Wie in Bayern die katholischen Geistlichen von Amts- wegen zur Agitation gegen die Sozialdemokratie ge- zwungen werden. Im bayerischen Landtag führte Genosse Nimmerfall vor kurzem darüber Beschwerde, daß der katholische Pfarrer Taubenberger in dem nahe bei München liegenden Stäbchen Dachau im RcligionZ-- Unterricht Politik getrieben und gegen die Sozialdemokratie agitiert habe. Der bayerische Minister des Innern zog es vor, zu schweigen. Nun aber brachte jüngst dos führende bayerische Zentrumsblatt, der»Bayerische Kurier", eine reizende Auf- llärung. Es schrieb: „Der Fall ist von allgemeinem Interesse. Denn Pfarrer Taubenberger hat nur getan, wozu er durch sein Amt als christ« licher Religionslehrer verpflichtet war. Hat er seine Be- fugnisse überschritten, so trifft dieser Vorwurf auch das Gros seiner Amts genossen, dann trifft er auch die obere kirchliche Behörde, welche»dieses Tun" zuläßt und billigt. ... Der Religionsunterricht wird dort(nämlich in Dachau ) erteilt an der Hand deS mit dem bischöflichen Imprimatur »ersehenen Lehrbuches von Johann Schwab:„Ausge- führte Katechesen für den Religionsunterricht der Fortbildungs- schule und der Christenlehre". In diesem Buche sind nun in der Tat verschiedentliche Fragen berührt, die das politische G e- biet berühren. Und das ist auch ganz nalürlich. Wenn man z. B. das 4. Gebot bespricht, wie kann man das tun, ohne dabei den jungen Christen auch die Achtung und den Gehorsam gegen- über der staatlichen und kirchlichen Gewalt einzuschärfen? Der Verfasser des Lehrbuches bezeichnet es ausdrücklich als Recht und Pflicht des Religionslehrers an dieser Stelle zu sprechen von Wahlrecht und Wahlpflicht, von Geschichte und Grundsätzen der politischen Parteien. In einer christlichen Sittenlehre können ferner auch Fragen nicht unberührt bleiben wie die: Ist ein S t r e i I c r l a u b t? Unter welchen Bedingungen darf man sich daran beteiligen?... In besonderen Kapiteln des Buches wird auch vom sozialistischen Zu- kunftsftaat und anderen sozialistischen Schlagworten ge- sprachen. Es wird dargelegt, daß sich die Lage des Volkes auch auf friedlichem Wege verbessern läßtohneblutigeRevolution. Begreif- licherweise(!) muß da auch von den Arbeiterorganisationen geredet werden. Die freien Gewerkschaften, so heißt es da. hätten früher wirklich Gutes und Anerkennenswertes geleistet, aber was man heute in ihren Versammlungen höre, was ihre Zeitungen Tag für Tag fülle, sei ein wütender Kamps gegen alles, lvas Religion und Sitte heißt. Für einen gutgesinnten achtbaren jungen Mann kämen lediglich die christlichen Gewerk- schaften in Betracht." Soweit der„Bayerische Kurier", der in solchen Dingen genau Bescheid weiß. Mit einer geradezu verblüffenden Offenheit, die zur Genüge beweist, wie sicher die Schwarzen sich in Boyern fühlen, gesteht er ein, daß der niedere bayerische Klerus von seinen geist« lichen Oberen zum politischen Agitatorentum und zu Zutreiber« dicnsten für das Zentrum direkt gezwungen wird. Seine Äußerungen machen auch das Schweigen erklärlich, da? der bayerische Minister des Innern der Kritik des Genossen Nimmerfall entgegensetzte. Er wußte nur zu gut, daß hier der Wille der höchsten Vorgesetzten der bayerischen Minister, nämlich der Bischöfe, in Betracht kommt, und da hat ein bayerischer Minister nichts mehr zu sagen. Vertreter des Rechts am Reichsgericht. Vor einiger Zeit hatte der Jüstizrat Jacobson- Berlin !in einem Artikel der„Vossischen Zeitung" behauvtet, die iechtsanwälte