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Frauenstimme

Nr. 18+ 43.Jahrgang

Beilage zum Vorwärts

2. September 1926

Anstalts- oder Hausentbindung?

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Zu den vielen Umformungen gewohnter Lebensverhält­nisse, die die Kriegs- und Nachkriegszeit im Gefolge hatten, gehört es auch, daß immer mehr Frauen zur Entbindung eine Anstalt aufsuchen; wir betrachten nur die Fälle, wo das unter dem Zwang der Umstände geschehen muß. Heute hat ja durchaus nicht nur das Proletariat im überkommenen Sinn unter der Wohnungsnot zu leiden, es ist auch für große Teile des früher günstiger gestellten Mittelstandes fast das Normale, daß der eigene Herd", den sich ein junges Paar gründet, zuerst einmal in der Wohnung der Schwiegereltern oder in einem möblierten Zimmer mit Küchenbenuzung steht. Hat man aber vom Wohnungsamt Halleluja! endlich eine Wohnung zugewiesen bekommen, dann sind die Verhältnisse doch noch so grundlegend verschieden von denen der Vorkriegs­zeit, daß dem zu erwartenden freudigen Ereignis" meist mit einem gelinden Grauen entgegengesehen wird. War es früher durchwegs Sitte, daß eine der Großmütter die Pflege des neuen Enkels und der Wöchnerin übernahm, so ist das heute meist unmöglich, die Wöchnerin ist oft auf die Wickel­gänge" der Hebamme angewiesen, auch sind die Wäschevor­räte des proletarischen wie des Mittelstandshaushaltes noch längst nicht auf der Vorkriegshöhe. Unter diesen Umständen entschließen sich jüngere Frauen verhältnismäßig leicht, eine Entbindungsanstalt aufzusuchen. Viele aber, besonders solche, die noch irgendwie unter dem Einfluß der älteren Generation stehen, graulen" sich derart vor der Idee, in einer Anstalt zu entbinden, daß sie lieber in unzureichender Wohnung und mit unzureichender Hilfe ihre und des Neugeborenen Gesund­heit aufs Spiel segen, als daß sie eine nach allen modernen Erfordernissen ausgestattete Entbindungsanstalt in Anspruch nehmen. Woher stammt nun das immer noch weit ver­breitete Vorurteil gegen die Entbindungsanstalten?

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Ein Teil mag wohl auf die alte Tradition gegründet sein, die in allen diesen Anstalten Brutstätten aller möglichen Krankheiten, besonders des gefürchteten Kindbettfiebers sah. In der Tat sind es ja auch erft etwa 75 Jahre, seit der Wiener  Arzt Ignaz Semmelweis   diesen Schrecken der Gebär­häuser" als eine Folge mangelnder Asepsis feststellte und damit eine völlig andere Praris der Geburtshilfe angebahnt bat. Die zweite Ursache der Abneigung der älteren Frauen­generation gegen Anstaltsentbindung liegt wohl darin, daß noch vor verhältnismäßig furzer Zeit diese Institute stets mit irgend einer Form von Studien anstalten verbunden waren, mit Hebammenlehranstalten oder gynäkologischen Kursen für Medizinstudierende, und daß jede Frau, die eine derartige Anstalt aufsuchte, damit rechnen mußte, in ihrer schtberen Stunde Lehr- und Demonstrationsobjekt zu sein. Daraus erklärte es sich, daß diese Anstalten nur vom ärmsten Proletariat in Anspruch genommen wurden; leider wurden dadurch auch oft die Umgangsformen des Personals usw. recht ungünstig beeinflußt, denn mit armen Leuten braucht man nicht viel Umstände machen". Hier hat in den letzten Jahren nun eine erhebliche Wandlung zum Besseren einge ſetzt. Größere Städte haben, manchmal in Gemeinschaft mit sozialen Bereinigungen, Krankenhäuser speziell für Geburts­hilfe eingerichtet, und in letzter Zeit gehen auch die Kran tentassen dazu über, eigene Entbindungsheime einzu richten. Wer den Betrieb einer derartigen Anstalt einmal selbst als Patientin fennengelernt hat, wird gern bestätigen, daß bei der wirtschaftlichen Entwicklung, unter der wir seit Jahren leiden, dieses Borgehen der Krankenkassen im Inter­

