Morgenausgabe
Nr. 612
A 311
44. Jahrgang
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Mittwoch 28. Dezember 1927
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Neben den anderen Borkämpfern der Partei, mitten unter den Gräbern Wilhelm Liebknechts, Ignaz Auers, Paul Singers, Hugo Haases, Carl Legiens, Luise Ziez, Friz Zubeils und anderer ruht mun auch Hermann Molkenbuhr . Biele Tausende haben ihm gestern nachmittag das letzte Geleit gegeben. Eine dünne Schnee. decke lag auf dem weiten Zentralfriedhof, als noch im Sonnenschein des Maren Wintertages die Abteilungen der Partei mit ihren schwarz umflorten roten Bannern und die Kameradschaften des Reichsbanners mit den Fahnen der Republik heranrüdien. Der gesamte Parteivorstand, zahlreiche Mitglieder der Reichstagsfraktion, darunter der greife Eduard Bernstein , der Reichstagspräsident Paul Löbe und der preußische Ministerpräsident Otto Braun , Führer der freien Gewerkschaften, wie Leipart und Grab mann, und so ziemlich alle äuleren führenden Genossen der Berliner Parteibewegung. Scharten sich um die Hinterbliebenen. Unsere Bruderpartei in Deutschösterreich hatte den Genossen Abg. Ferdinand Skaret aus Wien entfendet, um auch bei diesem traurigen: Anlaß ihre unauflösliche Verbundenheit mit der reichss deutschen Partei zu befunden. Hunderte Kränze wurden nieder gelegt, non der Familie, der Partei, den Gewerkschaften und Genossenschaften, dem ,, Vorwärts", dem Reichsbanner, den früheren Wahlkreisen Molfenbuhrs und von Berliner Betrieben, wie Schwarzkopff u. v. a. m.
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Die große Anzahl der Trauergäste machte es unmöglich, die Feier in der Halle abzuhalten. So wurde der braune Holzlarg mit den roten und weißen Rosen vor der Halle aufgebahrt, auf berselben Stelle, wo wir vor vielen Jahren von Wilhelm, Liebinecht, nan Paul Singer, später von Carl Legien und so manchem anderen haben Abschied nehmen müssen
Ergreifend tönte der Trauerfang des Sängerdjores„ FichteGeorginia" über die große Gemeinde hin. Dann trot
an den Sorg und sprach:
Die untergehende Sonne wirft ihre legten Strahlen auf einen prächtigen Wintertag. Bald wird Nacht über der Erde liegen. So Strahlt das Licht der Liebe zu dir aus den Augen aller derer, die hierhergekommen sind, dir die letzte Ehre zu ermeisen, Freund Her mann Moltenbuhrt
Die Reihen der Alten lichten sich,
die einst die Fundamente zu der heute so mächtigen deutschen Arbeiterbewegung gelegt haben. Hermann Molfenbuhr war ihnen ollen in Treue und Freundschaft verbunden. Er ist gestorben wie er es sich immer gewünscht hat, ohne Siechtum, ohne lange Krankheit. Bis in seine letzten Tage hat er mit stärkster Anteilnahme alles verfolgt, was die Arbeiterbewegung und den aufsteigenden Sozialismus betrifft. Wenn auch unser leßter Barteitag in Kiel im Mai d. 3. feinem hohen Alter und feinem Ruhebedürfnis Rech. nung trug, indem er ihn aus dem Parteivorstand scheiden ließ, so hat er ihn doch gleichzeitig gebeten, ehrenamtlich mit uns noch zu wirken. Wir riefen ihm damals zu, daß es ja kein Abschied für immer sei,- wir ahnten nicht, daß er uns so baid entrissen werden wird.
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Und doch freuen wir uns, daß ihm erspart geblieben ist, was cr uns nach der letzten Sigung der Parteileitung, an der er noch teilgenommen, ängstlich ankündigte: daß er sein Augenlicht ver lieren und dann meiterleben müßte! Für ihn, dem Lesen von Jugend auf ein unentbehrliches Bedürfnis war, der an der Schönheit der Natur wie an den Schöpfungen der Kunst mit ganzem Sein Anteil nahm, wäre ein Weiterleben in ewiger Finsternis das Schlimmste gewefen.
