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Briefe an die., Times"
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Von Peer John( London)
Urgroßväter- und Großväterprobleme
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wohlmeinender Korrespondent empfiehlt die Einführung einer Halbfarthing- Münze im Interesse der Armen, die Brot, Kohle und Buder nur in fo fleinen Quantitäten taufen können, daß ihnen bei jedem Einkauf ein uneins bringlicher Halbfarthing- Reſt und im Tage etta ein halber Benny verloren geht- ein gewichtiger Betrag schon für die unzähligen Paupers jener Tage. Ernster ist ein von sitta lichem Pathos getragener Proteft gegen die Greuel der Kinderarbeit in den Fabriken, die damals ungehemmt grassierte, und recht inters essant ein Brief gegen die ,, neue Mode", an den Häusern des Adels und der Gentry ztvei Glodenzüge anzubringen, einen für und einen für die Dienerschaft" ,,, ein Beispiel aristokratischer Arroganz, übel angebracht in diesem Zeitalter".
Nachkriegszeit
Die Briefe, die die Engländer an ihre| del der Zeiten den geistigen Durchbruch des Beitungen schreiben, sind ein wichtiges Ele- Neuen und seine harmonische Einordnung in ment in der Bildung und Manifestierung der das lebendig gebliebene Alte zu beobachten. öffentlichen Meinung des Landes, eine der Komponenten im Mechanismus der britischen Demokratie. Sie registrieren die politische Stimmung der Wählerschaft und sie beeinflussen Die beiden ältesten Briefe sind bereits in drei nicht selten die politischen Entscheidungen selbst. Nr. 2 der„ Times", die damals noch Auch in den ausgesprochenen Parteizeitungen Jahre lang- ,, The Daily Universal Register" ſteht die Briefkolumne immer auch der Gegen- hießen, am 2. Jänner 1785 erschienen. Der erste meinung offen und in den grogen politiſchen lift weniger burch ſein Xlems are bung teilte Tageszeitungen, dem„ Daily Telegraph " etwa wortreiche und gestelzte Form bemerkenswert oder dem Manchester Guardian", und den und handelt mit vielen mythologischen RemiWochenblättern vom Typus des„ New States- niszenzen über das„ Trinken von Toasts", das man" entfacht jede wichtige Frage spannende ganz im Geiste der zwischen Rokoko und AufBriefdiskussionen, an denen die besten Köpfe flärung schwankenden Zeit als eine leichte des Landes teilnehmen. Und noch die kleinsten und angenehme Art der Erziehung und Erwer Lokalzeitungen und Vereinsblätter haben ihre bung von Wissen" empfohlen wird. Der andere Briefkolumne, in der die schweigsamen Engläns Brief, ebenfalls weitschweifig und nicht ohne der redſelig werden, nicht – oder doch nur Berufung auf Cicero, aber beſchäftigt ſich ſchon ausnahmsweise um sich reden zu hören, nicht mit einem der großen Probleme der im Weroder doch nur ausnahmsweise um ihren den begriffenen englischen Demokratie, dem Namen gedrudt zu lesen( ein großer Teil der Mißbrauch des lebenswichtigen Volksrechts auf Buschriften erscheint pseudonym), sondern um Kritik an der Regierung durch.pöbelhafte Beidas ihre beizutragen zu dem, was sie troß allen tungen", durch die Revolverpresse, wie wir heute und scharfen Gegenfäßen als die Gemeinschaft ſagen würden. Der Briefschreiber, der sich, des englischen öffentlichen Lebens empfinden. klassisch natürlich, Publicola" nennt, hält es für ein gesundes Staatsleben für erforderlich, daß die Nation als eine Art Juch ständig über die Minister und ihr Verhalten zu Gericht size; aber eben darum müſſe es ein faires Gerichts= berfahren geben, berläßliche Zeugen, erafte Beweise; die Söhne der Berleumdung" hätten freilich kein so leichtes Spiel, wenn sie nicht von ienen Großen gedeckt würden, in deren Dienst 1921. Der ungestüme Erneuerungsdrang fie verleumden, und so appelliert Publicola an die Regierung, ein Erempel an ihren eigenen der zutiefft aufgewühlten Nachkriegsgeneration Kreaturen zu statuieren, an jenen ,, infamen tobte felbstbewußt auch in den würdigen Bläts Stribblern", die den guten Ruf der Regierungs- tern der„ Times“. Heute freilich, nach 15 Jahgegner beschmusen. Wir bezweifeln, ob dieser ren, muß man mit bitterem Gefühl bekennen, frühe Times"-Brief unmittelbare Wirkung daß die stürmische Jugend von damals das hatte, aber man weiß, daß die englische Demo- Schicksal der Welt auch nicht besser gemeistert fratie mit dieser Kinderkrankheit jeder jungen hat als ihre Bäter. Freiheit fertiggeworden ist.
Bon allen englischen Zeitungsbriefen aber halten die Briefe an die„ Times", das führende Blatt des britischen Bürgertums, einen besonberen Rang. Briefe an die„ Times" haben Geschichte gemacht. Briefe an die„ Times" werden nicht nur im ganzen politischen England, sondern auch auf den ausländischen Gesandtschaften und in den fremden Staatskanzleien auf
merksam gelesen.
Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das
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eine Auswahl der in den 150 Jahren ihres Bestandes in den„ Times" veröffentlichten Briefe enthält( ,, Dear Sir", edited by Doug Tas Woodruff). Es sind nicht die Briefe, die Geschichte gemacht haben; es sind Briefe, die Kulturgeschichte machen werden. Der Atzent liegt auf Kultur. Die soziale und intellektuelle Oberschicht des Landes bearbeitet Spätere und doch noch frühe Briefe behier ernst und spielerisch, pietätvoll und tri- handeln in buntem Wechsel Theaterfragen, die tisch, gelehrt und ironisch das reichste Kul- Statue des Herzogs von Wellington, tolle turerbe, das die bürgerliche Geschichtsepoche Hunde und unziemliche Fährleute auf der hervorgebracht hat, konserviert es, restauriert es, Themſe , die sich nicht an ihre Tagen halten. reformiert es, revolutioniert es bildet es 1811 beklagte sich ein Gentleman über die zu organisch weiter. Sprache und Erziehung, Lite- nehmenden Einbrüche und Taschendiebstähle und ratur und Gefchichie, Mode und Sygiene find führt sie auf die Abschaffung der Todesstrafe die beliebtesten, aber keineswegs die einzigen für Diebstähle zurück. In den dreißiger Jahren Themen. Besonders interessant ist es, im Wan -| beginnt die soziale Frage zu dämmern. Ein
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Der Gerichtsfall
Jesu Christi
Richter; und in seinen täglichen Begleitern sah fie Landstreicher, die Jesus zur Vagabondage verführt hatte weg von ihrer bürgerlichen Betätigung. Die Frommen sahen in ihm einen Sabbatbrecher, einen Leugner der Macht der Beschneidung und den Verfechter des strengen Ritus der Taufe, einen Fresser und Säufer. Die Aerzte verabscheuten ihn als einen Ungelernten, der die Praxis ausübte, das Bolt mit Quadsalberei heilte und dafür nichts begehrte.
( C. C.) In dem Vorwort zu dem Buch: On the Rods" sagt G. B. Shaw:„ Nimm den Fall der Austilgung von Jesus Christus . Kein Zweifel, es sprachen starke Umstände dafür. Vom Standpunkt der Hohepriester aus war Zesus ein Keßer und Betrüger. Die Staufleute sahen in ihm einen Aufwiegler und Kommu- Er war nicht der Anti- Christ; niemand nisten. Vom Standpunkt des Römischen Reiches hatte bis dahin von so einer Macht der Finsterwar er ein Verräter. Der gesunde Menschen- nis gehört, aber er war im Begriffe ein Antiverstand sah in ihm einen gefährlichen Narren. Der Standpunkt der Philister, der immer ein fehr einflußreicher war, sah in ihm einen pfenniglosen Bagabunden, die Polizei einen, der im Umherziehen Widerſtand leiſtet, einen Bettler, einen Beschüßer von Prostituierten, einen Verteidiger der Sünder und einen Lästerer der
Moses zu werden. Er war gegen die Priester, gegen die Gerichtsbarkeit, gegen das Militär, gegen die Geschäftswelt( er erklärte, daß es für einen reichen Mann unmöglich sei, ins Himmelreich zu kommen), und gegen alle Mächte, jeden einladend, er möge alle seine Macht lassen and ihm folgen.<
Die meisten der Briefe der Sammlung aber stammen aus unseren eigenen Tagen. Die Nachkriegszeit spricht aus ihnen und die stürs miſche fulturelle Neugeſtaltung, die ſie auch in England mit sich gebracht hat. Es kann nicht fehlen, daß sich in den Spalten der„ Time3" eine lange Debatte über die neue Jugend entſpinnt. Ein ,, Beobachter in mittleren Jahren“ leitet sie mit mildem Tadel der schlechten Manies ren und mangelnden Konventionen der neuen Generation ein. Ihm antwortet in Tönen, die ſeinen Tadel vollauf bestätigen, die aus den Schüßengräben zurückgekehrte Jugend: dort hat sie eben leine Manieren gelernt, bekennt sie ted, und von den mittleren Jahrgängen, deren wohl gesetzte Ehrbarkeit die Welt schließlich in den Schüßengräben gelandet hat, läßt sie sich keine Vorschriften machen; sie ist daran, sich Leben und Welt selber und besser zu zimmern! Das
Die Badehose allerdings hat sie nun auch an der englischen Küste durchgefeßt, den kurzen Rock für die Frauen und dann gar die shorts". die kurzen Hosen, für Tennisspielerinnen und Radfahrerinnen, und das in der Vorkriegszeit fast unbekannte„ biking" und„ camping“, das gemeinsame Wandern und Zelten beider Ges schlechter. Das Für und Wider zu alldem findet sich in den Briefspalten der„ Times".
Dann gibt es Wortgefechte um Borte, elegante Briefduelle um stilistische Finessen, schneidige Attaden gegen die Verhunzung, Vers
Bon jedem Standpunkt aus gesehn, von dem des Gesezes, der Politik, der Religion, der herkömmlichen Sitte und der Verfassung war er der erbittertste Feind der Gesellschaft dieser Zeit, den sie je vor die Gerichtsschranken_ge= zerrt hatte. Er war in jedem Punkte der Antlage schuldig und noch in vielen anderen Punkten, die in die Anklage einzubeziehen seine An= fläger nicht den Witz hatten.
War er unschuldig, dann war die ganze Welt schuldig. Ihn freizusprechen, hätte ge heißen, die Zivilisation aufgeben und alle ihre Einrichtungen. Die Geschichte hat seinen Fall ausgetragen, denn kein Staat hat sich je auf feinen Grundsätzen aufgebaut oder es möglich gemacht, nach seinen Geboten zu leben; jene Staaten, die feinen Namen angenommen haben, nuken ihn nur als Aushängeſchild, um ima stande zu sein, seine Anhänger mehr glaub. würdig verfolgen zu können."
pr