Lrispien spricht in Zehlendorf . Gn Appell an die Wähler. Gestern hat Zehlendorf. der vornehme westliche Vorort Berlins , sehen können, daß die Sozialdemokratie ans dem Vormars 6) ist: Im Restaurant„Üindenpark* fand eine Kund- gebung statt, die den Beweis lieferte, wie sehr die Zahl derer, die mit der Sozialdemokratie sympathisieren, im Wachsen ist. Di« Arbeit der Panei hat für sie geworben, das bewies der stürmische Beifall, der den Ausführungen des Redners folgte. Das Referat hatte der sozialdemokratische Abgeordnete Artur C r i s p i e n übernommen. Nach kurzen Begrüßungsworten durch den Vorsitzenden des Kreises begann der Redner mit einer ausführ- lichen Darlegung der polttischen und wirtschaftlichen Lage Deutsch - lands. Nach dem Zusanunenbruch der militärischen Führung im Weltkriege hat das Proletariat starken Einfluß auf die politische Gestaltung des neuen Deutschland genommen. In unermüdlicher Arbeit ist es der Sozialdemokratischen Partei gelungen, einen Teil ihrer Forderungen in der Weimarer Verfassung ver- ankert zu sehen. Wirtschaftspolitisch ist der Einfluß der Sozialdemokratie zu- nächst sehr gering gewesen. Erst nachdem die G e w e r k- s ch a f t e n noch der Inflation ihre Organisationen ausbauen konnten, gelang es, den Unternehmern wenigstens in einzelnen Berufs- gruppen Tarifverträge abzutrotzen. Erst in den' letzten Wochen haben die Unternehmer zu spüren bekommen, daß sich der Macht des Kapttals eine Macht der Millionen Arbeiter gegenüber- gestellt hat. In den letzten Iahren gelang es auch, in den Kom- munen die Privatindustrie auszuschalten. Die Industriekreise haben versucht, die kommunalen Einrichwngen an der Arbeit zu hin- d e r n, indem sie die Auslandsanleihen für den Wohnungs- bau unmöglich machten. Trotz Bürgerblock hat die Sozialdemo. kratie im letzten Jahr im Reichstag erfolgreiche Arbeit leisten können. In wochenlangem Kampf ist es ihr gelungen, Steuererleichterungen für die Minderbemittelten zu schaffen. Die Arbett der Sozialdemokratie kann um so erfolgreicher sein, je mehr das deutsche Volk Vertrauen zu dieser Arbeit hat und der Sozialdemokratie ihre Stimm« gibt. Die Ausführungen des Redners fanden die begeistert« Zustimmung der Versammlung. Ein„Graiisunterncht" oder: Wie komme ich zu billigem personal? Nicht« geht über einen findigen Befchäftsgeist. Wenn man aber, wie in diesem FM, ganz besonders schlau« Wege geht, dann kann man sich sogar dabei als Wohltat«! jener Menschen aufspielen, di« man gleichzeitig auf die unverschämteste Art seinen Zwecken dienstbar macht! Es handelt sich hier um einen„Gratisunterricht im Maschinenschreiben und sonstigen Kontorarbeiten", der in einem Wvhnungsnachwsis-Bureau vor sich gehen sallte. Alle Anwärter des kaufmännisches Berufes werden naturgemäß freudig solche günstig« Gelegenheit wahrnehmen wollen, obwohl sie sich mit einigem gesundem Verstand sagen müßten, daß man eigentlich soviel edles Menschentum nicht erwarten kann und die Sache also un- bedingt ein Häkchen hoben müßte. Diesmal ist es sogar ein aus- g cm a ch f e n« r ch a t e n. Die schlaue Frima beuüht nämlich die Vureaunovizen unler dem Titel de» llulerweisen» tu der Bureau- kötigkeil ganz einfach als unbezahlte» Personal. Don einer regulären Unterrichtsmethode ist natürlich keine Rede, man wird den Neu- linzen durch eingefuchste Kollegen— vielleicht aber übernimmt auch der Chef selbst die mühsame, dafür aber gewinilbringende Arbeit— zeigen, um was es sich handelt und wird die also geleistet« Arbeit sogleich der praktischen Verwendung