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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
daß wir über keinen unserer Mitmenschen vor seinem angelegenheiten behilflich zu sein. Die Verewigte Ende den Stab brechen sollen."
Sie machte eine Pause, seufzte und fuhr dann im Predigertone fort:„ Ja, ich darf wohl sagen, ich habe an diesem Sterbelager wieder einmal einen tiefen Einblick in die Räthsel der menschlichen Seele gethan und gesehen."
,, Und was han Se denne gesehen?" fragte die Hoppebäuerin, die neugierig geworden war.
"
Sie wissen doch wahrscheinlich, Frau Hoppe," begann Julchen, daß es mit dem Lesen und Schreiben der verewigten Frau Ernestine Kuhbich nicht weit her war; ja, man darf wohl sagen ohne der Verstorbenen damit Unrecht zu thun sie verstand davon so gut wie gar nichts."
,, Nu, se war ja och nur su ne halbe Grußemagd gewasen, eh' der Kuhbichbauer se nahm."
Ich wurde deshalb öfter von ihr herbeigezogen, um ihr bei Erledigung ihrer intimeren Familien
bewies immer ein besonderes Zutrauen zu mir und hat mir mancherlei anvertraut; ja, ich darf wohl sagen, ich war ihre einzige Freundin und Vertraute."
Die Sprecherin ließ hier eine bedeutungsvolle Pause eintreten. Die Hoppebäuerin war ganz Ohr. Sie fannte Betjulchen zur Genüge, um aus ihrer ganzen Art und Weise mit Sicherheit zu schließen, daß sie etwas Interessantes in Hinterhalte habe. ,, Ernestine Kuhbich fing in der letzten Zeit an recht schwach zu werden. Und wenn es ihr gar so bange wurde um's Herz, dann schickte sie nach mir, damit ich ihr christlichen Trost spenden möchte. Ich habe oftmals mit ihr gebetet, und sie sagte immer, das thäte ihr so besonders wohl."
"
Nu, worim that denn Die nich nach an Pfarrn schicken?"
" Oft genug habe ich ihr dazu gerathen., Liebe Frau Kühbich', sagte ich ,, lassen Sie doch den Pastor
Feuilleton.
holen!
Aber damit wollte sie sich nicht befreunden. , Dazu is später immer noch Zeit, sagte sie. Sie war darin so ein eigenthümlicher Charakter; ich vermuthe, sie dachte, das könne wohl gar ihr Ende beschleunigen, wenn sie den Herrn Pastor rufen ließ."
Und das wollt Ihr an salgen Tud nennen, Julchen, ohne an Herrn Pastor?"
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Ich „ Hört mich nur aus, Frau Hoppe! mert' es ja den Menschen inner gleich an, was sie im Herzen haben. Die Verewigte pflegte oft so tief zu seufzen, als hätte sie eine große Laſt auf dem Gewissen. Nun vor mir bleibt ja sowas nicht lange im Verborgenen. nicht lange in Verborgenen., Liebe Frau!' sage ich ,, Ihr habt etwas auf dem Herzen ich weiß es sagt mir's nur! Erleichtert Euch! sag' es feiner Menschenseele weiter!" leichterte sie denn ihre Brust und sagte mir Alles."
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Ich
Da er
( Schluß folgt.)
Frau und Ziegen. Man hat wohl öfter den modernen Malern zwar zugestanden, daß sie in der intimen, ein= dringenden Schilderung der Natur eine große Kunst entwickelt haben, aber man hat ihnen dann Größe, Monumentalität der Wirkung abgesprochen. Wir haben schon unlängst( Nr. 14 der„ Neuen Welt") gelegentlich des Liebermann'schen Bildes In den Dünen" darauf hingewiesen, welch' fraftvolle Wirkung dieser Künstler im Anschluß an den französischen Bauernmaler Millet in seinen Bildern erreichte, wie er durch stete Vereinfachung zur Größe der Darstellung gekommen ist. Unser heutiges Bild läßt diesen Zug noch stärker hervortreten: In einer großen, ehernen Linie zieht sich die Ebene hin und setzt scharf gegen den umwölften Horizont ab, in wuchtigem Aufbau wächst die Silhouette der alten Frau gegen den Himmel empor. Ein scharfer Wind fährt über das Land, das Gewand flattert. Man fühlt, wie die Frau fich stark in's Zeug legt, um das widerstrebende Thier mit sich zu ziehen; es ist Größe, Monumentalität in den Linien, mit denen dieses Bewegungsmotiv gegeben, wie in der Art, wie die weite, tahle Ebene herausgearbeitet ist.
