Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 98.
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Donnerstag, den 19. Mai.
( Nachdruck verboten.)
Efther Waters.
Eines Tages sagte William zu Esther, er wolle sich noch einmal von den Aerzten untersuchen lassen. Sie hatten zwar davon gesprochen, ihn zurechtflicken zu können, er aber wollte genau wissen, ob er leben würde oder sterben. Für Esther lag eine gewisse Erleichterung darin, ihn einmal so sprechen zu hören, denn die Folter der vergeblichen Hoffnung wurde ihr nachgerade unerträglich, und sie zog ihr die schlimmste Gewißheit vor.
Er hatte allein nach dem Hospital gehen wollen. Sie aber fühlte, daß es ihr ganz unmöglich sei, alle diese langen Stunden zu Hause zu ſizen und die Minuten zu zählen, bis er wiedertehrte, und bat ihn, sie mitzunehmen. Zu ihrer Ueberraschung gestattete er es sofort. Sie hatte schon gefürchtet, daß diese ihre Bitte eine kleine Scene hervorrufen würde. Er aber hatte das Anerbieten ihrer Begleitung als etwas Selbstverständliches entgegengenommen, daß sie sich jest doppelt freute, es vorgeschlagen zu haben. Hätte sie es nicht gethan, so würde er sie am Ende beschuldigt haben, daß sie ihn vernachlässigte. Sie fegte ihren Hut auf; es war zu heiß, um eine Jade anzuziehen; es war Anfang des Monats August. Die Stadt war menschenLeer und selbst die Straßen sahen müde, erschöpft aus von der Size, und die armselige, trockene, staubige Stadtluft ward fast für Esthers gesunde Lunge unerträglich. William aber mußte den ganzen Weg über husten, und sie hoffte, daß die Aerzte ihm sagen würden, er müsse fort aus der Stadt und an die See gehen.
Sie saßen auf dem Verdeck eines Omnibus und konnten von hier aus den ganzen Greenpark übersehen, der trocken und farblos aussah wie eine Wüste. Als sie den Hügel herabstiegen, bemerkten sie erst, daß der Herbst im Laub der Bäume schon seine deutlichen Spuren zu zeigen begann. Und noch etwas tiefer hinab lag der ganze Erdboden voll mit gefallenen Blättern. An der Hydeparkecke flog der trockene Staub ihnen haufenweise entgegen, und als sie an St. Georges Place vor überfuhren, fahen sie die schattigen Wege des vollständig menschenleeren Parkes durch das eiserne Gitter hindurch; die immer breiter werdende Straße der Prompton Road und ein in seinem Gärtchen stehendes Wirtshaus zeigte den Londonern ganz deutlich, daß sie sich jetzt schon in einer Vorstadt von London befänden.-
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" Siehst Du da," sagte William, wo die Bäume stehen und der Weg nach links abzweigt? Siehst Du das große Haus dort? Das ist die Bell and Horns". Das ist so ein Haus, wie ich es gern haben möchte; wo Du Wirtin drin sein müßtest." Wie schade, daß wir es uns nicht gekauft haben, als wir das Geld hatten."
" Das gekauft! Weißt Du, was das Haus wert ist? Mindestens seine hunderttausend Pfund."
" Ich war einmal hier in der Nähe in einer Stelle," sagte Esther. Ich habe die Fulham Road sehr gern. Sie sieht aus wie eine lange, breite Dorfstraße. Nicht wahr?"
Ihre erste Stelle war bei Mrs. Dunbar in Sydney Street gewesen. Und sie erinnerte sich jetzt noch des kleinen, vieredigen Kirchturms am Ende dieser Straße in Chelsea . Ein bißchen weiter unten in der Kings Road stand dann die Vestry Hall, dann kam nach links hin Oakley Street, die hinunterführte bis Battersea. Mrs. Dunbar pflegte den Garten am äußersten Ende der Kings Road zu besuchen.„ Cremorne Gardens" hieß diefes Etablissement. Dort gab es abends sehr oft Feuerwerk, und wenn ihre Herrin dort war und sich amüsierte, hatte Esther die Gewohnheit, sich den ganzen Abend über an das Sinterfenster zu stellen und von weitem die Raketen aufsteigen zu sehen. Dies war gerade, bevor Lady Elwin ihr die Stelle in Woodview verschafft hatte. Selbst die Läden in diesen Straßen fannte sie noch. Da war der Butterverkäufer Palmer; da war der Grünkramhändler Hyde; alles war noch genau so, wie es damals gewesen war. Und das war nun schon so viele Jahre her! Wie viele denn nur? fragte sie sich selber. Fünfzehn oder sechzehn! So vertieft war sie in diese alten Erinne
1904
rungen, daß William sie zweimal auf den Arm tippen mußte, bevor sie merkte, daß er zu ihr sprach:" So, da sind wir," sagte er.„ Kennst Du das Haus nicht mehr?"