zuführen. Das„philanthropische' Bureau erfreut sich ohnedies keines allzu rcgiii Betriebes, so daß es weiter nicht störend wirken wird. wenn auf der Schreibmaschine ein wenig gestottert, oder am Schreibtisch dies und jenes verbuttert würde. Di« Vorsteherin des Belrisbes, eine etwas martialisch wirkende Dame, verkündet« den zahlreich auftauchenden Reflektanten, daß die Stellen bereits befetzt wären. Auf nähere Auskünfte betreffs des„Unter- richtes" ließ sie sich wohlweislich erst gar nicht ein, sondern bedeutete einem bloß, in einige? Zeit wieder anzufragen.(Scheinbar er- hoffte sie sich kein« allzu lange Anwesenheit der Lernbegierigen.) Auf Bejrozcn nach der Stuirdeneinteilung des Unicrrichtes erwiderte sie:.Täglich von g bis b Uhr'. Diese Zeit, die natürlich mit der dort üblichen Vurcauzeit vollkommen übereinstimmt, bestätigt daz Mißtrauen. So kommt denn di« scheinbare Ersparnis an Geld für einen richtiggehenden, reellen und natürlich viel umfasienderen kaufmänmfchen Lehrkurslei ler nicht den Lernenden, sondern, und dies sogar in weit größerem Maßstab«, dem geschäftstüchtigen Pfeudo-Lehrer zugute. Gegen solch„wilde" Konkurrenz in des Wortes schlimmster Be- deutung müßten sich di« Lehranstalten mit aller Entschiedenheit verwahren. Die Bezeichnung derartiger Tätigkeit als Volontär. stell« mär« natürlich anständiger, wahrscheinlich aber lang« nicht so zugkräftig!
O rühret nicht daran!
.Aber Leon, Sie reißen ja den Kalender nicht ab.* „Der Herr Äaron haben es verboten. Herr Baron wünschen nicht, au das Näherkommen des Wahl« jermins erinnert w werden.*
Galsworthys erstes soziales Srama „Oer Zigarettenkasten" am Gchiffbauerdamm.
Ein guter Abend für das cherz, für den Kopf, für das Ge- wissen, besonders auch für das Theater, den Regisseur iiud die Schauspieler«ingesci�vssen. Grete Bäck spielt still, leidend, rüh- rend, empörend für Leute, die noch nicht fischblütig sind, Prole- tarienmttter, die den silbernen Zigarettenkasten gestohlen haben soll. Die Künstlerin trägt nicht aus, sie bückt sich bescheiden in ihrer
darum zu tun, daß die spitzbübischen, verlogenen Scheckbuchbesitze? moralisch gerädert und daß tmsere guten Absichten zur Welt- und Iustizverbesserung auf den Arbeitslosen, aus das ganze Armen- voll, auf das ganze Proletariat abgelenkt weisen. Galsworthy schrieb da kein Kinderspiel, sondern eine sehr ernsthafte Komödie, obwohl er grimmig lacht.
Die G-erichtsszene mit Grete Bäck und Ernst Karcliow.
Rolle und zieht die Wirkung aus der Zurückhaltung. Darum fei sie gelobt. Als Galsworthy fein erstes Stück dramatisierte, vor gerade fünfundzwanzig Iahren, lockte ihn noch nicht der grobe Kinoeftskt. Damals schrieb er eine sehr bissige, doch dramatisch erträglich« Satire auf den englischen Bürge chochmut. Der demokratische Parlamentarier ist so stttenftreng und prinzipienfest, daß er den Mann aus dem Dolle eher verrecken läßt, als ihm eine private Wohltat anzutun. Die Wohltat, die im geheimen geübt wird, soll nur dem eigenen Sohn zunutze kommen, der aber ein ziemlicher Nichtsnutz ist, sich nachts zu kleinen Barmädchen ins Bett legt und ihnen dann in der Besoffenheit die GAdbörse stiehlt. Dieser Diebstahl wich vertuscht. Traut sich aber der Arbeitslose sein« Hcmd einmal aus etwas zu legen, das ihm gar nicht gehört, das ihm nur der Zufall in den Weg wirft, dann marschiert sofort der Kriminal- polizist in die Proletarierstube. Sechs Monat« Gefängnis, donnert der Richter gegen den Arbeitslosen, und der Mann im Talar glaubt noch, er sei milde wie der süßeste Herrgott. Gewiß, Galsworthy korikiert, er stellt tieffchwarz gegen blühend weiß, doch er steht hinter serner These. Ihm ist wirklich
Di« Dalksbühnemiliale, die nun bald wieder an«nen anderen Herrn übergeht, bereitete ihren Frsunden einen freudevollen Abend. Unter den vielen, die absolut für den Plan des Dichters und des Regisseurs paßten, fei auch Ernst K a r ch o w genannt, der Schau- spieler des arbeitslosen Mannes. Was Karchow charakterisierte, war kein aufgedonnertes Proleten turn, auch keine gepredigte Ten- dcnz. das war wirtlich ein Mann aus dem Volke, der sich wohl manchmal besäuft, weil ihn die Sorgen zerguetfchen, der aber gern und aufopfernd für die drei Kinder eintritt, die feine schmerzliche Wollust in die Welt gesetzt hat. Reicheleutevilla und Armeleute- kämm er sind komrafttert. Die Schauspieler, die im Lilleirsalon'Tee und Portwein trinken und knusprige Nüsse knacken, wurden von Ernst Gronau , Ellen Widmann und Wolfgong St ä y. d t e gespielt, zweckmäßig und nicht übertrieben. Ueberhaupt, der Takt waltete über der ganzen Vorstellung. So geschah es, daß der Ein- druck tiefer ging als bei sonstigen theatralischen Veranstaltungen, die einem soziolpädagogischen Aufklärungszweck dienen. Zu ver- gessen ist auch nicht, daß Max M e y e r f e l d dieses Stück sehr au- ständig übersetzte. Max HochdorL
Konzert-�unösthau/ Von Klaus pringshcim.
Beethoven , als Begriff, bedeutet uns: höchste Offenbarung des musikalisch-schöpferifchen Genies: Earufo, als Begriff: Ideal mensch- lichen Singens, Ideal einer Stimm«, deren Geschenk, wie das Genie Beethovens, ein« sozusagen einmalig« Gnade gewesen ist. All unser Mühen um Musik strebt nach diesen, wie es scheint, gegensätzlichen Zielen: noch vollkommener Verwirklichung alles Musikschöpfe» lisch« n, und noch idealer Vollkommenhcll des Singens. Des Singcns durchaus: senn unser instrumentales Musizieren ist im Grunde ja nur Technisierung des Gesangs. Fortsetzung des Gesangs mit anderen Mitteln, gewissermaßen Ablösung der menschlichen Stimme durch Instrumente— so sicher, wie di« Stimme unser reinstes Musikinstrument, eben als das menschlich unmittelbarste. innner bleiben wird. Gegensätzliche Ziel«? Im Anfang aller Musik war der singende Mensch— der Mensch, der singend Leben betätigt, der singt, richtiger, aus dem es singt, wie es ihm ums Herz ist. Doch erst am End« einer Entwicklung, deren Ansänge in Sagenzeit reichen, am Ende eines Prozesses fortschreitender Vergeistigung, steht, als selbständige Erscheinung, der schöpferische Musiker. Durch ihn ist das Prinzip derArbeitsteilung gekommen, das, seit Jahrhunderten freilich, die Mustkwett beherrscht und den„siingenden", nämlich musizierenden Menschen zum Helfer und Ballender des schaffenden »nacht, zum abhängigen Diener am Werk, wie das Werk des Mittlers bedarf... Nicht immer, nur ausnahmsweise geht es um„Beethoven " oder um„Caruso". Aber, wie selten, sind wir in diesen Togen dem schöpferischen Genie Beethovens und dem Caruso-Jdeol nahe gewesen. Missa Solcmnis. Kein Werk Beethovens, keines vielleicht der gesamten Literatur ist auf das nachschaffend« Gerne seines Mittlers angewiesen wie die Missa solemnis. Aber Beethovens leide nschaftlich-retigiöfes Be- temttniswerl ist das künstlerische Evangelium Bruno Walters: so wird diese Ausführung in der Philharmonie da» stärkste, zugleich innerlichste Wusikerbekenntms, dos er, im höchsten und im tiefften Ginn ganz dem Werk dienend, der Welt zu geben hat. Der Ver- wirklichung seines Willens dient neben dem idealen Ärftrument de» Philharmonischen Orchesters«in vokaler Apparat, der schlechthin vollkommen zu nennen ist: nicht nur das Solistenquartett Berta Kiurina. Lula Mysz. Gmeiner, Karl Erb , Alexander Kipnis —, auch der Bruno Kittel'sche Chor, in der Tat nun ohne Vorbehalt, verdient so auszeichnend« Etikettierung. Und Bruno Walter , der einen erheblichen Teil feiner beispiellos fruchtbaren Lebensarbeit dem Oratorium, der großen Vokalmusik ge. widmet hat, meistert die fast unüberwindlichen Schwierigketten, die Beethoven 'den Stimmen zumutet, mit einer Unfehlbarkeit der säng«ischcn Einfühlung, die außer ihm keine? unter den repräsentativen Orchesterdirigenten diu: Gegenwart einzusetzen hat. Außerordentliche Kmrsterlednige soll«»cht ooch ihre» Rang,
überragende Leistungen nicht nach ihrem Grad miteinander verglichen werden. Aber, nach der Matthäuspassion (unter Furtwänzler) nun diese Miss» soletnnis, innerhalb weniger Wochen zwei geistliche Wonumentnlwerke, deren Aufführung als Geschehnis den mufikali- schen Alltag festlich unterbricht: solche Duplizität, die keine zufällig« sein kann, muß uns auffallen. Es ist eine Zeit des Ucberganges, in der wir leben,«ine Zeit der unausgeglichenen Gegensätze. Aeußerst« Irreligiosität des Tages und der Oberfläche findet, schlogwortmäßig, im Jazz sinnfälligen Ausdruck: doch stärker als in Zeiten weltanschau- licher Stetigkeit drängt heute aus der Tief«, jenseits aller kqnsessio- nellen Bindung, religiöses Gefühl danach, künstlerisch erfaßt zu werden. Dies« Feststellung wird zur Mahnung, den eingeschlagenen Weg nicht wiedcr zu verlassen: auf ihm liegen, für die nächste Zukunft, di« zentralen Ereignisse des Musiklebens. Llm Carusos Nachfolge. Caruso W>t in der Erinnerung, lebt in Schallplatten, lebt als Begriff. Um seine Nachfolge auf dem internationalen Markt ringen Gigii und Klepura— richtiger vielleicht: ihre Anhänger und Zeitungs- apostel besorgen es für si«. Alfred Piccaver , der Amerikaner, hat so amerikanische Methoden, sich in Szene setzen zu lassen, immer verschmäht. Sein Tenor aber, einst von Angela Neumnnn als Verheißung entdeckt, ist wohl di« schönste, edelste, Caruso-nächste Stimme. die es heute zu hören gibt: in deutschen wid italienischen Opernarieu, einen Abend lang, läßt er sie ungehemmt und. ohne viel Aufhebens zu machen, mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, zuverlässigen Ebenmäßigkeit strömen, mit der di« wahrhaft ungemochte Ratür- lichkeit seines Auftretens harmonisch zusammenklingt. Kein Virtuos« der vorgetäuschten Hingerissenheit, aber ein Mensch von gewinnender Herzlichkeit— frei von Pose und tenoralen Allüren. Oirigenten-Hoffimug. Dem Werk will Rudolf Gerhard Schwarz dienen, dem Werk Bruckners, dessen Mnst« Symphonie er an das Ende eines über- langen Konzertprogrammes gefetzt hat. Er bringt aus Wien das Biß) einer durchdachten Auffassung, und dies Bild, nicht immer überzeugend, doch festgefügt, wird durch ihn in der Philharmonie lebendig. Am Maßstob dessen, was hier Norm ist, darf seine Dirigentenleistung freilich nicht gemessen werden. Ein noch Unfertiger vielleicht, ein Hoffender. Nach Horenstein, nach Unger läßt auch er uns fragen: wann. wo. wie erlernt der heutige Konzertdirigent sein Handwert? Er kann nicht, wie der Sänger oder Instrumentalist, zu Hause„üben". Sein Instrument ist dos Orchester; das hat er nicht in seinem Arbeitszimmer stehen. Man kann als fertiger Caruso die Welt llberroschen: der Dirigent lernt in aller Lesfentlichkeit. Aber » braucht ja«cht gerode die Berlin « Oejfetilichlcit zu sein.