Nr. 124• 46. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag. 14. April 1929
ffienaißersifaße
Die Umgestaltung des Alcxanderplatzes riickt wieder einmal eine Gegend Berlins deni allgemeinen Interesse nahe, die, kurios zu sagen, es eigentlich seit zwanzig Jahren nicht mehr gibt. Denn es ist wirklich wohl fast an zwanzig Jahr« her, seit bei der Durch- legung des neuen Fiuchtlinienplancs, der Schaffung des Bülow- Platzes und der Durchlegung zweier Verkehrswege zum Schönhauser respektive Prenzlauer Tor zum erstenmal vom„Ende des Scheunen- viertele" gesprochen wurde. Aber der große Block mit der impo- stmten Volksbühne lag bis in die neuest« Zeit, von Bretterzäunen umgeben, einsam zwischen alten Baracken und Bauplätzen. Trotz der Nähe dreier Verkehrszentren, trotz der besten Verbindungen schien die Gegend geradezu verwünscht. Der kostbare Boden log brach, und obgleich die übriggebliebenen Häuser von Menschen fast überquollen, wurden bis in die neueste Zeit doch keine neuen Wohn- Häuser gebaut, die Gegend schien wie verwünscht. Erst in den letzten Jahren wurde es anders. Neubauten, zum Teil mit Hilfe der Hauszinssteuer errichtet, entstanden, und schon ist neben der Dolks- bühne der Bau eines Großkinos aus dem Boden gewachsen. Frei- lich: die Mieten in diesem Haus wird kaum einer der bisherigen Insassen des„Scheunenviertels " zahlen können: Dreieinhalb
Zwei geflülsele Mäufer in der grenndierftraße
Zimmer dieser ,Lomfortluxuswohnungen" sollen 1KÜ Mark kosten! Auch in den anderen neuen Wohnhäusern sind die Mieten hoch genug: Siebenundneunzig Mark kostet eine der Zweieinhalb- zimmerwohnungen in den Häusern, die mit Beihilse der Hauszins- steuer errichtet worden sind. Freilich, dies« Wohnungen haben Luft und Licht, aber sie mögen noch so vorbildlich sein: Die bisherigen Bewohner des Scheuncnviertels empfinden das Hochwachsen der neuen Häuser als eine Bedrohung. Für sie wird in diesen Häusern kein Platz mehr sein. Für die übrig« Bevölkerung Berlins aber ist das vielleicht ein Glück. Die Welt der Grenadierstraße. In dieser kurzen Straße ist man plötzlich, unmittelbar nachdem man den Alexanderplatz hinter sich gelösten hat, in einer fremden Welt. Hier haust, eng zusammengedrängt, die ganze Bevölkerung einer kleinen Stadt— einer polnisch-jüdischen Kleinstadt. Haus bei Haus sind hier Lebensmittelgeschäste, lu denen rituell zubereitete Waren seilgeboten werden. Es erscheint unglaublich, daß sich für diese Dinge wirklich in einer einzigen Straße genügend Käufer finden sollen. Damit nicht genug: Am Nachmittag säumen den Rand der Straße dicht bei dicht die Wagen jüdischer Straßen- Händler, so daß manche Geschäftsleute, um sich die Konkurrenz nicht gar zu nahe auf den Hals rücken zu lasten, vor der Bardschwelle gleichfalls noch einen Wagen ausbauen. Unglaublich, was hier noch gekauft wird: Angestoßene Apfelsinen, die auf anderen Märkten einfach in die Abfallkiste wandern würden, suchen und finden hier Käufer, denn fünfzehn Stück kosten ja