Gedenken wir Hermann Molkenbuhrs, so steigen vor uns die Gestalten Bebels, Liebknechts, Singers auf. Damals, vor fünfzig Jahren, als unsere Bewegung noch flein war, da glaubte man sie noch ausrotten zu fönnen, indem man ihre Borkämpfer des Landes verwies und aus der Heimat vertrieb. Unter denen, die die Massen erweckten und die Arbeiterbewegung gründeten, war Hermann Molkenbuhr einer der ersten. Geboren in einer fleinen Stadt Holsteins als der Sohn eines Arbeiters, der in einer Zuckerfabrit färglichen Lohn erwarb, war Hermann Molkenbuhr schon als Ganz junger Mensch für alles Geiftige empfänglich. Ein Hamburger ,, Asmus Dichter hat in seinem besten Wert, dem Roman Sempers Jugendland" diesen jungen Bigarrenarbeiter in die Mitte seiner Dichtung gestellt, wie er unbeschadet aller Tagesnot fich zum Goethe- Kenner entwickelt und wie er feine fargen Groschen lieber für eine Theateraufführung eines Goetheschen Werkes ausgibt als für des Tages Notdurft. In seinem Kopf brennt das reinste Feuer, das die Kunst jemals entzündet hat, sagt Otto Ernst von Hermann Molkenbuhr . Und er schildert auch, wie fein Held sich in die politische Arbeit, in den Kampf für seine Klasse stürzt.
Die Kunst war Hermann Moltenbuhr das Herrlichste, fie war ihm etwas Festliches, das fein ganzes Leben umsponnen hat. So schillert Otto Ernst seinen Heinrich Moldenhuber".
Die Güte feines Herzens liebte die Kinder, in denen er umfere Zukunft fab, fie ließ ihn aber auch die Bismardiche Aus meifung mit einem Lächeln hinnehmen; wußte er boch, daß er anderswo ebenso gut für die Arbeiterbewegung fämpfen fönne, auch wenn er feine Heimat verlaffen mußte. Er war eine der feinfinnigsten Naturen, bie bie deutsche Arbeiterschaft jemals hervor. gebracht hat
Wir denken noch daran, wie er das Wesen der Kunst uns nahe. bringen fonnte und wie er z. B. den Leipziger Parteitag in das werden unserer Partei mit aus dem Schaffen Liszts und Wagners eingeführt und uns die Wunderwelt der Sinfonien Beethovens nahegebracht hat, als wir seinen Worten gebannt lauschten.
Seine besondere Sorgfalt hat er von dem Augenblick an, mo er in den Reichstag gewählt wurde, der
Arbeiterfürsorge und Arbeiterversicherung zugewendet. Seine Lebensarbeit ist unlöslich verknüpft mit der deutschen Sozialpolitik. Den Aermsten der Armen galt seine Tätig feit, als anerkannter Fachmann auf diesem Gebiet ist er auf den Parteitagen und Gewerkschaftskongressen Deutschlands , auf internationalen Kongreffen, in der Presse und im Parlament stets unter allgemeiner Beachtung aufgetreten und es gab nirgendwo jeman den, in feinem Lager, der Molkenbuhrs Autorität bestritten hätte. In seiner Person ist die Befreiung der Persönlichkeit durch den Sozialismus zur Wahrheit geworden, seine Hingabe für unsere großen Ideale ist für uns alle beispielgebend, als unser Vor. bild sehen wir Hermann Molfenbuhr an. Seine volfswirtschaft lichen Kenntnisse gereichten der ganzen Arbeiterbeweging zam höchsten Nugen und wie wußte er die trockenen Zahlen durch seine Menschenliebe zu beleben!
Der Parteivorstand beklagt in ihm seinen Senior. Sein Name verband uns noch stärfer mit denen, in deren Reihen er nun auch bald liegen wird. Seine Berdienste um die Bartei aufzuzählen, hieße die Geschichte der Partei schildern. Es gab teine Sorge der Arbeiterbewegung, gegen die fämpfend er nicht mitten unter uns gewesen wäre. Er hat an dem Einigungsprogramm van 1875 wie an dem neuen Einigungsprogramm von Heidelberg mitgewirft,
in ihm verförperte sich die deutiche Sozialdemokratie!! Nun ist er von uns gegangen. Und wir fönnen ihm nur Dant jagen im Namen der Bartet, der Gewerkschaften, der Genossenschaften, auch im Namen der Berliner Organisation, in der er fommunalpolitisch so erfolgreich gearbeitet hat, wir tönnen ihm quch nur Dank sagen im Namen des Reichsbanners Schwarz- RotGold, denn mit der Arbeiterbewegung beklagt auch die Repu blit in Hermann Mollenbuhr einen ihrer besten. Borfämpfer, ein Borbild für die Jugend. Das bist du, Hermann Molkenbuhr , und das bleibst du uns.