Musikalische Zwangsvorstellungen find unter den mannigfachen Arten der Zwangsvorstellungen, das heißt solcher, die in der Vorstellungswelt eines Menschen auftreten, ohne daß ihnen eine äußere Ursache entspricht, und die ihn oft hartnädig quälen, die häufigsten und interessan= testen. Sie finden sich, wie L. Löwenfeld in einem Vortrage ausführte, angedeutet und vorübergehend auch bei Gefunden, ausgebildet und andauernd aber in der Regel nur bei neurasthenischen, hysterischen und melancholischen Zuständen; am häufigsten, aber feineswegs ausschließlich finden sie sich bei Personen, die sich berufsmäßig mit der Musik beschäftigen. Nur zum Theil entstammen die Zwangsvorstellungen den musikalischen Stücken, mit denen die Betreffenden sich gerade beschäftigen; häufiger liegen sie diesen ganz ferne, und bei Personen mit hoher musikalischer Bildung, die sich nur mit guter Musik be= fassen, zeichnen sich die Zwangsvorstellungen meistens durch ihren trivialen Charakter aus; die Töne, die diese Personen unausgesezt zu hören verurtheilt sind, entstammen Gassenhauern, Operettenwalzern usw. An Hartnäckigfeit können die musikalischen Zwangsvorstellungen wenigstens für fürzere Zeiträume das Bedeutendste leisten, was im Bereiche der Zwangsvorstellungen vorkommt; fie können sich Tag und Nacht ohne Unterlaß geltend machen, den Schlaf verhindern, durch ihr Andauern verschiedene peinliche Zufälle, wie Herzklopfen, Angstzustände, Uebelfeiten usw. herbeiführen und die Heimgesuchten zur Verzweiflung bringen. Zum größten Theile gehören die musikalischen Zwangsvorstellungen dem akustischen Gebiete an, in manchen Fällen verknüpfen sie jedoch mit den afustischen entsprechende Bewegungsvorstellungen; so fühlt der Betroffene etwa den Zwang, sich den Fingersatz der Melodien, die nicht aus dem Kopfe zu bringen sind, vorzustellen. Mitunter verbinden sich die akustischen Vorftellungen mit entsprechenden Zwangsbewegungen, der Betreffende fühlt sich z. B. gezwungen, die innerlich ge= hörte Melodie zu summen oder dergleichen. Verursacht werden die musikalischen Zwangsvorstellungen wohl meistens, aber nicht allein, durch überanstrengende Beschäftigung mit Musik. Bei Personen, die Musik betreiben, kann jeder Erschöpfungszustand des Gehirns, gleichviel wie er verursucht ist, zum Auftreten dieser Zwangsvorstellungen führen.-
Vater und Sohn. Sie schritten Beide rüstig aus, bis sie die letzten Häuser der Stadt im Rücken hatten und der Lärm der Straßen allmälig hinter ihnen verhallte: Dann bogen fie rechts in den schmalen Feldweg ein, der zu dem kleinen Dorfe führte, in dem sie wohnten. Nun gingen fie langsamer. Der Alte schien in tiefes
Nachdenken versunken; mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf schritt er schleppend dahin. In der linken Hand trug er die leere Blechkanne, die er, mit faltem Kaffee gefüllt, des Morgens in die Fabrik mitnahm. Der Sohn hatte die ſeinige an einer Schnur befestigt und umgehängt. So fonnte er besser Blumen pflücken, die spärlich am Rande des Weges wuchsen. Der Alte ging, ohne sich umzusehen, seinen regelmäßigen Schritt. Der Knabe war zurückgeblieben. Nun lief er, den Vater einzuholen. Dann ordnete er die verkümmerten Blüthen und breiten Gräser zum Strauß.
Den bring' ich der Mutter. Hab' sonst schönere gefunden, als ich noch zur Schule ging gestern noch. Da sucht' ich auch den ganzen Nachmittag. Nun muß ich in die Fabrik. Jeden Tag, Vater?"
„ Jeden Tag."
"
" Von Morgens bis Abends?"- Von Morgens bis Abends."
Wie heute? Jeden Tag und jeden Tag, genau wie heute?" Wie heute. Immer."
Aber Sonntags darf ich ausruhen, auf die Wiese gehen, laufen, springen und spielen und Blumen pflücken?"
Wenn wir auf dem Acker nichts zu thun haben, ja. Nachdenklich schwieg der Stnabe. Dann, plöglich, fragte er: Vater, wie oft bist Du schon so gegangen?" Wie oft? Weiß nicht. Immer." Er sann einen Augenblick. Zwanzig Jahr wohl beinah."
"
"
Zwanzig Jahre?" Der Junge rechnete. Das sind über sechstausend Tage, Vater. Ohne Sonntag." Soviel werden's sein, ja."
"
Und immer Morgens hin und Abends zurück?" „ Immer."
Das möcht' ich nicht!"
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Der Alte blieb stehen, richtete sich ein wenig auf und sah den Knaben scharf an. Dann, als besänne er sich, sagte er milde:" Daran gewöhnt man sich."
Schweigend schritten sie weiter. Plößlich blieb der Junge stehen:„ Ich kann nicht weiter, Vater; bin so furchtbar müde.
Der Alte hörte es wohl nicht. " Ift's noch weit, Vater?"
"
,, Bald sind wir zu
" Das gewöhnt sich." " Hast schwere Stücke
Haus. ,, Wirst Du nie müde, Vater?". Mir thut der Rücken weh." tragen müssen. Hab's geseh'n." Muß ich morgen wieder?" ,, Wirst wohl müssen." "' n paar Mal hat's mir ordentlich geknackt in den Knochen. Aber ich hab's mir verbissen. Kein Mensch hat's gemerkt, wie ich mich gequält hab'."" Darf's auch nicht."