nur«inen Groschen. Wein kostet das ganze Pfund fünfzehn Pfennig: die Trauben sind oft so faul, daß sie kaum mehr an den Stielen holten. Wo kein Lebensmittelgeschäft ist, hat sich eine jüdische Speisewirtschast aus- getan oder«in Restaurant. Hier gibt's alle Schattierungen, vom blitzsauberen Restaurant an, zu dem wegen der rituellen Küche auch Kaufloute aus der City kommen, bis zu Löchern von kaum glaub- licher Schmierigkeit. Zwei, höchstens drei der Restaurants sind in anderen Händen. Hier verkehren Transportarbeiter der nahen Zentralmorkthalle und das Publikum der„Taubeubörseu". die in der Nähe ihres untergegangenen Kleintiermarktes doch wieder hier Unterkunft gesucht haben. In langer Reihe hängen die Käfige au den Hauswönden, im Keller ist sogar eine große Flugvolire ein- Aerlckkek. Di« Mieten der Läden sind teurer wie in großen Ber- kehrsstraßen. Zweihundert Mark kostet eio mäßig großer Laden. zu dem ein winziges einfenstriges Zimmer und eine ebenso kleine Küche gehören. Jede Hausflurecke wird zum Handeln ausgenutzt. Auch die Wohnungsmieten sind hoch, besonders wenn man in Rechnung stellt, daß die Häuser von den Eigentümern meist glatt der Verwahrlosung überlasten werden, denn alles rechnet hier mU dem großen Umbau, es geht das Gerücht, daß in der Münz- straße ein großer Warenhaustonzern schon mehrere Häuser aus- gekauft habe Die„Zimmer" sind oft nur Löcher, wenige Quadrat- meter groß.'Trotzdem ist eine solche Wohnung oft eine Goldgrube, denn alles wird untervermietet. Ein Zimmer kostet hier fünfzig, sechzig, siebzig Mark, eine Schlafstelle, bei der drei Mann und mehr in einem Loch schlafen, acht Mark in der Woche. So sieht die Belegung der Wohnungen aus: In einer kleinen Stube wohnt der Untermieter— mit Frau und fünf Kindern! Er hat Küchenbenutzung: der Wohnungsinhaber schläft mit seiner Frau auf dem Hängeboden. Oder: Der arbeitslose Jnlzaber einer Woh- nung gibt die Kinder zu seinen Schwiegereltern Er schläft mit seiner Frau in der Küche. In der Stube wird provisorisch eine Bretterwand gezogen. Ein Teil ist vermietet an ein Ehepaar, im anderen Teil haust ein Schlafbursche. Falls der auch arbeitslos wird und nicht die volle Miete zahlen kann, nimmt man noch ein Ehe-
paar auf. Düsteres Geheimnis, wo die schlafen. So wird nun die Wohnung von einem Zimmer und Küche von drei Familien und einem Schlafburschen bewohnt! In einem vom Hausibirt gemieteten Zimmer wohnt mit Frau und vier Kindern ein alter jüdischer Schriftmaler. Er hat, da das Zimmer sozusagen möbliert ver- mietet wurde, geradezu noch einen Vorzugspreis: Nur vierzig Mark im Monat... So geht es hier Haus bei Haus. Dazu kommen die H o t e l s, die sich ausschließlich in jüdischen Händen befinden. Hier kostet das Bett für die Nacht eine Mark, jedes Zimmer ist mit drei und mehr Wann belegt. Bei manchen wird es wohl mit den Ausweisen nicht allzu genau genommen, denn die festgenommenen Tafchendiebe— Import von Lodz und umliegenden Gegenden— haben ihr Quartier meist„in