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Beilage

Sonnabend, 7. April 1928

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Sozialismus im ,, Heiligen Land".

Nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesamtheit!

Destlich der Bucht von Haifa   zieht sich eine weite fruchtbare Fläche, die Ebene Jesreel  . Moch vor sieben Jahren war dieser Strich nur spärlich bevölkert durch ein paar arabische Bauern und mandernde Beduinenstämme, die ihre Herden hier weideten. Die Sümpfe, die sich im Laufe von Jahrhunderten durch Vernachlässigung gebildet hatten, verseuchten Menschen und Vieh mit Malaria. Heute hat sich dieser Landstrich durch die Arbeit der jüdischen Kolonisten vollkommen geändert. Die Sümpfe sind drainiert, die Malaria ist start zurückgedrängt, Bäume und Weingärten find gepflanzt, Ställe und Häuser gebaut worden. Durch die früher kaum vom Verkehr

Im Kindergarten der Siedlung Hissin. berührte Ebene ziehen sich moderne, viel befahrene Autostraßen. Aber nicht nur die wirtschaftliche Revolution und Evolution ist es, die diesen Landstrich heute kennzeichnet, sondern vor allem die soziale. Der Kranz von modernen landwirtschaftlichen Siedlungen, der hie: durch die jüdische Kolonisation entstanden ist, war nicht das Produkt üblicher fapitalistischer Wirtschaftsmethoden, ist nicht entstanden aus dem Bedürfnis nach Profit. Und so gibt es in diesen Siedlungen feinen Unternehmer. Sie bilden gewissermaßen eine sozialistische Insel.

Wenn man in eine dieser Siedlungen hineinkommt, so mertt man sehr bald, daß man die üblichen Begriffe der Wirtschaft hier nicht anwenden kann. Aeußerlich macht ein solcher Betrieb den Eindruck eines großen Gutes. Ein umfangreicher Wirtschaftshof, ausgedehnte Stallungen und ein oder mehrere große Wohnhäuser. Dazu, meist für ein paar solcher Kolonien zusammen, Kindergarten und Schule. Aber wenn man näher zusieht und der Art des Betriebes und der Menschen genauere Aufmerksamkeit zuwendet, so erkennt man, daß man in eine neue Lebensform hineinschaut, vielleicht in einen Vor­läufer des einundzwanzigften Jahrhunderts. Denn hier gibtes feinen Besizer. Der Boden gehört dem Bodenfonds der zio­ nistischen   Organisation( jüdischer Nationalfonds), er darf nicht ver­tauft, sondern nur in Erbpacht an einzelne oder an Genossenschaften vergeben werden. Die Bauten und das Inventar, die durch Kredite des Kolonisationsfonds der zionistischen   Organisation( Reren Hajesfod) eingerichtet wurden, gehören nicht dem einzelnen, sondern der Sied­lungsgruppe, die das Stück Boden gemeinsam bearbeitet. Leitung des Betriebes, also die Arbeitsverteilung, wird von einem Ausschuß geleitet, der von allen Mitgliedern der landwirt schaftlichen Genossenschaft( im Lande Kwuzah genannt) gewählt wird. Die Kwuzah, die Genossenschaft, ist also zugleich Unternehmer und Arbeiter. Es wird gemeinsam produziert, aber auch gemeinsam konsumiert, das Leben wickelt sich ab mie in einer großen Familie. Die Entstehung dieser landwirtschaftlichen Genossenschaften ist zu verstehen aus den besonderen Bedingungen, unter denen die Kolonisation der jüdischen Arbeiter in Palästina vor sich ging, und aus der besonderen Art dieser Siedler. Als man mit der jüdischen Siedlungstätigkeit begann und als man sie nach der Uebernahme

Die

Ein Wohnhaus in der Siedlung Kfar Jechesket. des Palästinamandats durch die Engländer in größerem Maße fort fette, mußte man den jüdischen Landarbeiter erst schaffen. Die den, durch Jahrhunderte hindurch in allen Ländern auf wenige Berufe beschränft( vor allem auf akademische und taufinännische), mußten erst ,, umschichten", sich auf die Landarbeit umstellen. Sie merkten bald, daß es sehr viel leichter sei, diesen schweren Weg ge­meinsam zu gehen, und so lernten sie es, sich in Gruppen zusammen zuschließen, sich gegenseitig zu helfen und zu stützen. Außerdem lag der Gedanke nahe, in einem neuen Lande, unter neuen Bedingungen von vornherein anders zu wirtschaften, die Fehler der fapitalistischen Enfteme zu vermeiden und zu umgehen. Erleichtert wurden diese Bestrebungen dadurch, daß die Kolonisation aus nationalen Mitteln finanziert wurde und auf natio nolem Boden vor sich ging.

Für die Siedler, eiren sozial besonders interessierten und intelli­genfen Menschenschlag, war es nur ein fleiner Weg von den losen Gruppen, die sich zuerst gebildet hatten, zu sozialistischen Be­

triebsformen. Man hatte damit begonnen, noch zur Zeit, als die ersten jüdischen Einwanderer bei privaten Kolonisten als Lohn arbeiter beschäftigt waren, in Gruppen zusammen zu wirtschaften, weil dadurch der Existenzkampf erleichtert wurde. Dann wurde vor fiebzehn Jahren der erste Versuch gemacht zur lebernahme eines landwirtschaftlichen Betriebes durch eine solche Arbeitergruppe. Das war die Gründung der ersten zionistisch sozialistischen Kolonie, Daganiah, die das Vorbild geworden ist für eine erhebliche Anzahl folcher Siedlungen.

Es hat sich im Laufe der jahrelangen Versuche herausgestellt, daß diese eine Form der Siedlung, wo nicht nur gemeinsam ge­arbeitet, sondern auch gemeinsam gelebt wird( es wird in einer ge­meinsamen Küche gefocht, im gemeinsamen Speisesaal gegessen, die Felder werden gemeinsam bestellt) nicht für alle Arten von Menschen geeignet ist. So hat sich eine zweite sozialistische Sied= lungsform herausgebildet, der Mosehaw, in der ebenfalls der Boden nur in Erbpacht vergeben und Einkauf sowie Verkauf ge= nossenschaftlich geregelt ist. Aber jeder Siedler bekommt ein gleiches Maß an Land zugewiesen, er führt seinen eigenen Betrieb und seine eigene Wirtschaft. Lohnarbeit ist auch hier nicht ge= stattet und das Bodenmaß so berechnet, daß der Siedler sein Areal mit seiner Familie bearbeiten kann. Aber um zu verhindern, daß der Kolonist durch Unglücksfälle in Schwierigkeiten kommt, besteht in jeder Kolonie eine Institution der gegenseitigen Hilfe", die mit Geld, Vieh oder Arbeitskräften den einzelnen Siedler beispringt, wo es nötig ist. Damit ist der einzelne sich selbst nicht mehr hilflos über­lassen, sondern er hat hinter sich die Kraft und Macht der Ge= meinschaft, die ihn trägt. Ein besonders wichtiges Rapitel im Aufbau diefer Kolonien ist die gemeinsame Rindererziehung und Fürsorge, die aber hier nicht behandelt werden kann, weil sie allein für sich einen Artikel beanspruchen würde.

Man weiß in Palästina recht gut, daß unter anderen Berhält niffen, wo z. B. eine ausgebaute fapitalistische Wirtschaft besteht, selche Siedlungen auf viel größere Schwierigkeiten stoßen würden. Aber nicht die besonderen Bedingungen find in Balästina entschei­dend, sondern die besonderen Menschen. Es gibt wahrscheinlich auf der ganzen Welt nirgends solche Menschengruppen wie die aus diesen Kolonien. Es ist eine Auslese, die getragen ist von zwei großen Ideen. Einmal von dem Gedanken der Rückkehr der Juden in ihr Land und zu einem normalen Leben der produktiven Arbeit, und außerdem von der sozialistischen   Idee, die sie dazu treibt,

neue Lebens- und Wirtschaftsformen zu schaffen und sie immer mehr zu entwickeln und zu vervollkommnen. Das Schicksal des einzelnen bedeutet hier wenig oder nichts, das Schicksal der Kolonie und darüber hinaus der Gemeinschaft alles.