O ja, sie erinnerte sich dieses großen Ziegelgebäudes sehr wohl; es war ein großes Mittelgebäude mit zwei großen Seitenflügeln, von einem hohen, eisernen Gitter und düsternen Sträuchern umgeben.
Wie oft früher war sie an dem Gitter stehen geblieben und hatte durch dasselbe die langen geraden Wege, die traurig düstern, in geraden Reihen aufgepflanzten Bäume betrachtet, zwischen welchen junge Leute mit bleichen Gesichtern entweder spazieren gingen oder auf Bänken saßen und ruhten. Und sie hatte dann oft gedacht, wer sie wohl alle sein möchten und ob sie gesund werden würden. Dann hatte eine Empfindung des nahen Todes sie plötzlich erschauern lassen, und sie war rasch hinweggeeilt.
Auch das niedrige, gelb angestrichene Thor war das gleiche geblieben. Aber sie hatte es noch nie zuvor offen gesehen, und es war ihr etwas ganz Neues, in diesen Gärten hellen Sonnenschein und viele Gäste zu sehen. Die Gartenbeete waren mit schönen Blumen bepflanzt, und die Bäume in ihrer herrlichen Laubpracht waren wundervoll anzusehen. Ein bißchen gelb waren einige der Blätter schon gefärbt, auch einzelne rot. Auch fiel von Zeit zu Zeit schon ein welkes Blatt herab. Aber der Anblick war doch ein prächtiger.
William, der hier schon alles kannte und auch den Anwesenden bekannt war, nickte dem Portier nur zu und wurde ohne weitere Frage eingelassen. Er wandte seine Schritte aber nicht dem Haupteingange in dem Mittelgebäude zu, sondern einer Seitenthür in einem der Flügel. Einer der Hausärzte stand dort und sprach mit einem jungen Mann, in welchem Esther den Freund ihrer früheren. Herrin in Avondale Road, Mr. Alden, erkannte. Einen Augenblick durchfuhr sie der Gedanke, daß auch er vielleicht an der Schwindsucht stürbe. Aber sein ganzes Aussehen und sein herzliches Lachen strafte diese Vermutung Lügen. Ein großes, dices, robustes Mädchen kam aus dem Hause heraus mit einem Kinde, einem kleinen Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren, an der Hand, welchem der Tod im Antlitz stand. Mr. Alden hielt die beiden an und sagte in seiner freundlichen, herzlichen Weise, daß er hoffe, es gehe der Kleinen besser. Sie sagte:„ Ja." Der Doktor nahm Abschied von Mr. Alden und winkte William und Esther, ihm zu folgen. Esther hätte gern einen Augenblick mit Mr. Alden gesprochen, er aber sah sie nicht, und so folgte sie denn ihrem Manne, der plaudernd mit dem Doktor vorausging, durch die Thür in einen langen Korridor hinein. Am Ende dieses Korridors sah sie eine Anzahl Mädchen in hellen Kleidern stehen. Die helle, lustige Farbe der Kleider ließ Esther in diesen Mädchen Gäste vermuten. Aber der furze, trockene Husten, den sie von ihnen allen hörte, belehrte sie eines Besse. ren. Als sie weiterging, erblickte sie eine matte, schwache Gestalt in einem Rollstuhl; die durchsichtigen Hände lagen auf den Knieen auf einem Taschentuch, und auf dieser weißen Fläche bemerkte Esther tiefe, dunkle Flecken. Sie schritten einen zweiten Korridor hinab und begegneten hier einer barmherzigen Schwester. Sie sah schlicht aus in ihrem schwarzen Kleide und weißen Schleier. Und sie erhob die Augen und blickte den iungen Arzt liebevoll an. Esther sah sofort, daß die beiden einander liebten; die ewige, nie endenwollende Geschichte der Liebe zwischen und neben dem Tode!
Esther hatte bei der Untersuchung ihres Mannes zugegen sein wollen. Aber William hatte plöglich die Laune, es ihr zu verbieten; er zog es vor, mit dem Arzt allein zu sein; und so fehrte sie denn in den Garten zurück. Sie sah die Kranken unter den Bäumen von weitem, und sie hörte von allen Seiten, bald hier, bald dort, den ihr schon so wohlbekannten kurzen, trockenen Husten, der hier niemals zu versiegen schien.
Mr. Alden war noch nicht fort. Er stand mit dem Rücken gegen sie gewandt. Das kleine Mädchen, mit dem er vorher gesprochen hatte, faß iezt auf einer Bank unter den Bäumen. Sie hielt eine Tode gelber Wolle in den Händen, welche das dicke Mädchen aufwickelte. Noch zwei andre junge Frauenzimmer standen bei ihnen, und alle vier lächelten und flüsterten miteinander und warfen Mr. Alden verstohlene Blicke zu. Sie schienen seine Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen und