Beilage
Dienstag, 25. November 1930
Notverordnung und Geschlechtskrankheiten
Von Stadtarzt Dr. med. Drucker
der
3mei große Fortschritte hat das Reichsgefeß zur Bekämpfung der Geschlechtsfrankheiten vom 18. Februar 1927 gebracht: die Aufhebung der polizeilichen Kontrolle der Prostituierten und die Sicherstellung der Behandlung für alle unbemittelten Geschlechtskranten. An die Stelle Reglementierung, die zuletzt mur einen kleinen Teil der Ansteckungsquellen erfaßte und diesen Bruchteil auch nur unzureichend zu ver= stopfen vermochte, ist die planmäßige lleberwachung durch die Gesundheitsbehörde getreten. Sie erstreckt sich auf alle Personen, die einer Weiterverbreitung ihrer Geschlechtskrankheit dringend verdächtig find. Es ist das Berdienst der Sozialdemokratie, dafür gesorgt zu haben, daß die Behandlung nicht ant der Armut des Kranten scheitert. Die Reichstagsfraktion hat in das Gesetz die Bestimmung hineingebracht, daß die ärztliche Versorgung auf öffentliche Kosten erfolgen muß, wenn Minderbemittelte feinen Anspruch auf anderweitige ärztliche Behandlung haben, oder wenn Versicherte wirtschaftliche Nachteile, wie Entlassung aus dem Dienst- oder Arbeitsverhältnis befürchten, falls sie ihre Krankenkasse in Anspruch nehmen. Danach haben die Gemeinden die notwendigen Maßnahmen zur unentgeltlichen Behandlung dieser Geschlechtsfranken getroffen. Es geschah im sozialen Geist und ohne Engherzigkeit, wo die Bertreter der Arbeiterschaft entscheidenden Einfluß ausüben konnten. So hat die Stadt Berlin eine Reihe von öffentlichen Behandlungsstellen geschaffen, in denen tüchtige Fachärzte ausgezeichnete Arbeit leisten.
Die Geschlechtskrankheiten haben in den letzten Jahren nicht zugenommen. Man hätte wohl ein Anschwellen erwarten dürfen, denn die Geschlechtsverhältnisse breitester Schichten sind in der Gegenwart fast so locker und unbeständig wie während des Krieges. Benn dennoch die Auswirkungen des regellosen Verkehrs sich nicht wie früher bemerkbar machen, hat gewiß auch das neue Gejej dazu beigetragen.
1. Je
Nun wird der Kampf gegen die Geschlechtsfrankheiten wieder aufs stärkste gehemmt. Die Notverordnung aus dem Juli dieses Jahres droht den Nutzen des Gesetzes vom Februar 1927 aufzuheben. Ist damals die Behandlung erleichtert worden, so wird sie jetzt außerordentlich erschwert. Man vergegenwärtige sich die Tatsachen, von denen alle Bestrebungen zur Eindämmung der Geschlechtskrankheiten ausgehen müssen: früher diese Krankheiten behandelt werden, um so schneller fönnen sie beseitigt werden und um so fürzer ist das anstedende Stadium. 2. Die ersten Krankheitserscheinungen sind unbedeutend, erschrecken nicht, fönnen für harmlos gehalten werden. Das ist gerade der Grund, warum viele die Behandlung aufschieben und den günstigften Zeitunft für eine erfolgreiche Kur verpassen. Die Not verordnung begünstigt dieses verhängnisvolle Zögern. Das schlecht entlohnte oder gar auf Arbeitslosenunter fügung angewiesene Raffenmitglied, das 50 P1 für den frankenschein zahlen muß, wird schwerlich in den ersten Stunden nach dem Auftauchen leichter Beschwerden zum Arzt laufen, sondern jezt erst recht in dem bekannten Optimismus einen Tag, zwei Tage und länger warten, ob es nicht von selbst besser wird. Und so mancher, der sich nach langem Hin und Her einen Krantenschein getauft hat, wird nachher im Besitz eines Rezeptes von neuem überlegen, ob er sich die Medizin besorgen soll, denn er muß zu den Kosten der Berordnung noch einmal 50 Pf. beisteuern; Angehörige müssen sogar die Hälfte der Roften tragen!
Bei der Behandlung der Geschlechtsfrankheiten spielen Meditamente eine große Rolle. Die Art wie die Konzentration der Arznei ändern sich mehrfach, nicht selten muß der Arzt eine lange Reihe von Monaten hindurch immer neue Verordnungen ausschreiben. Und jedesmal hat der Bersicherte einen Zuschuß zu leisten! Es ist mit absoluter Sicherheit vorauszusagen, daß nun häufiger als bis her die Kur spät begonnen und früh unterbrochen werden wird. Das bedeutet: Verlängerung der Krankheitsdauer, Erschwerung der Heilung, Vergrößerung der An stedungsgefahr.
Es liegt gemiß im Interesse der Gesellschaft, daß jedem Ge schlechtsfranken, wie es§ 2 des Gefeßzes tut, die Pflicht auferlegt wird, sich sachgemäß behandeln zu lassen. Aber dann darf der Staat die Erfüllung der Pflicht nicht mit einem empfindlichen Geldopfer verbinden.
Die Notverordnung, die Notstände beseitigen soll, wird gesundheitliche Notstände in gewaltigem Ausmaß heraus beschwören. Das scheint auch dem Reichsarbeitsminister zum Bewußtsein gekommen zu sein. Daher hat er nachträglich den Versuch unternommen, die drohenden Folgen abzuschwächen. Es wurde von ihm verfügt, daß die Gebühr für den Krantenschein und die Rezeptverordnung im Fall echter augenblicklicher Not" gestundet und bei Uneinbringlichkeit niedergeschlagen werden kann. Dieses bewegliche Verfahren läßt sich gewiß im einzelnen Fall durchführen, aber wenn ein großer Teil der Versicherten den Antrag auf Stundung oder Befreiung stellt und er hat dazu ein gutes Recht, dann entstehen für die Kassenverwaltung erhebliche Schwierigkeiten. Bermutlich hat deswegen der Verband der Berliner Krankenkassen beschlossen, an der Erhebung der Gebühr in jedem Falle festzuhalten.
-
Wenn aber Gefahr im Verzug ist? Soll der Patient auf die notwendige Behandlung nur darum verzichten, weil fein Krankenschein zur Stelle ist? Minifter Stegerwald antwortet darauf in seinem Erlaß vom 8. Oktober, daß in dringenden Fällen die Krankenhilfe begonnen und der Krankenschein nach her geholt werden kann, und er setzt hinzu: As dringender Fall kann es gelten, wenn die Beratungsstelle einem Geschlechtskranken be. scheinigt, daß er der Behandlung bedürfe." Der Patient soll also zuerst zur Beratungsstelle gehen, sich dort nach allen Regeln unter suchen lassen, eine Dringlichkeitsbescheinigung erbitten, dann den Kaffenarzt in Anspruch nehmen, sich dort wieder untersuchen lassen, sich darauf in die Apotheke begeben und den Zuschuß zum Medifa ment leisten. Hat der Kassenarzt die Arznei auf einem Privatrezept verschrieben, weil die Kassenzugehörigkeit des Patienten nicht außer Zweifel stand, so muß die Verordnung sogar vollständig bezahlt werden. Ein System, das soviel Einsicht, soviel Geduld, Energie und Geld beim Patienten vorausgeseht, ist schlecht. Es gibt nur eine Lösung: Geschlechtsfrante müssen von der Gebühr für Krantenschein und Medikament grundsäß lich befreit werden. Allerdings soll man ihnen allein fein Monopol einräumen. Das wäre weder zweckmäßig nochy begründet.
Strogliad tidsid Der Abend
Spalausgabe des Vorvoáre
Wie die Eheberatung hilft
Einige Fälle aus der Praxis
Elend ein Ende zu machen. Aber, so sagt die Frau, der Mann sei ja Beamter, und wenn sie geschieden ist und er sich wieder verheiratet, dann hat sie, wenn er stirbt, feinen Anspruch auf die Pension, dann bekommt die die zweite Frau. Und sie selbst ist
Es ist unsere erste Sprechstunde. Bir marten, der Arzt und ich,| Scheidung wäre doch das Richtige, um dem unerträglichen häuslichen wird jemand kommen, um sich Rat zu holen? Es flopft an die Tür, nicht ganz leise, nicht sehr laut, dann wird sie rasch geöffnet. Eine ältere Frau steht da, sie setzt sich, sie berichtet: Sie ist nicht für sich gekommen. Sie will sich beraten lassen für ihre Tochter. Die will heiraten, ist nicht allzu fräftig, ,, und der Mann ist so hitzig", sie wird gewiß alle Jahr ein Kind haben, wenn sie einmal seine Frau ist, meint die Mutter. Da dürfe sie doch die Tochter dem nicht aussetzen.
