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Beilage

Montag, 16. April 1928

Selinen

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Die Thorner Unsicher

VANY. MOV

in ungeführtes Kulturverbrechen des 18. Jahrhunderts

Wahrhafter und eigentlicher Berlauf des in Thorn   bey dem Jesuitenkloster No. 1724. Mens. Julii entstandenen Tumults" be­titelt sich eine Schrift, die 1751 anonym in Liegnitz   erschien. Sie bildet die Ergänzung oder den Anhang an eine Reiseschilderung eines aus Steinau   gebürtigen Bürgers mit Namen Kettner, aus dessen Wanderjahren als Weißgerbergeselle.

Kettner tam zweimal nach Thorn, zuletzt hat er dort drei Viertel Jahre gearbeitet. Dem furchtbaren Begebnis, das hier geschildert werden soll, hatte er als Augenzeuge beigewohnt und man wird ihm menschlich nachfühlen können, daß der Borfall ihn dann zeit­lebens nicht losgelassen hat, so daß er sich erst in späteren Jahren die Mühe gab, ehrlich und gerecht die Dinge zu schildern, wie er sie gesehen hatte.

Das Scapulierfest.

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Die eigentliche Veranlassung zu dem Lärm gab das katholische Scapulierfest, das den 16. Juli 1724 auf einen Sonntag traf. Die Ratholifen in Thorn, die in der Minderzahl waren Rat, Ver­waltung und die freien Berufsstände waren evangelisch hatten die Erlaubnis, zweimal im Jahre eine öffentliche Prozession zu ver­anstalten. Immer waren diese Prozessionen der Anlaß zu Reibereien. Bürger und Kaufleute hielten sich daheim hinter verschlossenen Türen auf, um dem in die Stadt strömenden polnischen Landvolk unter Führung ihrer Edelleute keinen Anlaß zu Konflikten zu geben. Die Ratholiten veranstalteten beim Nonnenfloster innerhalb des Friedhofes eine Prozession. Evangelische Bürgerfinder standen in den Türen und sahen dem Treiben zu. Sie hatten ihre Müzen auf dem Kopf behalten, und nun fam ein katholischer Student und schlug sie ihnen herunter. Das sah ein Kaufmann, der sich mit den Worten hineinmischte: Was schlägst du die unschuldigen Kinder, die wissen viel von eurer Narredei!" Die Folge war, daß der Kaufmann von den Katholiken tüchtig verprügelt wurde. Einige Handwerker hatten den Vorfall gesehen und sprangen dem Kauf­mann zu Hilfe. Es entwickelte sich eine Schlägerei und die Stadt­wache nahm einen von den katholischen Studenten fest. Der Bürger­meister der Stadt weigerte sich, den aufgeregten Katholiken den Ge­fangenen am Sonntag frei zu geben, sie sollten am Montag wieder tommen. Racheschnaubend versuchten die Studenten des katholischen Seminars den nächsten Montag darauf die Hauptwache zu stürmen, fie wurden aber von den Wachmannschaften abgewiesen. Die Hand­wertergesellen in der Stadt, die Montags ihren freien Ausgang hatten( blauer Montag), dämpften die weitere Angriffsluft der Katholiken, die es gern zu einem offenen Austrag ihres seit zwei Jahrhunderten vom Klerus genährten Hasses wollten kommen lassen. Bis auf das Seminar und die Klöster besaßen die Katholiken in Thorn feinen festen Halt, sogar die Hauptkirche befand sich in evangelischen Händen. Da diese aber einmal katholisch gewesen war, so ging der Streit um diesen sichtbaren Punkt. Die Bürger mußten Tag und Nacht auf der Lauer sein, damit die Katholischen sich nicht der Kirche bemächtigten. Auch das evangelische Seminar, das von der preußischen Regierung unterstüßt wurde, war aus politischen und tirchlichen Gründen ein Stein des Anstoßes.

Der verprügelte Student.