Es ist möglich oder sogar wahrscheinlich, daß in der Frage der Form der sozialistischen landwirtschaftlichen Siedlung in Palästina noch viele Aenderungen eintreten werden, wie bei jeder lebendigen Schöpfung. Schon heute ist aber dieser Versuch, der in seiner Art

an eine

Landarbeiter bei Eu Charoel.

einzigartig ist, bedeutsam für den internationalen Sozialismus. Denn hier wird auf Neuland und von Menschen, die ihre neue nationale Wirtschaft beffer, aufbauen wollen als bisher, der sozialistische Ge­danke in eine neue Form gegossen. Hier wird versucht, von Anbeginn neue Lebensform ohne Ausbeuter und Ausgebeutete" organisch aufzubauen. So ist Palästina heute nicht nur die Versuchs­station des jüdischen Volkes, das hier beweisen will, daß es zu einer Wiedergeburt und gesunden Existenz fähig ist, sondern auch eine der vielen Versuchsstationen des internationalen Sozialismus, der sich heute in den verschiedenen Ländern verschiedene Wege zur Ver­wirklichung sucht. Gerda Arlosonoff- Goldberg.

Fünfzehn Schneider rüsten sich.

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Die Lossprechung" der Lehrlinge.

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Die Courage der Schneider, von der schon alte Sagen zu er­zählen wissen, will sich bei unseren Prüflingen noch nicht so recht zeigen. Nur einer, der längste von der Schar, mit einem blonden Haarschopf und mit tapfenden, schlenkernden Bewegungen der langen Arme, steht frant und fühn vor den Schranken der strengen Prü­fungsfommission. Seine braunen Augen blitzen die Meister an: nun tommt nur an mich heran, wenn ihr was wolit. Man kann ihm prophezeien, daß dieses tapfere Schneiderlein hinausziehen und sich ein Schneider- Reich" erobern wird. Die anderen 14 Prüflinge haben mehr oder weniger mit einem biologischen Vergleich ge­sprochen die Eierschalen an ihrem unflüggen Gefieder hängen, sind noch piepsende Rücken und sollen doch nun hinaus ins Leben treten, sollen versuchen, ihr Brot nach eigenem Gusto zu finden. Die Dinge liegen nicht so einfach. Wenn man auch versucht ist, das ganze Innungswesen als eine alte überlebte, mehr hemmende Form von Handwerksüberlieferung zu betrachten, die die Arbeitnehmer in den Gewerken schon längst durch ihre eigene fraftvoll sich aus wirkende Organisation- ihre Gewertschaftsorganisation ersetzt haben, so muß man doch zugeben, daß die Innung als solche be­strebt ist, für guten Nachwuchs im Hardwert zu sorgen. Unzuver­lässige Meister erhalten feine Lehrlinge zugewiesen. Immer halb­jährlich werden von Innungsmitgliedern die Lehrwerkstätten fon­trolliert. In einem festlichen Akt werden die jungen Leute nach altem Zunftgebrauch vom Obermeister feierlich losgesprochen. Vorher aber müssen sie in einer praktischen und theoretischen Prüfung beweisen, daß sie etwas Tüchtiges gelernt haben. Die Sorge der Meister spricht bei dieser Uebung mehr als der traditio­nelle Zwang, daß ein geschickter Stamm von Arbeitern heranwächſt; ein Nichtskönner vermag der gesteigerten Anforderungen nicht gerecht 31 werden und schädigt das Gewerbe.

Die Prüfungsfommission

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besteht aus dem Obermeister, dem Schriftführer, einem Prüfungs­meister und einem Altgesellen, lezterer als Vertreter der Gesellen schaft. Jeder der Prüflinge hat ein Arbeitsstück abge­liefert, einen Anzug oder Paletot, dessen Anfertigung nach eides stattlicher Versicherung des Meisters und des jungen Gesellen, der Lehrling selbst hergestellt hat. Nur beim Zuschneiden des Stoffes und beim Fassonschneiden hat der Meister geholfen. Während der und beim Fassonschneiden hat der Meister geholfen. Während der Herstellung des Gesellenstücks hat ein dazu bestellter Meister die Werkstätten darauf hin kontrolliert, daß die Arbeit auch wirklich Die ohne Mithilfe Dritter von dem Lehrling ausgeführt wurde. Lehrlinge sind zu dreien, müssen nunmehr vor den Tisch des Prüfungsmeisters treten, der sie streng herannimmt, und dem sie er­zählen müssen, wie ein Jackett, eine Wefte oder Hose von ihren ersten Anfängen an entsteht. Wenn die jungen Leute auch, start befangen unter strengen Bliden, meist nicht den forretten Hergang der Arbeit zu schildern wissen, so versteht es der Prüfende doch, durch geschicktes Hin- und Herfragen das Resultat aus ihnen herauszuholen, ob die Jungen bei ihrer dreijährigen Arbeit den Arbeitsvorgang begriffen haben. Bei einigen stellt sich freilich heraus, daß sie einseitig vom Meister beschäftigt oder gelinde gesagt ,, ausgenügt" wurden, da haben manche nur Jadeits gemacht und umgelehrt