Und nun fentt euch, ihr roten Fahnen, denen er Jein Leben lang gefolgt ist und auch ihr, Fahnen der Repu= blit, über seinem Sarge! Um ihn trauern die Millionen Arbeiter, mit denen er gelitten und für die er gefämpft hat, ein ganzes langes Leben lang. Bewegten Herzens, aber entschlossen, dein Werk fortzuführen, nehmen wir Abschied von dir, Hermann Molkenbuhr !
Ich hatt' einen Kameraden, einen besseren find'st du nicht!" Nach dieser ergreifenden Rede stimmten die Sänger Ueber allen Wipfeln ist Ruh" an. Dann ertönte aus der Halle Beethovens Trauermarsch auf den Tod eines Helden, und mum wurde der Sarg durch das Spalier der roten und schwarzrotgoldenen Fahnen zur Gruft getragen. Die Tausende schritten hinterher, und als der Schrein hinabgesenkt wurde, ertönte der Kampfchor Tord Foleson". Jeder warf drei Hände voll Erde ins Grab hinunter und so nahmen wir Abschied von diesem Unvergeßlichen, der bis vor wenigen Tagen als ein lebendes Stück Heldengeschichte der deut schen Arbeiterbewegung noch leibhaftig unter uns gewandelt ist.
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Die Familie des Genossen Molkenbuhr bittet uns un Abdruck dieser Danksagung:
Zum Tode Hermann Moltenbuhrs find uns so zahlreiche Trauerfundgebungen übermittelt worden, daß es uns uns möglich erscheint, jedem einzelnen für die dem Verstorbenen zuteil gewordene tiefe Berehrung zu danken. Wir bitten deshalb, auf diesem Wege unseren innigen Dant entgegenzunehmen.
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Wenn man hüben und drüben wüßte, was Kapital in Wahrheit ist, was in Wahrheit Marr und die Kirche lehren, so wäre eine Verständigung leicht möglich, ja geboten. So aber führt man vielleicht noch lange einen Kampf auf Leben und Tod gegeneinander aus Unwissenheit und Mißverständnis.
Wilhelin Hohoff. fatholischer Pfarrer und Marg Forscher.
In der berühmten Streitschrift, die der junge Abgeordnete Auguft Bebel an den jungen Kaplan Hohoff ge= richtet hat, steht der scheinbar so flare und jedenfalls einprägfame Saß, daß Christentum und Sozialismus sich gegenüberstehen wie Feuer und Wasser. Wer weder vom Christentum noch vom Sozialismus etwas fennt, diesen Satz weiß und begreift er sicher. Er gehört zu den leicht ermerblichen Schlagmorten, die ihre zufriedenen Nachbeter von der Pflicht weiteren Nachdenkens entheben.
Hohoff und Bebel freilich blieben in der Gedankenwelt ihrer Jugend nicht ganz stehen.
3war blieb Pfarrer Hohoff immer gläubiger Katholik, aber nach jahrzehntelangem Marrstudium verglich er den Künder des missenschaftlichen Sozialismus mit Kopernikus , dem Entdecker des Systems der Welten.
3war blieb August Bebel immer philosophischer Materialift, radikaler Atheist, unbeugsamer Kirchenfeind, aber lischen Städten des Westens leidenschaftlich um die Seelen der wir hörten den greifen sozialistischen Propheten in den kathochriftlichen Arbeiter werben. Wir hörten, wie er seine perfönliche Religionslosigkeit unterschied von dem Willen der Partei zur Neutralität gegenüber religiösen Gewissensfragen, wie er, der Atheist, mit feurigen Worten die gleichzeitige Zugehörigkeit zur Kirche und zur Sozialdemokratie verteidigte. Auf diese These, die, wenn wir von dem Eingänger hohoff absehen, niemals von einem fatholischen Briefter öffentlich angenommen worden ist, war ein halbes Jahrhundert lang unsere sozialistische Werbung in den katholischen Gebieten abgestimmt, und sie ist es heute mehr denn je.