einem Hotel in der Grenadierstraße", wobei sie aber regelmäßig die genauer« Adresse vergessen haben. Neben Hotels, Geschäften und Markttreiben kann man hier aber noch eine andere Seite des jüdischen Lebens bewundern: Zu keiner Straße Berlins gibt es wohl so viel Bethäuser, wie in der kurzen, kleinen Grenadierstrahe. Frellich sind diese Bethäuser kahle, öde Räume ohne jeden Ausstattungsprunk, überall da untergebracht, wo man in dieser übervölkerten Straße gerade noch einen freien Raum erwischen konnte— und wenn dieser Raum ein Speicher war. So ist aus dem beigegebenen Bild die erst« Etage des Hof- gebäudes, zu der die Hllhnersteige heraufführt, ein Bethaus: darunter befindet sich die„Mikwe", ein rituelles Bad für die von der Religion vorgeschriebenen Reinigungsbäder. Wenn man die dunkle Höhl« ansieht, muß man sich immer«rinnern, daß die religiöse Reinigung mit unserer irdischen Reinlichkeit manchmal sehr wenig zu tun hat. Oragonerstraße. Das war einmal die respektabelste der Straßen iin ehenialigen Scheunenoiertel. Hier wohnten kleine Handwerker, Standinhaber in der nahegelegenen Zentralmarkthalle und zum Teil wohnen noch
äSelhaus und SBad in einem Stof der QreitadierHraße
Jack Xondon:
(Berechtigte Heber fetzung oon Erwin Magnus ). Kearns war blaß, und die Zuschauer bemerkten, daß seine Hand zitterte, als er den Gutschein schrieb. Seine Stimme war jedoch unverändert. „Ich halte die fünftausend," sagte er. Jetzt war Daylight wieder an der Reihe. Das Licht der von der Decke herabhängenden Petroleumlampen spielte in den Schweißtropfen auf seiner Stirn. Die Bronzefarbe feiner Wangen war durch das emporsteigende Blut dunkler ge- worden. Seine schwarzen Augen funkellen. und seine Rasen- flügel bebten vor Erregung. Gerade sie bezeugten seine Ab- stammung von Wilden, deren" Rasse sich dank chrer tiefen Lungen und üppigen Luftzufuhr erhalten hatte. Doch im Gegensatz zu MacDonald war seine Stimme fest wie immer, und seine Hand zitterte nicht wie die Kearns, als er schrieb. „Ich.bringe' zehntausend," sagte er.„Ich bin nicht bange vor dir, Mac, es ist wegen Jacks Chance." „Ich setze nun gerade fünftausend gegen diese Chance," sagte MacDonald.„Ich hatte die beste Karte, ehe wir kauften, and ich nehme an, daß ich sie noch immer habe." „Es kommt ja vor, daß eine Chance nach dem Kaufen besser ist als vorher," bemerkte Kearns.„Und da sagt mir die Pflicht: Immer'ran, Jack, immer'ran, und ich sage: noch fünftausend." Daylight legte sich zurück und betrachtete sich die Petroleumlampe, während er laut rechnete. „Ich habe neuntausend gesetzt, ehe gekaust wurde, und ich habe elflausend.gebracht' und erhöht— das macht dreißig. Ich bin nur noch für zehn gut." Er beugte sich vor und sah Kearns an.„Also ich.bringe' die zehntausend. „Du kannst gut höher hineingehen," antwortete Kearns. „Deine Hunde rechnen gut für fünf." „Nicht einen Hund. Du kannst all meinen Goldstaub und das andere Zeug gewinnen, aber nicht einen von meinen Hunden. Ich chringe' nur."
