Die Frau im Frühfapitalismus
Die große Geschichte der Frauenarbeit soll noch geschrieben werden. Sie wird ein Buch sein, das erzählt vom heroischen Kampfe der Frau gegen un würdige Arbeit und für ihr Recht auf Arbeit, ein Wert, voll von Leiden und Unterdrückung, voll Anklage gegen die verschiedensten Wirtschaftssysteme und von Versuchen der Befreiung aus beengenden Traditionen und mannigfachen Vorurteilen.
Das schlimmste Kapitel aber würde die Frauenarbeit im Frühtapitalismus sein.
Denn der junge Kapitalismus, der aus allen Boren blut- und Schmußtriefend" zur Welt fam, verschonte weder Mann noch Frau und Kind. Und gerade die Arbeit der Frauen und Kinder war es, die er zum raschen Emporschnellen der Profitrate brauchte und darum in der allerbrutalsten Weise in sein System zwang.
Der Kapitalismus hat in all seinen verschiedenen Epochen weder nach einem Recht der Frau auf Arbeit gefragt noch irgend welche Art von Frauenarbeit als unwürdig" empfunden. Wenn er Arbeitskräfte brauchte, so hat er die Hände" der Frauen trog aller ethischen Lehren seiner Ideologen und aller Phrasen von der Heiligkeit der Familie" nicht verschmäht. Und Hände" brauchte der junge, aufstrebende Kapitalismus in Ueberzahl. Es ist ein trauriges Kapitel der Dialektik der fapitalistischen Wirtschaftsordnung, daß
die erste Möglichkeit der Befreiung der Frau aus jahrhundertelanger Knechtschaft durch wirtschaftliche Selbständigkeit in die fchamloseste Berlekung ihrer Frauenwürde umschlagen mußte. Mit entsprechendem Projit wird das Kapital fühn. 10 Broz. ficher, und man kann es überall anwenden; 20 Pro3., es wird lebhaft; 50 Proz., es wird positiv waghalsig; für 100 Pro3. stampfte es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Proz., und es exiftiert fein menschliches Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens." Und zwischen 100 und 300 Proz. muß es fich schon nach diesen aus dem Kapital" von Karl Marg zitierten Sägen verwertet haben, wenn man die Ber wüstung betrachtet, die die kapitalistische Sklavenarbeit namentflch bei den Frauen und Kindern in den ersten Jahrzehnten des Kapitalismus angerichtet hat. In dem Augenblicke, wo die sich taich entwickelnde Industrie den starken Arm des Mannes ent behren konnte was recht bald der Fall war wurden Frau und Kind mit in den Arbeitsprozeß einbezogen. Das vermehrte nicht nur die in dieser Wirtschaft nun einmal notwendige Reservearmee, sondern schuf auch billigere Arbeitskräfte und somit einen weiteren Druck auf den Arbeitsmarkt.
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Keine Maschine ist besser für Frauenarbeit geeignet als der mechanische Webstuhl. Hier konnte recht bald nach den ersten Verbesserungen die Arbeit von Frauen und Kindern verrichtet werden. Deshalb war es teine Seltenheit, in dieser Industrie oft bis zu 70 Proz. Frauen an den Maschinen zu finden. Eine Arbeitszeit von 12 bis 14 Stunden war in dieser, noch durch keine Geseze eingeschränkten frühtapitalistischen Epoche die Regel. Unter Schiedslos unterwarf dieses System Mann, Frau und Kind der gleichen Herrschaft. Es wurden Frauen sogar zur Arbeit unter Tage herangezogen. Es gab Bergwerfe, wie z. B. den Bergbau von Cornwall , mo fast bis zu 50 Proz. Frauen bei einer ebenfalls recht ausgedehnten Arbeitszeit beschäftigt wurden. Selbst verständlich mußte von ihnen hier unterschiedslos die schwere Arbeit des Mannes verrichtet werden: Loshauen von Gestein wie auch das nicht minder schwere Transportieren des Materials.
