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Beilage

Donnerstag, 17. Januar 1929

Der Abend

Spilausgabe des Vorvine

Die Mühle von Verchen .

Eine Frau zum Tode verurteilt.

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Aus dem Zuchthaus beurlaubt. Der Hilfsgendarm Paul Dujardin, der, zum Tode| Müllermeister, auf den Boden, suchten ihn ab, gingen auch in verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, Alma Rahnfes Zimmer, sahen hier die Halbentblößte in unglüd: vom preußischen Justizminifterium nach neunjähriger Haft licher Lage im aufgewühlten Bett liegen, und stiegen die Treppe aus dem Zuchthaus beurlaubt wurde, ist tatsächlich mit seinem wieder hinab. Etwa eine Viertelstunde später hörte Schuhmacher Wiederaufnahmeverfahren durchgedrungen Alma, bist du da?" erhielt er teine Antwort. Statt dessen lief jemand langsam die Treppe herunterkommen. Auf seinen Anruf: Aehnlich wie der Fall Dujardin liegt der der Tischlers- bie Berjon schnell die Treppe hinab. Schuhmacher glaubte nach der frau Reinte, die im Februar 1924 zum Tode ver Gangart die Angeklagte zu erkennen, er hörte, wie der Riegel von urteilt, zuerst zu lebenslänglichem Zuchthaus der zum Hof führenden Tür zurückgeschoben wurde, lief zum Fenster, und später zu zwölf Jahren begnadigt, vor einigen Mo­fonnte jedoch niemand mehr sehen. Als er um 5 Uhr morgens naten aus dem Gefängnis beurlaubt wurde. Eine auf den Boden ging, um Alma Kahnte zu weden, fand er sie in endgültige Begnadigung dieser Frau steht derfelben Lage, in der er fie nachts gefehen hatte; um ihren Hals furz bevor. Der Fall der Frau Reinte soll hier geschildert lag die Zeugleine, die sonst auf dem Mehlboden auf. bewahrt murde, das andere Ende der Leine war um den vorderen Bettpfosten gewunden. Dem her­beigeholten Landjäger erzählte er, wie er nachts eine Person die Treppe hinuntergehen gehört. Erst später nannte er die Reinfe.

werden.

Die Todesstrafe liegt in den letzten Zudungen; da gilt es, immer mehr Material gegen sie herbeizuschaffen. Nichts ist in höherem Maße geeignet, ihr den Gnadenstoß zu versetzen, als der erwiesene Justizmord. Im Falle der. Frau Reinte wäre es, wenn nicht alle Zeichen trügen, beinahe ein solcher geworden.

Eine Dreizehnjährige im Schlafe erdrosselt. Am 18. Juli 1923 wurde die 13% jährige Alma Kahnte in ihrem Zinmerchen auf der Mühle des Bäcker- Müllermeisters Hermann Schuhmacher im Dorfe Berchen, Kreis Demmin , in ihrem Bett tot aufgefunden. Um den Hals hatte sie eine Schlinge; zwischen Hals und Schlinge konnte man gut zwei Jinger hineinschieben. An der rechten Schläfe zeigte das Kind einen blauen Fleck, am rechten Mundwinkel flebte über einer Haut­verlegung geronnenes Blut. Das Bett mar zermühlt, der Ober. törper des Mädchens entblößt. Wer war der Mörder?

Als drei Tage später die vom Landjäger am 18. ver. schloffene Zinumertür geöffnet wurde, zeigte die Türfüllung ver dächtige Veränderungen. Auch die Lage der Leiche mar verändert. Zwischen die Beine des Mädchens war das Lafen ge Klemmt, die Schlinge lag jezt fo dicht auf dem Hals, daß ein hindurchsteden von Fingern unmöglich war. Der für gewöhnlich mit Mehl bestreute Fußboden mar rein gefegt. Wer hatte ein Interesse, die Beränderungen am Tatort zunehmen?

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Dor=

fie

Die Obduktion der bereits start verwesten Leiche hatte im heißesten Juli drei Tage lang im Zimmer ge legen ergab Tod durch Erdrosselung während des Schlafes. Die Lage der Schlinge schien einen Selbstmord auszuschließen. Prof. Bortastner äußerte später eine andere Ansicht Der Befund der Geschlechtsorgane zeigte, daß das dreizehnjährige gut entwickelte Mädchen bereits mit Männern vertehrt hatte. Ob Schwangerschaft vorgelegen habe, fonnte wegen der weit vorgerückten Bermejung nicht fest­gestellt werden.