andere nur Hofen. Diese Einseitigkeit wird den, Lehrlingen noch viele bittere Stunden in ihrem Fortkommen bereiten. ,, Wie bringt man das Futter in den Rod, wenn der Meister der ersten Teil zugeschnitten hat?" lautet eine verfängliche Frage. Fast wird man an Eulenspiegel erinnert, der eine ganze Nacht die Aermel an eine Jade warf", so widerfinnig entfeßlich sind die Schneiderfachaus drücke, eine wirkliche Geheimsprache.

,, Ich klopfe die Teile und verschneide sie beide!" lautet eine

Antwort.

"

,, Wie heften Sie einen Kragen auf? Wie schieben Sie die Achsel an, warum halten Sie die Schulter lose?"

Nein, man muß schon selbst Schneider sein, um diese Geheimnisse zu verstehen. Jedenfalls versteht man das eine aus der Prüfung, daß ein richtiges Schneidern eine Kunst ist und zu einem künstlerischen Handwerk erhoben werden kann wie jeder andere Beruf. Ein

Gimpenloch" ist das obere Knopfloch am Jackett ,,, knappe" Löcher sind die anderen Knopflöcher. Aber man sehe sich einmal ein solches jauber genähtes Knopfloch durch die Lupe an, welcher kunstvolle Nadelstich dazu gehört, Schlinge an Schlinge sauber umzulegen. Einen der letzten Prüflinge fragt der Meister: Wie machen Sie eine Hose?" ,, Ne Hose?" ist die Antwort, der Rest ist Schweigen.

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Die theoretische Prüfung

sollte der Direktor der Berufsschule abhalten, leider ist er nicht er­schienen. So prüft der sehr geduldige und gutmütige Obermeister die werdenden Gesellen in ihrem Allgemeinwissen. Hier ist durchweg ein Versagen fast bei allen Prüflingen. Man schüttelt den Kopf, wie aufgeweckte Berliner   Jungen über die einfachsten Grundfragen des Lebens nicht Bescheid wissen. Die Berufsschule hat per jagt. Die eine Partei hat in der Schule nichts von Gewerbe­ordnung" und die das Handwerk betreffenden Bestimmungen gelehrt bekommen und dafür nur Buchführung, die andere Part wieder um­gefehrt. Viele versagen in den Fragen nach den Rohstoffen, andere fönnen nicht rechnen. Der Obermeister fragt schon ungeduldig, was fie die drei Jahre getrieben haben. So wächst seine Prüfung mehr zu einer Unterrichtsstunde aus, um ihnen noch schnell das wichtigste

Der

beizubringen. Ganz erbost aber wird er, wie er den einen Prüfling nach dem Stundenlohn fragt, den er fünftig erhalten wird. Junge jagt mit dem Eindrud allzutiefster Bescheidenheit: ich werde von meinem ersten Meister 50 Pf. Stundenlohn verlangen. Der Obermeister gerät in Harnisch: Also so billig willst du dich ver­laufen? Es ist doch nicht zu glauben! Hast du noch nichts von Tarifen gehört, die zwischen Meistern und Gesellen vereinbart werden?

Die Lossprechung als Lehrling bedeutet für die 15 jungen Menschen sicherlich ein großes Glück, denn Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Und fönnte man um sie bangen, um diese Jugend, die über die wichtigsten Dinge im Leben nicht Bescheid weiß, die noch nicht einmal ihren ersten Gcjellenlohn ausgerechnet hat, die so gleich­gültig das Künftige an sich herantreten läßt. Man bangt um viele von ihnen, daß sie nun dem großen Elend der Arbeit verfallen, sa F. N. unausgerüftet, wie sie hinausgeschickt werden,