie ihm nachgespürt. Und nun hatte sie den Brief ge­lesen und ein ängstliches Unbehagen erfaßte ihn sollte sie errathen haben, daß er von Henriette war? Gie mußte mindestens einen Verdacht haben. Warum hätte sie sonst ihr Bild mit solcher Vehemenz auf den Boden ges schleudert, daß Glas und Rahmen zerbrochen waren?

Er warf sich in einen Stuhl and nagte an seinem Barte.

Es war doch sehr, sehr unangenehm; was sollte er thun, was ihr sagen? Dann fuhr er mit Ungeduld in

Sie nahm im Koupee Play, 30g ihren Schleier herab und schloß die Augen, der Augenblick, der sie eine rettende die Höhe. That vollbringen ließ, hatte sie über ihr Leid hinweg- Stand er denn wirklich schon unter dem Pantoffel? gehoben, jetzt zuckte der Schmerz von Neuem auf. Und weil er verheirathet war, sollte er deshalb Be­Aber ihre nervöse Energie war verbraucht und sie verziehungen aufgeben, die für seine Karrière unerläßlich brachte die Stunden der Fahrt regungslos in halber Dhn waren? Hatte er deshalb ein Mädchen ohne Vermögen, macht. Sie hatte keine Ahnung, daß ihr Mann sich in ohne Familie geheirathet, um sich vor ihr zu fürchten? demselben Zuge befand. Der Handel wäre zu ungleich.

Er war in seine Garçonwohnung gekommen, um für den Abend Toilette zu machen, als er von den Portiers­leuten erfuhr, daß seine Frau hier gewesen und in seine Wohnung hinaufgegangen sei.

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Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und nieder. Als ihm aber jetzt das Bild seiner Frau vor die Seele trat, lächelte er.