Alma Rahnke teilte das Zimmer mit einem kleinen Buben aus dem Ruhrgebiet . Im Nachbarzimmer schliefen die Söhne des Müllermeisters, Otto und Willi, junge Burschen. Der erstere mor am Morgen des 17. Juli nach Teterom gefahren; der letztere nach Hamburg , um dort Arbeit zu suchen; in Wirklichkeit hat er einige Tage später die österreichische Grenze überschritten. Außer dem Bädermeister und dessen Tochter schliefen auf der Mühle noch dessen Schwester, Ihr Mann und Schwager. Als Täter kam nur ein Hausgenosse in Betracht; nie­mand anders hätte sich im Dunkeln zurechtgefunden und eine 3eugleine vom Boden als Mordmertzeug benutzt.

Die Tischlerfrau Reinfe verhaftet und verurteilt. Der Müllermeister Schuhmacher lenkte den Verdacht auf die 45jährige Anna Reinke, die bereits seit acht Jahren bei ihm in Stellung war. Am 19. Juli wurde sie verhaftet. Sie leugnete jede Schuld. Weshalb solle sie das Kind getötet haben? Sie fei die ganze Nacht über in ihrem Zimmer gewesen. Wenn jemand Grund gehabt habe, die Dreizehnjährige zu be seitigen, fo jedenfalls nicht fie.

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Auch in der Gerichtsverhandlung beteuerte die Ange­tlagte ihre lnschuld. Hauptbelastungszeugen gegen sie maten der Müllermeister und dessen Schwager, der von ihm abhängige Rentner Stegemann. Das Gericht es waren auf Grund der Emmingerschen Verordnung nur drei Berufs= richter fam zum Ergebnis, daß die Täterschaft irgendeines anderen Hausgenossen ausgeschlossen sei, also nur die Reinte die Tat begangen haben könne. Go wurde sie zum Tode ver. urteilt, die Revision verworfen; ein Antrag auf Wieder. aufnahme des Verfahrens abgelehnt; eine am 19. Juli 1924 gegen diesen Beschluß eingelegte Beschwerde abschlägig be­schieden. Der Versuch, im Jahre 1925 aus Anlaß des Eheschei= dungsprozesses des Ehemanns gegen die Verurteilte, die ganze Mordsache wieder aufzurollen ähnlich wie es im Falle des Maurers Leister in einem Erbunwürdigkeits. prozesse geschehen blieb erfolglos. Die Tischlersfrau Anna Reinte verbüßte ihre Zuchthausstrafe fie nie aufhörte zu behaupten.

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Die Todesnacht.

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unschuldig", wie

War ste tatsächlich unschuldig? Hatte das Gericht das Rätsel der Mühle in Berchen richtig gelöst? Auf Grund welcher Indizien war es zu dem Todesurteil gelangt? Das Gericht war in allen Punkten den Aussagen des Müller­meisters und dessen Schwager gefolgt. Was aber hatten die be­fundet?

Stegemann wollte etwa gegen 12 Uhr über seiner Stube auf dem Boden Geräusche gehört haben. Er wedte feine Ehefrau und seinen im selben Zimmer schlafenden Bruder Heinrich. Alle drei pernahmen scharrende, tretende Geräusche. Robert Stegemann begab sich in das Schlafzimmer feines Schwagers, des Müllermeisters Schuhmacher, und weckte ihn. Dann holte er ein fleines Stümpfchen Talglicht und ging damit auf den Boden. Alles mar still. Er rief mehrmals: Alma, bist du da?" und als er teine Antwort erhielt, ging er mieder hinunter. Kaum eine Minute päter hörte er ähnliche Geräusche. Jetzt gingen beide, er und der

Die zweifelhaften Indizien.

Hatte sie sich aber tatsächlich abends im Hause einschließen laffen, um nachts den Mord zu begehen? Ist sie von niemand beobachtet worden, wie sie am Abend des 18. Juli ihre Wohnung, acht Minuten von der Mühle entfernt, aufgesucht hatte? Die Aussagen der Zeugen in diesem Punkte gingen auseinander. Sie ließen verschiedene Deutungen zu: zugunsten wie zuungunsten der Berdächtigten. Diese zweifelte an der Glaubwürdigkeit des Müller­meisters. Es sei unmöglich, behauptete sie, von seinem Zimmer aus zu hören, wenn jemand leise die Treppe herunterfäme. Das Gericht lehnte einen 2otaltermin ab. Unmöglich hätte auch Stegemann scharrende und tretende Schritte vernehmen fönnen, wenn sie, wie Schuhmacher dies behauptete, auf Strümp­fen gegangen sei. Und dann: die ganze Darstellung der beiden erscheine äußerst verdächtig. Sollten sie wirklich nach Dieben, deren Schritte sie gehört haben wollten, gesucht haben? Wieso hatten sie sich zufrieden gegeben, als sie auf dem Boden niemand anders als die schlafende Dreizehnjährige vorfanden? Und wieso ist ihnen nicht schon nachts die Zeugleine um den Hals des Mädchens aufgefallen? Wo follte sie während des Absuchens des Bodens geblieben sein? Wer hatte die Veränderungen am Tatort vorgenommen?