Die katholische Kirche gab und gibt sich die erdenklichste Mühe, dem Sozialismus die Kampffront aufzudrängen: ,, Hie Christentumhie Heidentum!" Wir vergarren in der Antwort: Nein! Hier kapitalismus und hie Arbeitsvolf! Und in unfere Front der Sozialisten gehören alle Ausgebeuteten, gehören Gläubige und Freidenker gemeinsam." Wenn die Sozialdemokratie viele hunderttausende Katholiken zu ihren Wählern und noch zur folgerichtigen Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bringen konnte, jo durch die Befreiung der sozialisti. schen Botschaft von religionsfeindlicher Propaganda. ja gerade durch das Wachrufen der mammonsfeindlichen Worte im Evangelium und bei den Kirchenvätern gegen die vielen den mammonistischen Zeitalter verfallenen Briefter.
Nach fünfzigjährigem Streit ist die katholische Kirche un erschüttert, aber sie hat das Heranwachsen der großen geistigen und organisatorischen Macht des Sozialismus nicht hinDern fönnen. Und diese ist, trotz allem Ableugnen, auf die katholische Geisteswelt nicht ohne Einfluß geblieben. Auch wenn wir anerkennen, daß die katholische Sozialethit bis auf Ketteler zurückgeht, fügen wir hinzu, daß die modernen fatholischen Sozialethifer ökonomische Maßstäbe und Er fenntnisse gewinnen, die ohne die marristische Kapitalkritik nicht möglich wären. Nicht aus überlegener Kraft, sondern aus Unsicherheit und ein wenig auch aus mangelndem Mut zur Wahrheit kommen die sonderbaren Verfuche, zu unterscheiden zwischen Kapitalismus und Mommonismus und mit der Verlegenheitswendung Solidarismus das solange als Teufelsmerk verlästerte Wort Sozialismus zu vermeiden. Nicht die weltumspannenden firchlichen Organisationen, die Menschen aller Raffen, aller Klaffen und der verschieden ften
Schiffstatastrophe im Marmarameer. nungsstufen in fich bergen, find- triſenhaft bewegt,
40 Menschen ertrunken.
Galata , 27. Dezember. ( Tul.) Im Marmarameer sind aus bisher noch unaufgeflärter Ursache zwei Dampfer zusammengeschauung und des sozialen Ausdrucs in den oberchristlichen stoßen. Der Dampfer Sewindsch" wurde so schwer beschädigt, daß er sant. Nach den bisherigen Feststellun sen sind etwa 70 Personen ertrunken. Die Schuld. frage ist im Augenblick noch ungeklärt.
PP
onftantinopel, 27. Dezember.
Der Schiffsunfall im Marmarameer stellt sich nach weiteren Nachrichten als eine ernfte& atastrophe dar. Der Dampfer Sewindsch", der 130 paffaglere an Bord hafte, fant in wenigen Minuten. Die Rettungsarbeiten wurden durch den dichten Nebel sehr erschwert. Man nimmt an, dah etwa 40 Menschen erfrunten find. Unifer den Bermißten befinden fich eine englische und eine Schweiger Lehrerin der amerikanischen Schule in Bruffa.
aber in Millionen proletarisierten Katholiken wühlen die Zweifel, ob ihre Kirche die harte ausbeuterische Gesellschaftsordnung des Kapitalismus dulden oder gar segnend schüzen dürfe. Alles, was an vorsichtigem Wandel der sozialen AnRundgebungen der jüngsten Jahren zu leben beginnt, fommt aus einer einzigen Ursache: aus den schweren seelt= schen Konflitten der katholischen Arbeiter und der christlichsten Briefter, die auf der ganzen Stala von religiöser Unruhe bis zum zornigen katholischen Revolutionismus den sozialen Ethos und die soziale Tat ihrer Kirche gegen den Kapitalismus verlangen.
Große Massen der katholischen Arbeiter, zahlreiche junge Intellektuelle, vereinzelte Briefter des fatholischen Broletariats führen aus fazialer Bedrängnis und aus gläubigem Gewissen politisch eine radital radikal sozialistische Sprache. während die Kirchenfürften hoch über dem Baten ben gottlolen" Sozialismus noch ver fluchen, brettet fich tief unten im tatholi. schen Kirchengebäude ein religiöser Sozio.