Sonnabend
11. Auguft
1928
10 Pf.
= Der Abend™
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Spätausgabe des„ Vorwärts"
45. Jahrgang.
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Der Große Sihungsfaal des Reichstages frägt wieder festlichen Schmud. Die Eftrade des Präsidiums ist von frischem Grün umrahmt, helle Blumen leuchten daraus hervor. Oben an der Stirnwand der Reichsadler, links und rechts von ihm die schöne Eingangsformel der Weimarer Berfaffung. Alles von den Reichs. farben umgeben und durchzogen. Ringsum an den Wänden die Wappen der deutschen Länder, ein besonders reiches Arrangement von Schwarz rotgold vor der rechten Mittelloge, an deren Brüffung die Präsidentenflagge angebracht ist.
Die Reichsregierung ist vollzählig auf ihren Plätzen. Vertreter der Länder in Berlin , die preußische Staats. regierung, die höhsten Beamten der einzelnen Zentralvermaltungen, die Borfißenden und Führer aller namhaften Körperschaften des öffentlichen Lebens, der Berufsverbände, der Kunst, des Theaters und des ganzen weitverzweigten geistigen Berlins . Auch die meisten der ausländischen Botschafter und Gesandten mit vielen ihrer Beamten wohnen der Feier bei.
Um 12 Uh: tritt Stille ein, alles erhebt sich, während Reichs. präsident v. Hindenburg mit dem Reichsinnenminister Karl Severing , dem Reichswehrminister Gröner und dem Bizepräsidenten des Reichstags v. Kardorff- Präsident Löbe ist noch in Brüssel in der Mittelloge rechts erscheint. Länger als sonst bleibt der Reichspräsident an der Brüstung stehen, um die Festverjammlung zu begrüßen. Mit ihm nimmt alles wieder Plaz und nun läßt der Staats- und Domhor unter der Leitung Hugo Rüdels den Festgesang, auf eine Weise von Glud, gedichtet von Mar Kalbed- Wien und von unserem Berliner Georg Schumann bearbeitet, flangvoll ertönen. Darauf folgt die Festrede des
Universitätsprofessors Dr. Radbruch.
Herr Reichspräsident!
Deutsche Volksgenossen und Genossinnen!
Wem die hohe Ehre zuteil wird, am Berfassungstage dem allgemeinen Empfinden sein schwaches Wort zu leihen, der mag wohl unwillkürlich an die größte aller Verfassungsreden denken, jene von Thufydides überlieferte Rede des Perifles, die den Geist des Staates der Athener für alle Zeiten zeichnet. Unsere Verfassung", sagt Berifles, heißt Demokratie, weil sie nicht auf einigen wenigen,
sondern auf der Maffe des Boltes ruht. Nicht die Geburt, nur die Leiftung eröffnet auch dem Unansehnlichsten den Weg zu den höchsten Würden. Wer aber der Politit sich flüglich fernhält, den rühmen wir nicht wegen seiner weisen Zurückhaltung, sondern wir verachten ihn als einen, der für das allgemeine Besen nichts nüße ist. Diese unsere Verfassung aber", sagt Berifles, „ haben wir nirgends entlehnt. Umgekehrt ist sie anderen Völkern zum Muster geworden." Gegner der deutschen Demokratie pflegen sie dagegen ein frem des, undeutsches Gewächs zu nennen. Sie zu entkräften genügt der Hinweis auf eine bodenständige Demokratie deutscher Art: die schweizerische Demokratie. Von der älteren, eidgenössischen Demokratie vermag der deutsche Volksstaat manches zu lernen, unter anderem auch, wie ein Bolt ernste Fefte fröhlich feiert. Lächelnd und gerührt erleben wir in den Dichtungen Gottfried Kellers immer von neuem volkstümliche Feste als ihre Höhe- und Wendepunkte. ( Fortsetzung auf der 2. Seite.)
F. St. Offende, 11. Auguft.
Nur ein paar Hundert Schritte entfernt von der gewaltigen grauen Truzburg der Grafen von Flandern , im Herzen der Stadt Gent , erhebt sich leicht und stolz das Festgebäude des Booruit". Rote Fahnen grüßen die Delegierten des Kongresses, die in einem Sonderzug von Brüssel herübergekommen sind. Das Festmahl im Saal bildet den Abschluß einer Exkursion, die wir in Autobussen rund um die Stadt unternommen haben und die den Zweck gehabt hat, uns den genossenschaftlichen Zweig der belgischen Arbeiterbewegung vor Augen zu führen.