7
Die Frau weiß anscheinend nichts davon, daß man, auch wenn man verheiratet ist, dem vorbeugen kann, daß das auf ganz ungefährliche Weise, die meist eine Sicherung gibt, gas hehen fann Sie ist höchst überrascht, als der Arzt ihr das auseinandersetzt. So etwas gibt es?" fragt sie erstaunt. Ja, dann kann die Tochter ja ruhig heiraten, denn sie hat den Mann doch lieb, und er ist ja auch sonst ein guter Mann, und ein Kind fann sie immer befommen", meint die Mutter.
Die zwei haben geheiratet, nach 9 Monaten ist das eine Kind gekommen, die Mutter war neulich da und sagte, die Tochter avise nun selbst Bescheid, und man werde mit dem zweiten warten, bis die junge Mutter wieder ganz kräftig sei.
*
Aber ein anderes Mai. Das ist etwas Eigenartiges, etwas, bei dem unser ganzes Mitleid rege wird und doch auch nachher eine Freude. Da fucht uns ein Jüngling auf. Es ist ihm nicht ganz leicht geworden, zu kommen, denn gehen fann er nicht wie andere Leute. Er hat einen großen und starken Oberkörper, aber die unteren Gliedmaßen eines dreijährigen Kindes, denn er hat, als er drei Jahre alt war, eine Kinderlähmung gehabt, da ist der Oberförper weiter gewachsen, aber die Beine haben nicht mit. gemacht. Im Zimmer bewegt er sich nun fort, auf dem Boden fizzend, mit den Händen rudernd, draußen mit einem Selbstfahrer. fizend, mit den Händen rudernd, draußen mit einem Selbstfahrer. Aber er ist ein tapferer Kerl, er hat ein Handwerk gelernt, schneidern, und ist der beste Geselle bei seinem Meister. Und nun hat ihn ein Mädel liebgewonnen, wirklich und wahrhaftig sehr lieb, trozz seines Gebrechens, und sie will ihn heiraten. Aber er macht sich Sorgen, denn er ist gewissenhaft. Darf so einer wie er heiraten?
Der Arzt zieht sich mit ihm zurüd. Dann kommen sie wieder. Ich sehe an dem glücklichen Gesicht des jungen Mannes, daß seine Besorgnisse zerstreut worden sind.
Bor menig Wochen hat er mir geschrieben, daß er jetzt geheiratet hat, daß er so glücklich ist und so dankbar. Er lebt in cinem fleineren Ort in der Nähe. Ich habe gehört, daß das ganze Dorf sich mit ihm gefreut hat, daß sie zusammen ihm eine Hochzeit ausgerichtet haben, wie noch feine zuvor im Dorf war.
Nicht immer ist man so zufrieden. Da ist eine Frau. Die liebt den Mann, aber der hat eine andere, von der mill er nicht lassen. Sie hat Kinder. Wenn sie sich scheiden läßt, dann muß sie die allein betreuen, dafür fühlt sie sich nicht start genug, aber so, zwischen den Eltern, zwischen denen doch auch Unfrieden ist, ist es auch nicht das Rechte für die Kinder. Was soll man als das Beste raten?
Ich habe mit dem Manne gesprochen. Er sagt, er wird wieder zu seiner Frau zurüdfommen; aber nach einiger Zeit kommt die Frau wieder, es ist wieder die alte Geschichte. Eine
an
einen
doch arm und braucht einmal die Pension.
So schleppen die zwei ihr Elend weiter und die Kinder wachsen dazwischen auf.
Ein zorniger junger Arbeiter aus einem Dorfe tommt. Er hat eine Braut gehabt. Die erwartet ein Kind von ihm. Sie ist in Stellung in der Stadt. Sie wollten heiraten, aber das Mädchen will ihn jest nicht mehr, so schreit er wütend, seit sie bei einer Tanzerei einen böfen Streit gehabt haben. Und er läßt sich nicht so blamieren, daß er ein uneheliches Kind hat und dann auch noch Alimente zahlen muß.
Wir denken uns, das Mädchen muß einen Grund haben, denn einen anderen Kerl hat sie nicht, sagt er, und er selbst hat auch sein sicheres Brot.
Er will, ich soll mit dem Mädchen sprechen, daß sie ihn nimmt. Ich habe das Mädchen aufgesucht. Ich finde ein sehr sym.. pathisches Mädchen, die im Beginn der zwanziger Jahre fteht. Sie sagt mir, der Mann habe sich unerhört roh ihr ,, Das fann feine gute Ehe werden, gegenüber benommen. niemals", sagt fie, und ich habe eine Schwester, die unglüdid verheiratet ist, ich weiß, was das bedeutet. Ich bin start genug, mein Kind allein ordentlich groß zu machen."