Wenn solche Zustände schon in der doch immerhin öffentlich zu kontrollierenden Arbeitsstätte möglich waren, um wieviel schlimmer mußte es dann mit jener Arbeit stehen, die verborgen hinter verschlossenen Türen geleistet wurde: mit jener
Heimarbeit,
die bereits damals als die schlimmste Einspannung des Menschen ins Arbeitsjoch galt! Hier ist die Arbeitszeit überhaupt ohne jede Grenze und Ziel. Solange die physischen Kräfte ausreichen, die ständig müden Körper wachzuhalten sind, wird gearbeitet. Aber Jelbst in den Puhmacherläden von London , die insgesamt gegen 15 000 Frauen damals beschäftigten, wurden geradezu Arbeitsorgien geleistet. Hier, wo der Butz für die von dieser maßlofen Ausbeutung lebende Bourgeoisie hergestellt wurde, erlebte man das allertraurigste Arbeitselend. Vom frühen Morgen bis aum[ päten Abend wurde für den allerbescheidensten Lohn geschuftet. Engels schildert in feinem Buche Die Lage der arbeitenden Klaffe in England" jenem Elendslegifon, das
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jeder arbeitende Mensch lesen sollte eine Reihe von Fällen, wo diese armen Geschöpfe oft neun Tage hintereinander nicht aus den Kleidern famen. Diese Frauenarbeit ist in damaliger Zeit überall zu finden, ganz gleich, ob es in der Textilindustrie, im Bergbau, in der Putz- oder Bekleidungsindustrie oder etwa in der Papierbranche, der Töpferei usw. ist. Ueberall die gleiche Ausbeutung, die gleiche maßlos aus. gedehnte Arbeitszeit, der gleiche geringe Lohn. Wie es dabei um das von religiösen Aposteln so gepriesene Familienleben aussah, fann man sich leicht vorstellen. Nur der Schlaf vereinigte die Familie, ja, oft noch nicht einmal dieser. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen
der Fabriksaal gleichzeitig als Schlafsaal benutt wurde, weil die Kräfte nicht ausreichten, um noch den oft weiten Heimweg zurückzulegen. Natürlich wurde auch das sittliche Leben allgemein unter solchen Zuständen arg in Mitleidenschaft gezogen, zumal da gelegentlich sogar der an die Stelle des Gutsherrn getretene Fabrikant sich die Leibeigenschaft" über junge Fabrikmädchen sicherte.
Am traurigsten gestaltete sich das Los der Frau als Mutter. Bei Strafe der Entlassung mußte die schwangere Frau fast bis zur Stunde der Entbindung an der Maschine stehen, ja, es ist vor. gekommen, daß eine Frau 3 wischen den surrenden Maschinen niederkam. Nach wenigen Tagen stand dann die Wöchnerin wieder wie sonst an der Arbeit. Und um sich auszumalen, wie dann der weitere Lebenslauf eines unter solchen Umständen geborenen Kindes aussah, dazu bedarf es feiner allzu großen Phantasie.
Früher hatte der Sklavenhalter zumindest soviel Interesse an feinen Sklaven, daß er sie nur bis zu einem gewissen Grade in Anspruch nahm, da er sonst den Verlust diefer gekauften Arbeitsfräfte beflagen mußte. Für den jungen Kapitalismus aber galt das Menschenleben nichts; der Arbeiter war ja jederzeit zu erlegen. Keine Wirtschaftsepoche hat darum eine solche Drangfalierung der Frau getannt wie diese. Erst das erwachende laffenbewußtsein und der daraus refultierende Zusammenschluß der Arbeiterschaft haben begonnen, auch für die Frau die unwürdigen Arbeitsverhältniffe für Europa zu beseitigen. Walter Ludwig.
Schlamperei das...
Auf dem Fahrdamm steht ein Kind und weint. Sein fleiner Körper schüttelt sich. Unter den Fäusten, die vor die Augen gedrückt find, tugeln helle Tränen hervor und bleiben auf dem Kleidchen hängen. Die Sonne spiegelt fich darin wie in Brillanten.
Auf den Bürgersteigen stauen sich die Menschen. Der Börsen. mann, die letzte Notierungen in Gedanken, bleibt lächelnd stehen. Der Reisende nimmt das Risite einer Zugverspätung auf sich. Der Kassendiener unterbricht seinen Botengang. Frauen, die von Markte tommen, stellen ihre Last neben sich. Sie staunen das Wunder an: Ein Kind weint auf der Straße.
Autos bremsen freischend ab, wenn das Kind vor ihnen auftaucht. Und fahren vorsichtig im Bogen weiter. Was sonst in lang wierigen Verwaltungssigungen mühsam zustande kommt, die Schaffung einer Berkehrsinsel, das hat das Kind ohne viel Aufhebens durch sein bloßes Dasein erreicht. Kein Chauffeur schüttelt fluchend mit den Fäusten wegen diefer Verkehrsstörung. Jeder hat jenes leise verstehende Lächeln auf dem Gesicht, das einem Kinde alles verzeiht.
Das Kind, das einsam auf der Straße weint, ist wie eine Bot schaft aus einem fernen Lande. Nicht nur aus dem Kinderlande, das so weit fernab liegt. Es ist mehr: hier grüßt das verlorene Menschenland. Wo sonst auf der Asphaltstraße der Verkehr gift, das Auto, die Straßenerdnung, die Polizei, der ruhelose Großstadtmensch mit seiner wichtigtuenden Zwedhaftigkeit, da hat Mensch die Herrschaft angetreten. Ein Mensch noch dazu, der naiv und ohne Erfahrung das Menschlichste tut, vor aller Welt seinen Schmerz preisgibt.
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Endlich kommt ein Schupcmann. Hat lange auf fich warten lassen," beschwert sich einer. Der Uniformierte beugt sich zu dem Kinde hinab, nimmt es auf den Arm und trägt es auf den schühen-. den Bürgersteig. Man flatscht ihm Belfall wie einer beliebten Schauspielerin.
Nur ein dider Herr hat alles nicht begriffen. Im Fortgehen nod) räfoniert er: Kleine Kinder ohne Aufsicht auf die Straße, gehen zu laffen. Schlamperei das..."