Wir sind vorbeigefahren an ungezählten Verkaufsstellen des Konsumvereins, an Fabrilen und Werkstätten, in denen Maschinen furren und Hämmer dröhnen. Wir waren im Hauptverwaltungsgebäude, das mit seiner geschmackvoll modernen Innenarchitektur, feiner Helle, Reinheit und Ordnung imponierend und gewinnend zugleich mirtt. Wir waren in der wundervollen Klinik der Krankenkasse, die hier mit der sozialistisch- genossenschaftlichen Organi fation in engster Verbindung steht. Und wir haben auf unserem Weg den besten Führer gehabt in dem Mann, der an dem Werden dieses prachtvollen Werkes einen Hauptanteil trägt, in dem Genossen Anseele, dem Tribunen von Gent , jetzt einem beweglichen Siebziger, aus dessen Augen Güte und überlegene Klugheit leuchten. Auf dem Kongres in Brüssel haben wir von belgischen und anderen Genossen Reden gehört, die Meisterwerke der oratorischen Kunst find. Aber in Gent haben wir gelernt, daß die belgische Arbeiterbewegung ihre Kraft nicht ihren Reden, sondern ihren Taten verdankt.
In feinem anderen Lande der Welt ist das Problem der Einheit der Arbeiterbewegung in so vorbildlicher Weise gelöst wie in Belgien . Partei, Gewertschaft, Genossenschaft, Sportbewegung dienen hier nicht nur den selben Bielen, sondern sind Teile eines Ganzen, die nie ihren inneren Zusammenhang verdecken oder verleugnen, sondern ihn als eine Selbstverständlichkeit freudig und offen zur Schau tragen. Diese tiefinnerliche, in organischem Wachstum gewordene Verbindung hat nicht nur ihren gewaltigen materiellen Wert, indem alle Teile der Organisation sich gegenseitig tragen und stützen, sie hat auch eine hohe ideelle Bedeutung: Denn auf der einen Seite bringt sie jedem Gewerkschaftler, jedem Genossenschaftler, jedem Arbeitersportler zu Bewußtsein, daß er in seiner Organisation als Sozialdemo
trat an seiner Stelle steht, auf der anderen Seite bietet sie aber auch Gewähr dafür, daß die politische Bewegung nie den Boden der Tatsachen unter den Füßen verliert. Wer eine Arbeiterbewegung will, die höchsten Idealismus mit stärkstem realpolitischem Sinn ver bindet, der muß hierher nach Belgien kommen, um zu lernen.
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Als ein Symbol dieser Einheit wirkt es, daß das Genter Parteiblatt denselben Namen trägt wie die große genossenschaftliche Organi ,, Vorwärts!" Auf allen Gebieten sation: Booruit!" der belgischen Arbeiterbewegung lautet die Parole: Vorwärts!" Die beste Wirkung aber dieser Einheit besteht darin, daß in diesem Lande, in dem die Sozialdemokratie doch auch schon als Regiea rungspartei schwere Verantwortung getragen hat, die Einig feit der Arbeiter so gut wie ungestört ist und daß hier der Kommunismus nur eine ganz unbeträchtliche Rolle spielt.
Von Gent über Brügge gings nach Ostende , doch verlor die Reise damit nicht den Charakter einer ernsten Studienfahrt. Was uns interessierte, waren nicht die Hotels dieses ungeheuren Modebads, nicht der prunkvolle Quai, auf dem unter grauem Himmel Die Ostendesche nur wenig elegantes Publifum promenierte. Reederei, die Rote Flotte" hatte uns eingeladen, eine kurze Besichtigungsfahrt auf einigen ihrer Fahrzeuge zu unternehmen.
Auch die ,, Rote Flotte" ist ein Werk des unermüdlichen Edouard Anseele . Vor ein paar Jahren gegründet, besitzt sie jetzt 19 Schiffe und beschäftigt einige Hundert Fischer und Arbeiter. Ins Weiße Meer , nach isländischen, nach portugiesischen Gewässern fahren die Schiffe der Roten Flotte" auf Fang. Die Genossenschaften über. nehmen den Ertrag, das Personal ist am Gewinn beteiligt. Die Ge werkschaft aber hat den Vorteil, daß es jetzt auch in der Fischerei Die einen Unternehmer" gibt, der Arbeiterinteressen vertritt. Haltung der wirklichen fapitalistischen Unternehmer den Arbeiter. forderungen gegenüber wird dadurch nicht unwesentlich beeinflußt.
Heute hat die Rote Flotte", die am Alltag nicht ans Demonstrieren, sondern ans Arbeiten denkt, zu Ehren des Kongresses rote Wimpel gesetzt. Eines der Schiffe trägt den Namen„ Emile Vandervelde " oder richtiger: Emiel", denn wir sind hier im flämischen Land. Doch was sind Schreibweisen, was sind Worte. Indes die Schiffe der Roten Flotte auf den Wellen schaufein, tönt vielhundert Kehlen die Internationale, ein paar Dutzend
aus
Sprachen stießen zusammen zur Einheit des Klanges und der Idee. Booruit Vorwärts! Vorwürts stolzer Booruit"!