Und die Motive zum Morde?

Ja! Weshalb sollte sie die Kleine getötet haben? Aus Eifersucht? In diesem Punkte erscheinen die Dinge besonders

rätselhaft. Der Müllermeister- Witmer hat anfangs irgendwelche geschlechtliche Beziehungen zu seinter Arbeiterin Reinfe, die bereits acht Jahre in seinen Diensten stand, geleugnet. Später verweigerte er die Aussage darüber. Sie selbst beftritt derartige Beziehungen.

Das Gericht nahm sie als vorliegend on. Auch ging es davon aus,

daß die Angeklagte einer Zeugin gegenüber geäußert habe, es sei

einfach ein Standal, wo die Kleine eingehe, gehe der Müllermeister aus. Sie foll auch gedroht haben, wenn er das Kind nicht in Ruhe lasse, würde was ganz Schredliches passieren. Die An­geklagte bestritt die Aeußerungen. Das Gericht nahm aber an, Beziehungen zwischen der Dreizehnjährigen und dem Müllermeister daß fie gefallen seien, daß die Reinke, wenn auch unbegründet, vermutet habe; das Motiv zur Tat sei somit Eifersucht gewesen. fie loszuwerden, mit einer Anzeige wegen Mißbrauchs eines Kindes Deshalb habe sie sie getötet. Wäre es nicht einfacher gemesen, um unter 14 Jahren zu drohen? So fragte die Verteidigung.

Wer war der Mörder?

Die Berteidigung geht noch weiter. Sie sagt: wenn irgend jemand Grund gehabt habe, die Kleine zu töten, so sei es die Familie des Müllermeisters gewesen. Das Gericht hat nicht festgestellt, mit wem die Kleine früher Gea schlechtsverkehr gehabt hatte; es war ihre erste Dienst­stelle; direkt aus dem Elternhaus hatte man sie am 1. Mai hierher gebracht. Inten schlief der Witmer, im 3imuner neben ihr dessen junge Söhne. War die Dreizehnjährige vielleicht doch Hatte man Grund, einen Standal oder geschwängert worden?

eine Strafanzeige zu fürchten, und sah vielleicht einen Ausweg in der Beseitigung des Kindes? Und als es getötet war, mußte da nicht irgendein Schuldiger genannt werden, um den Berdacht von fich abzulenten? Durfte aber unter solchen Umständen der Müller­meister als klassischer Zeuge gelten, ebenso der von ihm abhängige Schwager? So argumentiert der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Andrich. Er hat nachträglich durch einen Kriminalkommissar auf eigene Roften im Dorfe Recherchen anstellen lassen und will ermittelt haben, daß der Müllermeister als gewalttätiger Mensch und Schürzenjäger befannt sei, daß er als wohlhabender Dorf­bewohner einen Einfluß befize, der iemand den Mut finden ließe, gegen ihn auszusagen. Er selbst erklärt, einer etwaigen neuen Berhandlung mit ruhigem Gewissen entgegenzusehen. Hatte sich die Kleine vielleicht doch selbst das Leben genommen?

Der Rechtsausschuß und das Plenum des Preußischen Landtags haben sich einstimmig für die Verurteilte eingesetzt. Die Begründung des Todesurteils hat bei allen Parteien größtes Befremden hervorgerufen. Anna Reinte befindet sich in Freiheit und betreibt das Wiederaufnahmeverfahren.

Das Rätsel der Mühle von Berchen ist nicht gelöst. Wer war der Mörder? Leo Rosenthal .

Das Elend der Schnitterinnen.

Wir berichteten am 2. Januar d. 3. über die Tragödie,| nicht mitbringen, meil es an Obdach für sie fehlt; sie selbst haben in deren Mittelpunkt die Schnitterin Josefa Majur steht. Daß ihr Schidjal nicht vereinzelt ist, zeigen die Erfahrungen in der städtischen Wohlfahrtspflege. Darüber wird uns be­richtet:

Die Landarbeiterfamilien und besonders die alleinstehenden Landarbeiterinnen müssen oft nach dem Ende der Saison ihre Ar­beitsstelle und den Arbeitsort verlassen. Sie kommen dann vielfach in die Asyle und Heime der Großstadt, um die stille Zeit hier zu ver­bringen. Die Großstadt ist auch der Platz der Stellenvermittlungen, von dem aus fie an neue Arbeitsstellen vermiesen werden. Die Kinder, die sie auf einer Stelle haben unterbringen fönnen, dürfen und so erscheint es faft als Regel fie auf eine andere Stelle

Zwei Frierende.