Im Berlauf dieses unruhigen Montags verfielen die Katholischen auf den Gedanken, die Lösung ihres Studenten durch einen Gegen­Streich zu erzwingen, indem sie einen Evangelischen festfeßten. Sie fanden diefes Opfer in der Person eines harmlosen theologischen Studenten, der im Schlafrod vor seiner Tür faß und gemütlich seine Pfeife rauchte. Den schleppten sie halbtot geprügelt in das Jesuiten­follegium, verprügelten ihn hier nochmals und bliesen dann im Gefühl ihres Sieges Bittoria" mit Baufen und Trompeten zum Fenster hinaus.

Die Bemühungen des Stadtoberhauptes, diesen ungefeßlichen Aftus auszugleichen, indem er den katholischen Studenten freizu­lafsen versprach, führten zu feinem Erfolg. Bulegt fagte er zu den Abordnungen, die bei ihm erschienen waren: Kinder, ich fann euch nicht helfen, seht selbst zu, wie ihr ihn mit Manier heraus betommt!" Das ließen sich die Thorner Handwerksmeister und Gesellen nicht zmeimal fagen. Es entwidelte fich also ein richtiger Sturm auf bas Jesuitenseminar, bei dem es auf beiden Seiten blutige Köpfe setzte. Bulegt aber siegten doch die Bürger und gelangten in das Klofter hinein. Sie fanden ihren Gefangenen nicht, den die Geistlichen schon pocher durch eine Hinterpforte hinausgelaffen hatten. Die ganze

vorzubereiten. Der ganze Verlauf des Prozesses zeigte auf, wie man bestrebt war, die Stadt in ihren freien Rechten zu treffen, und sie zu einem gutpolnischen Objekt zu machen.

Stadt befand sich im Aufruhr, die Stadtmilig war aufgeboten worden, I fommission drei Viertel Jahre hindurch zu tun, um den Prozeß die Tore der Vorstädte wurden verriegelt, damit fein polnischer Zu­zug von auswärts hinein gelangen fonnte. Große Volkshaufen be­lagerten die katholischen Gebäude. Nun soll ein Schuß aus dem Kloster auf die Menge abgegeben worden sein, was die Menge ver­anlaßte, zum zweiten Male das Gebäude zu stürmen. Alles, was nicht niet. und nagelfest war, warf der empörte Boltshaufen aus den Fenstern heraus; die Geistlichen waren geflüchtet.

Das Strafgericht.

Am anderen Morgen gingen aus Thorn, das damals zu Bolen gehörte, zwei Stafetten nach Warschau  , eine des Magistrats und eine von den Ratholischen. Jede war wahrscheinlich so gehalten, daß die ganze Schuld der Gegenpartei zugeschoben wurde; nur enthielt außerdem noch die katholische die furchtbare Anklage, die Volks­menge hätte unter Billigung und mit Unterstützung des Magistrats Schändungen an Heiligenbildern verübt, diese zerschlagen und gar

verbrannt.

Es vollzog sich nun, an diesen läppischen Borfall anknüpfend, eine furchtbare Justiz an der Stadt. Sie darf mit Recht als eine der größten Kulturschanden der neueren Zeit ange­sprochen werden. Sechs Regimenter der polnischen Kronarmee wurden in die Stadt verlegt, die Bürgerschaft war den schlimmsten Repreffalien ausgesetzt. Von der katholischen Geistlichkeit wurde der stärkste Gewissenszwang auf die Bürger, besonders auf die Ange­flagten, ausgeübt. Wer seinen Glauben abschwur, tam von der Anklage der Beteiligung an dem Tumult los. Ein hochnotpeinliches Gericht, gebildet aus den polnischen Landständen, hatte die beklagten Evangelischen abzuurteilen. Jedoch vorher hatte die Gerichts­

Beinahe führte dieser Streit, der die Anteilnahme sämtlicher europäischer Länder erregte, zu friegerischen Konflikten. Friedrich Wilhelm II.   von Preußen versuchte vergebens zugunsten der Ber­urteilten zu interpellieren, er wandte sich an die Könige von Eng land, Dänemart, Schweden  , an den russischen Zaren, auch an den Rönig von Polen   selbst, um die Verurteilten zu retten. Niemand stand ihn bei, vielleicht war die preußische Absicht zu durchsichtig, daß mehr politische als menschliche Motive die Triebfeder waren.

Am 7. Dezember 1724 vollzog das Blutgericht seinen Auftrag. Sieben evangelische Handwerfer und Raufleute, die bis zu ihrem Tode die Beteiligung an dem Krawall bestritten, wurden unter grausamen Torturen öffentlich hingerichtet. Das erste Opfer war das Oberhaupt der Stadt. Zuerst wurden den Armen die Hände abgehackt, dann erst fiel der Kopf. Ersparen wir uns die widerlichen und graufigen Beschreibungen dieses Mordens, dem ganz gewiß Unschuldige zum Opfer fielen. Denn die wirklichen Beteiligten hatten ja meist vorher ihren Glauben abgeschworen, um sich zu retten. Auch tam es den Katholiken ja nicht darauf an, eine Sühne für angeblich an ihnen verübte Berbrechen zu finden, als vielmehr, durch dieses Gerichtsverfahren ihre Macht in der Stadt aufzurichten. Unter den Opfern war auch der Meister unseres Gewährsmannes, der Gerber Christoph härteln. Kettner hat bei dessen Witwe noch einige Wochen gearbeitet, um die noch unbereiteten Felle zu verarbeiten. Er ist dann heimlich aus der unruhigen Stadt ent­wichen.

Bier Millionen Aussäßige.

zu befreien durch ein neues Heilmittel, das unbedingt wirksam sein soll, das Del des Hydnocarpus- Baumes, das aus den getrockneten Früchten dieses Baumes gewonnen wird.

Ueber das Vorkommen des Aussages, dieser einstmals furcht-| innerhalb einer Generation von ihrem entsetzlichen Leiden baren Geißel des Menschengeschlechts, liegen aus Aegypten  , China  und Indien   Nachrichten vor, die bis zum Jahre 2000 v. Chr. zurüd reichen. In Europa   scheint dagegen eine stärkere Ausbreitung dieser Seuche erst um die Mitte des ersten Jahrhunderts unserer Zeit­rechnung erfolgt zu sein, jebenfalls sind erst aus dem 7. Jahrhundert etwa Maßnahmen bekannt, die der Zunahme der Krankheit steuern sollten. Die größte Ausbreitung erreichte die Lepra aber erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts, von welcher Zeit ab sie durch mehrere Jahrhundert die europäische Menschheit heimsuchte.

Ueberall, selbst in den kleinsten Orten, wurden Lepraheime errichtet, in denen die Kranten eingesperrt, ausgesetzt" wurden, ein eigener Orden wurde zur Pflege der Aussäßigen begründet, der Orden des Heiligen Lazarus, an dessen Tätigkeit der Name

Lazarett" auch heute noch erinnert; die strengsten und grausamsten Gesetze wurden erlassen, um die Berührung der Gesunden mit den vom Aussatz Befallenen zu verhüten.

Diese harten Maßnahmen erwiesen sich aber durch den Erfolg als gerechtfertigt: Abnahme, ja Erlöschen der Krankheit in den meisten Teilen Europas   im 16. Jahrhundert geht wohl in erster Linie auf jene rigorosen Bestimmungen zurüd. Aus Deutschlands  Grenzen ist die Lepra zurzeit völlig verbannt, seit der einzige Lepra­herd, das Memelland  , vom Reiche abgetrennt ist. Dort hatte vor dem Kriege die preußische Regierung ein Lepraheim errichtet, um die Kranten zu isolieren.

Ganz anders liegen die Verhältnisse im Orient. Nach Mit­teilung englischer Blätter soll es zurzeit noch 4 Millionen Aus= sägige geben, wovon eine Million auf Britisch- Indien, 150 000 auf Britisch- Ostafrita entfallen. Diese hofft die englische Regiemmeg

Dieses neue Heilmittel soll das bisher auch mit einem gewissen: Erfolg benutzte Mittel, das Chaulnugra- Del, an Wirksamkeit weit übertreffen, da man letzteres wegen seiner großen Giftigkeit nicht in ausreichenden Dosen verabfolgen kann. Dr. Lily Herzberg.