effe der Volksgesundheit dringend notwendig ist. Die Sicherheit und Pflege, die derartige Anstalten um einen ver hältnismäßig niederen Preis bieten, fann selbst in einem bürgerlichen Haushalt nicht annähernd erreicht werden. Ein­schließlich der ärztlichen Behandlung, Pflege, Wäsche und Ent­bindungskosten berechnen zurzeit alle derartigen Institute Groß- Berlins   5,40 m. täglich, so daß eine Entbindung je nach dem Entlassungstag 40 bis 50 M. foftet. Frei prakti zierende Hebammen behaupten, daß bei einem derartigen Fabritbetrieb", bei dem eine Hebamme eine derartig greße Bahl von Wöchnerinnen zu betreuen" hätte, unmöglich auf. den Einzelfall die erforderliche Sorgfalt verwendet werden tönnte; es ist sehr schwer, noch guten Glauben eines derartigen Einwandes anzunehmen, denn über die Gliederung eines der­artigen Betriebes fönnten fich gerade diese Hebammen sehr leicht unterrichten.

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Als Beispiel für eine mustergültige moderne An-. ftalt dieser Art sei hier die städtische Entbindungsanstalt Westend   in der Sophie- Charlotte- Straße angeführt. Die Anstalt verfügt einschließlich der Säuglingsbettchen über zwei­hundertsechzig Betten und ist in eine septische und eine asep­tische Station gegliedert; in der aseptischen Station finden nur völlig gefunde Wöchnerinnen mit ihren Säuglingen Auf­nahme. Jede zur Aufnahme kommende Schwangere wird, wenn es ihr Zustand noch erlaubt, sofort gebadet, vom Arzt untersucht, sofort auch eine Urinuntersuchung auf Eiweiß und Zucker vorgenommen. Von dem Ausfall der Untersuchung hängt es ab, welcher Station die Aufnahme zugeteilt wird. Bis furz vor der Entbindung bleibt die neuaufgenommene Patientin in einem fogenannten Wochenzimmer". Erst wenn die Geburt einfegt, wird die Schwangere in den ,, Kreiß­faal" übergeführt. Sobald die Hebammenschwester hier bemerkt, daß mit Komplikationen zu rechnen ist, zieht sie einen Arzt zu. Die Wöchnerinnen liegen in Zimmern und fleinen Sälen von 2 bis 9 Betten; am Fußende eines jeden Bettes steht das Säuglingsbettchen. Die Pflege der Wöchnerinnen ist streng geteilt. Für die Säuglinge und die Pflege der Brust sorgen die Kinderschwestern". Die eigentliche Wöchnerinnen­pflege besorgen die Frauenschwestern". Außerdem ist zwei­mal täglich Bisite des diensthabenden Arztes; die Hebammen­schwestern haben mit den Wöchnerinnen, nachdem diese den Kreißfaal verlassen haben, nicht das geringste mehr zu tun. Für die Reinigung der Räume sorgen Wärterinnen und Hauss schwangere, es ist reichlich Bersonal vorhanden. Besonderes ob verdient gerade in dieser Entbindungsanstalt die Kost, die nicht nur reichlich und nahrhaft, sondern auch äußerst schmackhaft zubereitet ist, und sich auf das Borteilhafteite von dem in Krantenanstalten manchmal auch aus beſtem Material bereiteten Schlangenfraß" unterscheidet. Nachts werden die Kinder aus dem allgemeinen Schlafraum genommen und find in besonderen Räumen unter Obhut einer Kinder schwester untergebracht.

Mär von dem Fabritbetrieb", bei dem eine unendliche An­Aus dieser kurzen Beschreibung erhellt schon, daß die zahl von Wöchnerinnen der Sorgfalt einer Hebammen schwester anvertraut sei, wahrscheinlich zu dem 3 weder. funden ist, die sinkende Praris der Privathebammen zu stüßen. Nun ist die Berufspanit besonders älterer Hebammen ia recht begreiflich. Schließlich kann die Entwicklung aber nicht durch Berufsintereffen eines einzelnen Standes gehemmt werden. Gerade die jüngeren Kräfte dieses Berufes haben auch recht gut begriffen, welcher Fortschritt die Sicherheit