Droschkenkutscher und Droschkengäule huben unter der Dauerkälte besonders zu leiden. Sie sehnen sich nach besserer Beschäftigung und nach wärmerer Jahreszeit.

ein färgliches Unterfommen in einer Baracke, der sogenannten Schnitterfaserne. Die Kinder werden in den öffentlichen Heimen oder bei fremden Pflegeeltern versorgt, bis sich zuweilen nach Monaten, mandymal aber erst nach vielen Jahren die Mutter selbst ihrer wieder annehmen kann. So werden die Familien aus­einandergerissen, Mütter von ihren Kindern getrennt und einander entfremdet. Die Großstadt ist der Ort, der all' dieses Elend auf­nimmt und sorgt, daß die Kinder sich wenigstens in geordneten Ber= hältnissen weiter entwideln. Ein Kreisjugendamt berichtet über die Verhältnisse einer Mutter, die dringend um Rückgabe ihres in städtischer Pflege befindlichen Kindes bittet: Den Eheleuten St. steht in einer Wohnbaracke ein einziger Raum zur Verfügung, der voller Ungeziefer ist. Mit dem Ehepaar und ihrem sechs Monate altem Kinde teilt der Schwager des Ehemannes St. diesen Raum zum Wohnen, Schlafen, Kochen usw. Ob den Eheleuten St. in nächster Zeit eine vom Pächter in Aussicht gestellte Deputatwohnung zur Verfügung gestellt werden kann, erscheint fraglich. Jedenfalls ist Frau St. türzlich von hier eröffnet worden, daß ihr unter den zeitigen Verhältnissen die lleberfassung des Kindes nicht genehmigt merden fann."

Daß Josefa Mafur fruchtlos durch Stadt und Land fuhr, une sich bei den Stellen Rat und Hilfe zu holen, die berufen sein sollten, ihr in ihrer Not beizustehen, ist die andere Grausamkeit, die aus dem Bericht über ihr Schicksal hervortritt. Wie ist es mög­lich, daß Pfarrer, Heime, Waisenhäuser sich vor dieser Frau verschließen, die ihre Kinder zu ihrer Arbeitsstätte nicht mit­nehmen darf? Die Berordnung über die Fürsorgepflicht verpflichtet die Fürsorgeverbände im ganzen Reich zur Unterstützung der Not­leidenden. Alle Organe der öffentlichen und der privaten Fürsorge find berufen, an der Erfüllung dieser öffentlich- rechtlichen Pflicht mitzuwirken. Troßdem wird bei der Ausübung der Wohlfahrtspflege immer mieder befannt, wie in fleineren Städten und auf dem Lande diejenigen, die Anspruch auf Hilfe haben, ab ge= wiesen worden sind. Die notwendige Hilfe wird ihnen vorent­halten, höchstens einmal gewährt man ihnen Reisegeld, wenn es daran fehlt, um in die nächste Stadt oder schließlich wieder in die Großstadt zu gelangen. Der höchste Gerichtshof der Republik in Fürsorgesachen, das Bundesamt für das Heimatwesen, hat sich in seiner Rechtsprechung ständig mit Abschiebungen" dieser Art zu befaffen; feine Urteile werden mißachtet.

Pflicht der Fürsorgeverbände und der ihnen übergeordneten Aufsichtsbehörden wäre es, dafür zu sorgen, daß allen Hilfsbedürf tigen im Reich die ihnen gebührende Fürsorge tatsächlich zuteil wird. Es müßte ausdrücklich verboten werden, daß irgendein Organ der Wohlfahrtspflege einen Hilfsbedürftigen abweist, ohne seine Notfage geprüft und, wo es erforderlich ist, unverzüglich mit nachhaltigen Hilfsmaßnahmen eingegriffen zu haben. Sollte nicht am Ende mit schwerer Strafe derjenige bedroht werden, der einen Hilfsbedürftigen fahrlässig ohne Hilfe läßt, ihn in Elend, Krankheit und, wie Josefa Masur, zum Verbrechen treibt? Freilich Strafbestimmungen werden nichts nügen, so lange nicht die Erfennt­nis sozialer Notwendigkeiten tiefer murzelt, als sie bisher trotz aller Bemühungen vielfach immer noch zu murzeln scheint.

Arthur Gottschalk.