am Reichsgericht'seien nichr geneigt, gegen die cechteanjicht des 2enaz* aufzutreten. Tiejer Vorwurf war on den Klmvalten am Reichsgericht mit Entrüstung zurück- gewiesen worden. Dem �ustizrat Jacobsohn sind nun eine Anzahl Briete zuzestellt worden. ouS denen die Richtigkeit feiner Behauptung sehr einwandfrei hervorgeht. Einer dieser m a n d; nur ganz entfernt am Büfett stand ein junger Mann, der sich mit dem Wirt unterhielt." Rede aber schrieb in dem von Andreas Scheu ausdrücklich als echt beglaubigten Brief: »... Das Rendezvous fand auf der Station statt, wo vier Polizisten anwesend w a r e n, die uns beobachteten, und ich insolgcdcsscu, nachdem ich ibm sReuß) meinen Standpunkt klar ge- macht haue, schleunigst meiner Wege ging." Der Widerspruch der. an Peukerl gerichteten angeblichen Briefe Reves mit denen an Trunk und Davs gerichteten siel schon damals Peukert auf; er will an Neve geschrieben und(S. 245) »von ihm Auskunft verlangt haben, wie er dazu komme, solche zweideutigen Briefe zu schreiben, von denen er doch wiffen müsse, wie dieselben von einem Kerl wie Davs ausgcnutzl würden. Darauf erhielt ich von Neve einen langen Brief, worin er sich mit der Aufregung entschuidigte. er habe nicht gedacht, daß Dave den Brief lesen würde, der ja überhaupt keine Verdächtigung gegen mich enthalte, er habe Trunk ungefähr dasselbe geschrieben wie mir und es sei ihm peinlich, daß sein Name wieder in den ekelhaften Streit hineingezogen worden sei. v a m i t w a r d i e Sache für uns beide erledigt, nachdem ich ge- antwortet, daß von unserer Seite sein Name in dem Streit nicht berührt werden solle." Diesen Brief, der doch in der damaligen Situation für Peukert ungeheuer wichtig war. hat Peukert nie veröffentlicht. niemand hat ihn gesehen und zum Unglück für Peukert soll er ihm nachher auch noch gestohlen worden sein! Es existiert aber noch ein weiterer Brief von Neve. der auch Herrn Landauer nicht unbekannt sein dürfte, denn er ist in Nr. 2 des„Sozialist" vom 9. Januar 1597 mitgeteilt worden. Er ist in Berlin am 2l. Februar 1887, also am Tage der Verhaftung Neveö, angelangt und lautet— nach dem„Sozialist"—„ungefähr folgendermaßen": „Jetzt werde ich nicht nur von Stadt zu Stadt gehetzt, son- der» von Haus zu HauS. Und wären die deutschen Spitzel nicht so furchtbar dumm, so würdet Ihr wohl diese Zeilen nicht mehr erhalten. Peukert hat den unverzeihlichen Leichtsinn besessen, meinen streng geheim gehaltenen Schlupfwinkel an Reuß zu verraten. Reutz hat zu Peukert gesagt, er müsse mich sprechen, um sich bei mir von den Verdächtigungen ZY reinigen. Er wolle meine Wohnung nicht wissen, damit er nicht neuen Verdacht auf sick, lade. Daher sollte mich Peukert holen. Ich ging auf Paukerts Aufforderung, es müsse mich Jemand(I) sprechen, mit demselben. Als ich aber sah, daß es Reuß war, der mich sprechen wollte, schalt ich Peukert seiner unerhörten Dummheit wegen aus und ging meiner Wege. Bon dem Tage an werde ich von drei deutschen ..... auf Schritt und Tritt verfolgt." Ju einen Streit mit Peukert-Landauer mich einzulassen über den wahren Begriff der»Propaganda der Tat", wäre wirklich Zeitvergeudung. Will Herr Landauer meine Darstellung der Winter- thurer Vorgänge nicht glauben, so läßt er eS eben bleiben, aber dann kann er von mir keine Antwort erwarten. Aber vielleicht bringt ihn daS Wort deS im MerfiaSinger-Prozeß verurteilten Engel zum Nachdenken: Hohe(der RedakiionSkollcge PeukertS an der »Zukunft", der mit dem Reste des bei Merstallinger erbeuteten Bargeldes nach New Fort entflohen ist) „Hotze hat mir das Wort gegeben, daß das Geld für die beilige Sache verwendet wird, zu eigennützigen Zwecken würde ich es ja nicht getan haben."