Das Mädchen sieht gut und flug aus, spricht wie jemand, der Zu dieser Heirat fann sich seiner Verantwortung voll bewußt ist. man wirklich nicht zureden, doch wird sie die Sache noch einmal mit ihren Eltern durchsprechen. Dann höre ich, daß die gern das Kind zu sich nehmen wollen, daß sie selbst ihre Stelle weiter behält nach der Entbindung, sie hat dem Manne endgültig nein ge sagt, er wird nun doch die Alimente zahlen müssen.
"
3wei nicht ganz junge Eheleute tommen. Sie können sich nicht einigen, wir sollen schlichten und raten. Eine eben erwachsene Tochter, mit der die Mutter nicht fertig mird. Es ist doch ein Arbeiterhaushalt! Da ist das Mädel dazu da, daß sie mir hilft!" Aber das Mädel hat andere Wünsche, möchte etwas lernen, möchte von Haus fort, aus der Wohnungsenge heraus.
Wir sehen bald, daß beide Eltern sehr erregbare Menschen sind, an der Grenze des Pathologischen die Mutter, auch die erwähnte Tochter scheint belastet. Jedenfalls wird sie bei dieser erregten Mutter nicht zu einem gefunden Ausgleich kommen in diesen schwierigen Entwicklungsjahren. Wir sehen uns auch die Tochter an, dann raten mir und helfen, daß fie in einem Heim unentgeltlich Aufnahme findet, in dem sie eine Berufs ausbildung für einen praktischen Beruf erhält, sie ist jetzt seit einem Jahr dort. Auch dort geht es nicht ganz ohne Schwierigkeiten ab, aber man sieht von Tag zu Tag Fortschritte, und das Mädchen wird ein tüchtiger Menjch werden. Die Eltern vertragen sich seitdem. Auch die Mutter hat begriffen, daß man mit jungen Menschen in den Entwicklungsjahren verständnisvoll umgehen muß und möglichst ruhig. Bei der zweiten Tochter mird sie es mohl besser machen. Menschenschicksale in Freud ' und Leid!
Das Wohl der Gesamtheit verlangt gebieterisch, daß jeder Berbeiterinnensekretariat des Deutschen Textilarbeiter- Verbandes. Berlin , sicherte, der einer anstedenden Krankheit Berlag Textilpragis. 231 Seiten), tiefe Einblide in das Leben der leidet, mag es Syphilis oder Tuberkulose, Ruhr oder Diphtherie Fabritarbeiterin. Von der früher alles beherrschenden Hausindustrie ist hier nicht mehr die Rede. sein, ärztliche Hilfe und Arznei erhält, ohne daß er Sonderbeitrag zu entrichten hat. Wenn die Vorschrift über die Krantenscheingebühr und die Beteiligung an den Heilmitteltoften nicht bald gänzlich verschwindet, dann muß sie mindestens für alle ansteckenden Kranten außer Kraft gesetzt werden. Hier steht nicht nur die Gesundheit des einzelnen, sondern die der Gemeinschaft auf dem Spiel.
Bis dahin müssen die Gemeinden das schlimmste Unheil abwenden. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Geschlechts. tranke, die ihre Kasse nicht in Anspruch nehmen fönnen, weil ihnen tatsächlich die Mittel für Krankenschein und Arznei fehlen, wie Minderbemittelte in den städtischen Einrichtungen auf öffent liche Kosten zu behandeln, Gewiß werden jetzt schon die Städte von ihren sozialen Pflichten fast erdrückt; sie haben daher feine Beranlassung, die Bersicherungsträger zu entlasten. Aber es be= deutet wahrhaftig feine Ersparnis, wenn mittelloje Geschlechtskranke von den städtischen Beratungs- und Behandlungsstellen abgewiesen werden, weil sie nach den Buchstaben des Gejezes zur Krankentaffe gehören. Sie können in Wirklichkeit deren Leistungen doch nicht in Anspruch nehmen, fie find hilfsbedürftig, und hilft ihnen jetzt nicht die Stadt, dann muß fie es später unter Aufwendung Diel größerer Mittel doch tun, wenn das Leiden fortgeschritten ist, | Krankenhausbehandlung und Arbeitsunfähigkeit verurfacht, oder wenn andere, auch nichtversicherte von dem unzulänglich Behandelten angesteckt worden sind. Gomohl vom sozialen, wie vom finanziellen Standpunkt fällt hier der Gemeinde eine unabweisbare Aufgabe zu.