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,, Aber jeden Tag frieg' ich's wohl nicht fertig. Das halt ich nicht aus. Auf den Schultern hab' ich große, blaue Flecken, glaub' ich."" Die vergeh'n wieder. Ist Alles Gewohnheit Aller Anfang ist schwer."
"
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Spürft Du garnichts mehr?"„ Nichts. Nein." Der Alte Hüftelte. Wenn blos der Husten nicht wär'." Sie schwiegen wieder. Der Knabe schaute in die untergehende Sonne. Gerade vor ihnen, weit hinten am Horizont, tauchte fie hinab. In scheinbar unendlicher Länge dehnte sich der Weg fast wie eine schnurgerade Linie bis in die Sonne, dachte der Knabe. Er ging wieder hinter dem Vater, dessen Gestalt sich in scharfen Umrissen abhob vom fernen, röthlichen Abendhimmel. Wie gebannt hielt der Knabe seine Blicke auf den Alten gerichtet. So fremd schien er ihm; so hatte er ihn noch nie gesehen. Warum gehst Du so frumm, Vater?"
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Krumm?" Unwillkürlich rechte er sich. Dann sank er wieder zusammen. Das macht die Arbeit."
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" Werde ich auch so?" Du?" Der Alte schien nachzudenken. Dann sagte er schnell:„ Das kann man nicht wissen, mein Sohn. Die Menschen sind verschieden."
In der Fabrik sind sie aber fast Alle fo."-„ Das macht die Arbeit," wiederholte der Alte.
Warum ist denn das so? Müssen wir denn da hingehen?" Ja. Wir müssen."
"
Warum?"
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er
Weil wir leben wollen. Und wer leben will, muß arbeiten soll arbeiten," fügte hart hinzu. " Von Morgens bis Abends? Immer? Dent ganzen Tag?"
Der Alte antwortete nicht mehr
Plötzlich lachte der Junge hell auf. Vor ihnen auf dem Wege, nur wenige Schritte entfernt, saß ein Häslein und machte, die Beiden scheu anblinzelnd, sein Männchen". Dann hopfte es mit langen Sägen in's Feld. Der Knabe sah dem Hasen nach, bis er in einer schmalen Furche des Feldes verschwunden war. Dann blickte der Junge, noch lachend, den Alten an. Da wurde er wieder nachdenklich. Warum lachst Du gar nie, Vater?" Erstaunt blickte dieser auf.„ Hab's verlernt. Hatt' wohl auch wenig Ursach dazu im Leben."
" Das Leben ist wohl sehr traurig, Bater?" Traurig? Weiß nicht recht mehr, was das heißt. Das Leben ist kein Spaß, weiß ich nur." Er schwieg einen Augenblick. Eine seltsame Bewegung veränderte flüchtig die harten, gefurchten Züge. Wirst noch Alles selber erfahren. Mußt nicht so viel fragen. Das thut nicht gut für Unſereins. Für Dich schon garnicht."
Scheu blieb der Knabe zurück; eine ungekannte Ehrfurcht vor dem Vater stieg ihm auf.
Als sie die morsche Brücke des breiten Wiesengrabens betraten, blieb er stehen und lehnte sich über das hölzerne Geländer. Dunkel und schmutzig wälzte sich das schlammige Wasser dahin. Mit großen Augen starrte er hinein. Seine Hand löfte sich und das dürftige Sträußlein fiel hinab. Dann schwamm es langsam in dem schwarzen Wasser fort." Mich freut's nicht mehr," murmelte er vor sich hin und ging, wie von einer inneren Last be drückt, weiter. Sein Kopf fenkte sich, und fast unmerklich bog sich der Nücken. Die natürliche Linie schien zu brechen unter der Wucht ängstlicher, beklemmender Ahnungen.
Schweigend legten die Beiden den Rest des Weges zurück. Mit furzem Gruß traten sie in das niedrige Häuschen und setzten sich an den weißgescheuerten, viers eckigen Tisch. Die Mutter trug das Essen auf: Mehl suppe und hinterher Bratkartoffeln mit Speck. Dann, bei der Mahlzeit, fragte sie:„ Na, wie war Dir's denn so am ersten Tag?"
Der Junge schluckte hastig ein paar Happen hinunter. Dann ließ er die Gabel fallen und schrie auf:" Mutter! Ich geh' nimmer in die Fabrik!"
Sprachlos blickte die Frau auf den Alten. Dieser fagte ruhig:„ Es kommt ihm gar schwer an."
Sie strich dem Jungen mitleidig über's Haar." gewöhnt sich Alles, mein Jung' Alles."
"
" Und wird nie anders?" Bang blickte er zu ihr auf. Es wird anders!" Hart sprach's der Alte und legte die Gabel hin. Dann stand er auf und ging zun Fenster. Vor ihm in weiter, grauer Dämmerung lag das Feld.
Es wird anders!" wiederholte er und kehrte sich zum Knaben. Du magst es noch erleben!"
Nachdruck des Juhalts verboten!
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