Schutz dem Menschen!

Ein Lehrbuch praktischer Wohlfahrtspflege.

In einer Zeit, die erfüllt ist mit dem Unternehmergeschrei über angeblich untragbare sozialpolitis he Lasten, ist es doppel: notwendig, den Zusammenhang zwischen Mensch und Wirtschaft in den Vordergrund, zu rücken, mit allem Nachdruck zu betonen, daß schließlich alle Wirtschaft nur um der Menschen willen da ist. Das ist nicht zuletzt der tiefere Sinn einer wich tigen literarischen Neuerscheinung, die den Titel trägt: Lehr buh der Wohlfahrtspflege" und vom Hauptausschuß für Arbeiterwohlfahrt herausgegeben ist.

Wenn die Unternehmer von Wirtschaft sprechen, dan meinen sie sich und ihren Profit. Kein Wunder, daß sie alle Maßnahmen zum Schutze der menschlichen Arbeitskraft und zu ihrer qualitative Steigerung auf die Passivseite ihrer Wirtschaft sezzen und das alles als höchft unerwünschten sozialer Ballast emp­finden. Sie übersehen bei dieser faschen Rechnung geflisfentlich, daß alle Gütererzeugung legten Endes das Ergebnis menschlicher, Arbeitsleistung ist. Aber den Unternehmern ist die Anhäufung von Bermögen wichtiger als die richtige Befriedigung der gesellschaft lichen Bedürfnisse der Menschen. Sie sehen nicht den Zusammen­hang zwischen Güterökonomie und Menschenökonomie, begreifen deshalb auch nicht, daß die letztere eine unentbehrliche Voraussetzung für die Steigerung der Wirtschaftsergiebigkeit ist. Weil wir jedoch die rechten Mittel nicht zur rechten Zeit einsetzen, wird erst der größte Schaden angerichtet. Das kommt namentlich in der Wohl­fahrtspflege zum Ausdruck.

Das vorliegende Lehrbuch will den Praktikern in der Wohlfahrtspflege einen tieferen Einblick in das weitver­zmeigte Arbeitsgebiet vermitteln und die wohlfahrtspflegerische Ausbildung fördern. Die einzelnen Gebiete werden von besonders fachkundigen Autoren behandelt. Dr. Hanna Cohn gibt eine Ein­führung in die Bolkswirtschaftslehre; Regierungsrat Hedwig Bachenheim Einführung in Verfassung, Verwaltung und Rechts­pflege; Dr. Helene Simon behandelt Boraussetzung, Entwicklung und Begriff der Wohlfahrtspflege; Louise Schröder   gibt einen Ueberblick über den Stand der Sozialpolitit, wobei Arbeitsvermitt lung und Arbeitslosenversicherung von Martha Eva Prochownit behandelt werden; das geltende Fürsorgerecht ist von Ministerial.  rat Dorothea Hirschfeld   bearbeitet; die Kapitel über Familienrecht wie über Jugendrecht und Jugendwohlfahrt stammen aus der Feder von Stadtrat Walter Friedländer  ; Aufbau und Aufgaben der Wohl­fahrts- und Jugendämter behandelt Ministerialrat Dr. Hans" Maier, das Kapitel Gesundheitsfürsorge stammt von Laura Turnau  . In einem wertvollen Aufsatz behandelt Dr. Karl Mennicke das Thema: Sozialpädagogik und Boltsbildung; Marie Juhacz macht mit dem Aufbau und den Aufgaben und Zielen der Arbeiterwohlfahrt be­

tannt.

Auf 435 Seiten wird hier eine Fülle von Wissenswertem ge­boten. Möge das Lehrbuch dazu beitragen, diesen sozialistischen  . Geist noch stärter in die Praris zu tragen.