Webernot und kein Ende
Das Elend der Textilarbeiter, dessen schon Goethe gedenkt, das in den vierziger Jahren seinen graufigen, von großen Dichtern verewigten Höhepunkt erreichte, lebt heute, in der Zeit des rationalisierenden Hochfapitalismus, noch immer, wenig gemilbert, weiter. Was aber den Opfern der Ausbeutung in vergangenen Seiten ver jagt war: ihre Leiden in Worte zu fassen, das ist heute zahlreichen Angehörigen des Proletariats gegeben. So zeigt sich, neben manchen sozialen Errungenschaften, vornehmlich ein fultureller Aufstieg, Ausbruck erhöhter Schulbildung und vor allem eine Frucht der Arbeiter bewegung. Der Tegtilarbeiter- Berband, der schon so manchen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis des proletarischen und vornehmlich des Arbeiterinnenschicksals geliefert hat, gibt in den 150 Briejen, die er in einem Buch zusammengefaßt veröffentlicht mein Wochenende. 150 Berichte ( Mein Arbeitstag von Textilarbeiterinnen, gejammelt und herausgegeben vom Ar
-
So mannigfach auch diese Briefe, die sich an das modische Schlagwort vom Wochenende anlehnen, nach Ort, Arbeitsart und persönlichen Umständen sind, so übereinstimmend ist doch im großen das Gesamtbild: das alte Lied, das alte Leid von überlanger, noch lange nicht überall achtstündiger, dabei heute viel anstrengenderer Arbeit und von unzulänglichem Verdienst. Gibt es bei den ledigen Mädchen noch manchmal ein versöhnendes Bild, in dem die Kulturarbeit der Organisationen und das neue Gemeinschaftsleben des Jungproletariats zum Ausdrud kommt, so wird es dunkler in der Ehe und zumeist trostlos bei finderreichen oder irgendwie leidenden Müttern. In unbegrenzter,' oft bis meit über 12 Stunden ansteigender Arbeitszeit lastet das Doppeljoch von Lohnarbeit und häuslicher Arbeit. Wie ein Hohn auf das Wochenende" flingt das immer wiederkehrende Lied von der großen Wäsche, die den Sonnabend und Sonntag ausfüllt. Welche Erleichterung wäre hier schon eine moderne 3entralwäscherei an jedem Ort!
Die Errungenschaften der republikanischen Sozialpolitik: geregelte Fabritzeit, Betriebsräte, verbesserte Sozialgesetzgebung, die Leistungen der gemerkschaftlichen und genossenschaftlichen Selbft hilfe kommen wohl zur Geltung. Aber das alles gibt doch nur einige freundlichere Töne dem alten, ewig grau getönten Bild des Proletarierdaseins, aus dem sich der Ruf nach einer besseren, nicht nur im Betriebsinteresse zweckmäßiger gestalteten und gerechteren Gesellschaftsordnung immer neu ergibt. Manches Stück Besserung ließe fich freilich schon heute durch zwedvolle Gemeinde- und Selbsthilfeeinrichtungen schaffen. Wieviel wäre es schon mert, menn menigstens in der flaffenbewußten Arbeiterschaft das vielgebrauchte Wort von der Gleichberechtigung der Frau mehr zur Wahrheit würde. Wenn die alte Forderung vom gleichen ohn für gleiche Arbeit verwirklicht würde. Wenn die männ lichen Familienmitglieder nicht so selbstverständlich den ebenso von ber Erwerbsarbeit verbrauchten weiblichen noch die ganze Last der Haushaltsgeschäfte aufbürdeten. Da und dort ist hier schon manches besser geworden, aber eben nur da und dort!
Dabei dürfen wir nie pergeffen, daß diese großenteils schrift gewandten, oft mannigfache Funktionen in der Bewegung befleidenden Arbeiterinnen sicher nicht die allerärmsten sind. Eher stehen sie auf einer oberen Sprosse der Proletarierleiter. Wir müssen uns das Spinner- und Weberelend im Durchschnitt noch schlimmer denken. So gibt die Sammlung, die bei allem Trüben doch auch ein hohes Lieb auf den Segen der Organisation ist, viel zu denken. Wer Leben und Leiden der proletarischen Frau tennen will, muß das Buch lefen. Simon Katzenstein .