- charakikristifchen Briefe eines Reichsgerichtsanwalts, datier? � vom 10. Oktober 1913, hat folgenden Wortlaut: Sehr geehrter Herr Justizrat! In Sachen p. p. ersehe ich aus Ihrem gefl. Schreiben vom 7. d. M., daß die Partei sich zur Zurücknahme der Revision nicht entschließen will.(Dann folgen Erwiderungen auf die Rechts- aussührungen, und es gebt weiter:) Ich kann deshalb nur noch- mals raten, das Rechtsmittel zurückzunehmen, sollte ich die Ermächtigung wider Erwarten nicht erhalten, so erkläre ich schon jetzt, daß ich mich zur Vertretung der Revision, nachdem ich weiß, wie der zuständige Senat über die Sache denkt, nicht entschließen kann. Ich müßte, wenn ich die Revision vertreten wollte, ge- wärtigen, daß mir dies seitens des Senats direkt übel genommen, und daß mir der Präsident in der Sitzung hierüber eine ent- sprechende Bemerkung machen würde. Sie werden wohl selbst nicht wünschen, daß ich mich dem aussetze, und ich glaube auch nicht, daß nach Sachlage eine anderer Reichsgerichtsanwalt zur Vertretung sich bcreitfinden lassen wird. p. p. Mit kollegialer Hochachtung." Mit Welchem Recht sich unter solchen Umständen die Herren noch Rechts a n w ä l t e nennen, ist nicht recht einzu- sehen, und das Vertrauen in die Rechtsprechung des Reichs- gerichts können solche Zustände allerdings auch nicht fördern. Erschwerung des russischen Arbeiterzuzuges? Der russische Ministerrat hat die Einbringung einer Gesetzes- vorläge über den Abgang russischer Feldarbeiter ins Ausland, soweit diese auf dem Seeweg erfolgt, beschlossen. Der zweite Teil der ursprünglichen Gcsetzesvorlage betreffend die Ar- beiter, welche auf dem Landwege, beispielsweise nach Deutsch - land oder Dänemark abgehen, soll von einer Sonderkommission des AckerbauministeriumZ einer Vorprüfung unterworfen werden. Der Ministerrar sprach dabei den Wunsch aus, es möge in beiden Fällen dafür gesorgt werden, daß durch den Abgang russischer Arbeiter während der Feldarbeiten die Interessen der russischen Landwirtschaft nicht leiden. Für die Ostelbier würde eine Erschwerung des Wanderarbeiter- zuzugs eine recht große Verlegenheit bedeuten. Der russischen Re- gierung ist es natürlich weniger um das Wohl der Arbeiter und auch nicht so sehr um den Arbeiterbedarf der russischen Landwirtschaft zu tun, als darum, bei den künftigen Handelsvertrags- Verhandlungen eine Waffe in der Hand zu haben. 5700 M. Tnrchschnittsvermögen. Ter Generalpardon bei der Erhebung des Wehrbeitrages hat überall zu einer wesentlichen Steigerung der bei der Steuererklärung angegebenen Vermögen geführt. Wenn die Schätzungen über das Volksvermögen gewöhnlich teilweise auf der Einkommens- und Vermögenssteuerstatistik süßen, ergibt sich stbon hieraus, daß sie wahrscheinlich zu niedrig waren. In diesen Tagen hat nun A. Stein mann-Bucher, ohne Benutzung der Steuerstatistik, eine neue Schätzung deS deutschen BoltsvermögenS veröffentlicht, deren Resultate wesentlich höher ausfallen, als bei früheren Schätzungen. Während Schmoller vor zehn Jahren das Volksvermögen auf etwa 209 Milliarden angab, schätzt es Steinmann- Bucher auf 376 bis 397 Milliarden. Unter Berücksichtigung eines jährlichen Gesamteinkommens des deutschen Volkes von 46 Milliarden gibt Steinmann- Bucher das durckschnittliche Vermögen