MacDonald bedachte sich lange. Keiner rührte sich oder flüsterte. Kein Muskel erschlaffte in den Gesichtern der Zu- schauer. Nicht einer trat auch nur von einem Fuß auf den anderen. Es herrschte feierliches Schweigen. Nichts war zu hören als das Prasieln in dem großen Ofen und das Heuten der Hunde, das gedämpft durch die Holzwände hereintönte. Nicht jede Nacht wurde am Pukon so hoch gespielt, und dieses Spiel war das höchste, das die Geschichte des Landes aufzu- weisen hatte. Endlich sagte der Wirt: „Wenn einer von euch gewinnt, muß ich eine Hypothek auf das Tivoli nehmen." Die beiden anderen Spieler nicktc■ „Dann.bringe' ich auch." MacDonald fügte seinen Gutschein über fünftausend zu den anderen. Nicht einer oon ihnen forderte den Pot für sich, und nicht einer nannte seine Karte. Gleichzeitig legten sie ihre Karten offen auf den Tisch, während die Zuschauer auf den Zehenspitzen standen und sich die Hälse ausreckten, um bester zu sehen. Daysight hatte vier Damen und ein As: MacDonald vier Buben und ein As; und Kearns vier Könige und«ine Drei. Kearns langte aus und zog den Pot zu sich, aber sein Arm zitterte dabei. Daylight nahm sein As, warf es neben das MacDonalds und sagte: „Das hat mich die ganze'Zeit hochgehalten. Mac. Ich wußte, daß nur die Könige mich schlagen tonnten, und richtig, er hatte sie." „Was hattest du denn?" wandte er sich eifrig an Campbell.» „Flush royal von beiden Enden zu kaufen— ein« gute Karte." „Das sollte ich meinen! Du hättest«inen.straight', einen .straight flush' oder einen gewöhnlichen ,flush' bekommen können." ,L>as Rausgehen kostet mich sechstausend," meinte Camp- bell betrübt. „Ich wünschte, du hättest gekaust," lachte Daylight,„dann hätte ich nicht die vierte Dame gekriegt. Nun muß ich Billy Rawlins' Post besorgen und machen, daß ich nach Dyea komme.— Wie groß ist die Beute, Jack?" Kearns versuchte den Pot zu zählen, war aber zu er- regt. Daylight zog ihn zu sich herüber, sortierte Chips und Gutscheine und rechnete ruhig zusammen. �Hundertsiebeu-
undzwanzigtausend!" meldete er.„Jetzt kannst du Ausverkauf halten und nach Hause reisen, Jack." Der Gewinner lächelte und nickte, konnte aber kein Wort herausbringen. „Ich möchte etwas zu trinken bestellen," sagte Mac DoNald,„die Bude gehört mir nun nicht mehr." „Doch!" antwortete Kearns, nachdem er seine Lippen mit der Zunge angefeuchtet hatte.„Deine Gutscheine gelten, solange du willst. Aber für Getränke zu sorgen ist meine Sache." „Sagt, was ihr haben wollt, Leute— der Gewinner bezahlt!" rief Daylight den Umstehenden laut zu, und zugleich erhob er sich und faßte die Jungfrau am Arm..Kommt alle mit, wir tanzen einen Reel. Es ist noch früh am Tage, und morgen muß ich mit der Post los. He, Rawlins— ich verpflichte mich, die Post hin und zurück zu besorgen und morgen früh um neun geht's los— savvy? Alle her! Wo ist die Musik?" 4- Es war Daylights Nacht. Er war der Mittelpunkt, das
einer Laune, ein An- ältigte sich und damit chlug, war zu ausge-
Haupt der Lustbarkeit, unersättlich in steckungsherd von Frohsinn. Er oerfiel den Trubel. Kein Streich, den er vors lassen für sein Gefolge, und ihm folgten alle bis auf die, die als singende Idioten auf dem Schlachtfeld blieben. Aber nie kam es zu Ausschreitungen. Es war am Pukon bekannt, daß an den Abenden, wenn Burning Daylight losggelassen war. Zank und Streit verpönt waren. Früher war es wohl ein mal vorgekommen, aber da hatten die Leute zu spüren be- kommen, was wahrer Zorn war, und zwar auf eine Weife. wie nur Burning Daylight es verstand. Wenn er Feste gab, mußten die Leute lachen und froh sein oder nach Hause gehen. Daylight war unermüdlich. In einer Tanzpause bezahlte er Kearns die zwanzigtousend in Goldstaub und übertrug ihm seine Rechte auf Moosehide. Den Posttontrakt mit Billy Rawlins ordnete er ebenfalls und traf leine Borbereitungen zur Abreise. Er schickte nach Kama, seinem Hundetreiber, einem Tananawindianer, der seinen Stamm verlassen hatte, um in die Dic/nste der Weißen zu treten. Kama betrat das Tivoli, groß, mager, muskulös, in Felle gekleidet, ein Aus- erwähller seiner barbarischen Rasse, und doch selbst ein Bar- bar, der sich durch die ihn umtobenden Gäste nicht stören ließ, als Daylight ihm seine Befehle erteille. (Fortsetzung folgt.)