de? Deutschen auf 5739 M. an. Selbst wenn diese Schätzung die wirklichen Verhältnisse übertreffen sollte, zeigt sie doch, welch kolossalen Vermögen heute in Deutsch - land vorhanden find— natürlich nicht so verteilt, daß auf jeden Einzelnen 5739 M. entfallen, sondern aufgespeichert in den Händen ganz weniger Großkapitalisten. Der Proletarier, d. h. die Mehrzahl des Volkes, hat an dem gewaltigen Vermögen keinen Anteil. Da» reiche Deutschland — so nennt Steinmann-Bucher seine Schrift— wird nicht durch da? Volk, sondern durch eine kleine Zahl von Nutz- uießern der kapitalistischen Wirtschaftsweise repräsentiert. Mich haben in den 89er Jahren, als ich noch jung war, die Rodomontaden von der»Propaganda der Tat" nicht verwirren können darüber, daß es auf dieser Bahn keine Grenzlinie gibt zwischen sogenannten Revolutionären und wirklichen Lumpen(und Stellmacher war ein Schulbeispiel für die Mischung beider Elemente) und die Phrasen Peukerts in seinem Buche oder die Redensarten Landauers in feiner Zuschrift vermögen eS heute auch nicht. Herr Landauer darf versichert sein, ich habe das ganze Buch, also auch das Kapitel über den Londoner Kongreß gelesen, und ich habe daS Buch nicht etwa mit der Absicht gelesen. Material gegen Peukert herauszufinden, dafür dürften meine Artikel zeugen. Aber als ich Seite auf Seite der gewissenlosen Verlogenheit PeukertS begegnete, da hielt ich es für m«ine Pflicht als Partei- genösse, den jüngeren Parteigenossen, denen jene Ereignisse fremd find, an Hand einiger Beispiele den verlogenen Charakter des Peukertschen Machwerkes") klarzulegen— auf die Gefahr hin, das seniimentole Mißfallen so ethisch empfindender Edel-Anarchisten wie Landauer zu erregen. Nachträglich noch eine aktenmätzige Feststellung der Peukert- scheu Verlogenheit. Wie ich schon in dem Kapitel„Propaganda der Tat" dargelegt habe, schreibt Peukert Seite 163: „Nachdem die Wiener Polizei durch R. Fischer in Zürich erfahren hatte, daß der gefangene Attentäter Her- mann Stellmacher von Zürich sei...." In der„Wiener Kriminal-Bibliothek", 1. Heft,„Prozeß gegen den Anarchisten Hermann Stellmacher"(Wien — Berlin — Leipzig 1884, Verlag von Hugo Engel) finde ich Seite 39 folgendes: „Nachdem die Königliche Polizei-Direktion in Dresden mit Note vom 1. Februar 1884 mitgeteilt hatte, daß nach einer derselben übersandten Photographie des Mörders des Polizeiagenten Bloch eine Anzahl von in Dresden domizilierenden Personen in demselben einen gewissen Her- mann Stellmacher erkennen, welcher vom 25. Jänner 1875 bis Ende Jänner 1876 als Kapitulant-Unteroffizier bei dem kgl. sächsischen 2. Grenadierregiment Nr. 191, Kaiser Wilhelm , ge- dient, nach seiner Entlassung vom Militär bis Mitte November 1876 als Wagenschieber ans dem Zentralbahnhof in Dresden gearbeitet und dann nach der Schweiz sich gewendet hatte und nachdem insbesondere eine mitgesendete, von einem Bekannten des Stellmacher erlangte Photographie desselben als Unteroffizier des erwähnten Regiments jeden Zweifel über die Richtigkeit der Agnoszierung ausschloß, nahm auch der bisher namen- las gebliebene inhaftierte Mörder Blochs bei seiner nächsten gerichtlichen Vernehmung vom 4. Februar 1884 keinen weiteren Anstand, zuzugeben, daß er wirklich Hermann Stell- macher heiße, am 23. Mai 1853 zu Grottiau in Preußisch- Schlesien geboren, konfessionslos, verheiratet, Schuhmacher sei und zuletzt in Zürich (Vorstadt Fkuntcrn, Bcrgstr. 12) gewohnt habe." Die Versammlung in Winterthur fand am 5. Ftbruar statt. an diesem Tage erhielt ich das Wiener „Extrablatt" mit dem Bilde Stellmachers, am 1. Februar aber meldete schon die Dresdener Polizei den Namen und am 4. Februar bekannte Stellmacher selber seinen Namen. Ein Menschenalter später aber verkündet der„Ehrenmann" Peuteri: Nachdem die Wiener Polizei durch E. Fischer in Zürich erfahren hatte, daß der gefangene Attentäter Hermann Stellmacher von Zürich sei.... Richard Fischer. Eine Kronprinzenreise ans Kosten der Gtenerzabler. Der Kronprinz hat die Absicht, in der nächsten Zeit eine Reise nach den deutschen Kolonien in Afrika zu unternehmen, um dort der Jagd nachzugehen und bei dieser Gelegenheit auch Land und Leun sich zu betrachten. Die nationalliberale Reichstagsfraktion will nun im Reichstag den Antrag einbringen, aus Reichsmilteln 209 999 M. für diese Reise zu bewilligen. Der Reichstag wird hoffentlich dein nationalliberalen Antrag die Zustimmung versagen, denn es liegt nicht der mindeste Grund vor, die Kosten einer Reise deS Kronprinzen aus den Mitteln der Steuerzahler zu bestreiten. Der Krön- prinz wird für diese Reise ein KrieaSschiff benutzen, so daß er einen Teil der Reise ohnehin aus Reichskosten macht und eS ist bezeichnend für die Liebedienerei der Nationalliberalen, daß sie dem Kronprinzen sogar auch den anderen Teil der Reisekosten abnehmen und ihn den Steuerzahlern aufbiirden wollen. Oesterreich. Ein Spionageprozeh!. � AuS Wien wird uns geschrieben: Die Spionage gehört anscheinend zu den sittlichen Merkmalen dieser Zeit, in der Kapitalismus und Militarismus die herrschenden Mächte sind; also sind auch Spionageprozesse nicht selten.' Dem- nach hätte auch die Verurteilung der zwei Brüder I a n d r i c. von denen der eine noch aktiver Offizier war, der andere es ge» Wesen ist, bevor er wegen einer Schufterei in einer privaten Sache aus dem Offizierskorps ausgestoßen wurde, kein besonderes Auf- sehen erregt, wenn die begleitenden Umstände nicht so auffällig wären. Der Verrat der zwei Brüder, die beide aus einer alten OffizicrSfamilie stammen, fällt nämlich zeitlich mit den Verrate- reien des Redl zusammen; ursprünglich war sogar die Rede davon, daß alle diese Spione gemeinsam operiert hätten. Was alles die militärischen Spione— wieder ein Beweis, wie der berühmte„Rock des Kaisers" die innere Sittlichkeit verbürgt— an Rußland verraten haben, ist natürlich nicht bekannt geworden; nach den Summen, die sie als Schandlohn empfangen haben, sicher- lich nicht wenig. Und es stand damals die Gefahr eines Krieges mit Rußland gleichsam vor den Toren! Und die Prozesse gegen die Jandric sind nur die ersten Glieder einer ganzen Kette von Spionageprozessen! Man denke es durch, was diese Schuftereien Deutschland und Oesterreich, wenn der Krieg wirklich ausgebrochen wäre, an Blutopfern hätten kosten können! Bon der Pest der Spionage ist kein Staatswesen frei, aber ihren eigentlichen Sitz hat sie doch in Rußland . Man hat diesmal in Wien auch die sonst üblichen Verhüllungen aufgegeben, und statt, wie c§ sonst geschieht, von einer„fremden Macht" zu reden, weist die Anklage direkt auf Rußland und ans den russischen Militär- attache in Wien , den Obersten Zankiewitsch, hin, der die Jandric geworben hat und als Auftraggeber der„Bestellungen" und Uebernehmer deS„Materials" fungierte. Die Anklageschrist berichtet, daß der Verdacht gegen die Spione dadurch entstand, daß am 3. März 1911, vormittags 10 Uhr, der Militärattache den einen Jandric in seiner Wohnung besuchte, und sie teilt weiter ein form- liches Verzeichnis all dieser Besuche und Zusammenkünste zwischen dem russischen Bevollmächtigten und dem Spion mit. Da eS nun natürlich nicht so ist, daß die Polizei alle gewesenen Offiziere be- wachen läßt, so geht aus dem Bericht klar hervor, d a ß m a n i n Wien die russischen„M ilitärattacheS" polizeilich beobachten läßt, und auch gar kein Hehl daraus macht, daß man eS tut: die russischen Herrschaften fassen ihre„militärische" Sendung eben nur noch als Anknüpfungspunkt und Gelegenheit für Spiönage auf! Es muß auch jeder am Schluß Wien Knall und Fall verlassen. Diese Lumpereien fügen sich freilich vortrefflich in das Bild ein, das Rußland im Innern bietet. Wo die Be- spitzelung der eigenen Bürger die. StaatSmaxime ist; wo nicht bloß daS freie Wort, sondern gleichsam auch das freie Denken unter Bewachung steht, und wo man den eigenen Bürgern gegenüber jehe Schändlichkeit für erlaubt hält: da gibt eS auch keine moralischen Hemmungen im Verkehr mit fremden Staaten! So erntet daS offizielle Europa mit der Bespitzelung durch die russischen Spione nur, was es mit der Duldung der zarischen Greuel und mit der Sympathie für den blutbefleckten russischen Despotismus gesät hat. Brasilien . Unruhen. Rio de Janeiro , 6. März. Die politische L a(j e int Staate Rio deJaneiro droht einen revolutionäre ll Charakter anzunehmen: eine Versammlung im Militär- külb hat Anlaß zu regierungsfeindlichen Ku n d- gedungen geboten, bei welchen sich einige ehemalcge Offiziere kompromittiert haben. Dies ist der Anlaß für die Erklärung des Belagerungszustandes bis Ende März und die Verhaftung einiger besonders hervor- getretener Agitatoren: durch beide Maßregeln sollen die konservativ gerichteten Bevölkerungsschichten beruhigt und und soll ernsteren Zwischenfällen vorgebeugt werden. Jedoch erklärt die Regierung, sie werde mit größter Mäßigung handeln und nur die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung unentbehrlichen Maßregeln treffen. Armee und Marine sind durchaus zuverlässig. Letzte Nachrichten. Die Scheu vor dem Licht der Oefsentlichkeit. Rom , 6. März.(W. T. B.) Kammer. Im Verlause her Beratung über den Gesetzentwurf betreffend die A u s g a b e n s ü r Lydien wurde auf Vorschlag. Giolittis in namentlicher Abstiw- mung mit 239 gegen 41 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen die Tagesordnung De FeliceS und anderer Sozialisten abgelehnt. In dieser wurde die Regierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf betreffend die Ernennung einer Untersuchungskommission für die Ausgaben des Proviantdienstes und anderer Dienstzweige einzubringen._ Telephonverbindung Berlin — Frankfurt a. M.— Mailand . Frankfurt a, M.(W. T. B.) Heute mittag fand das erste telephonische Gespräch zwischen Frankfurt und Mailand statt; die Verständigung war sehr deutlich. Nach gelungenen Versuchen soll die telephonische Verbindung über Frankfurt bis Berlin verlängert werden. Gefängnis statt Brot und Obdach. New Jork , 6. März.(W. T. B.) Joseph Albers, der sich ynier der Arbeitermenge befand, die das Rechtauf Speisung und Unterbringung in den Kirchen beanspruchte und jüngst in eine katholische Kirche während des Gottesdienstes eindrang und großen Lärm verübte, ist zu 3 9 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Dies ist das erste Urteil, daS in dieser Angelegenheit ge- fällt worden ist. Noch an 299 Personen sehen ihrer?il>urteilung entgegen.
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