Anterhaltungsblatt des HorwärtsNr. 225.Dienstag, den 15. November.1904(Nachdruck verboten.)ItlOer Elte vom Serge.Roman von GraziaDeledda.Basilio seufzte nochmals, rührte sich aber nicht. Von allenEindrücken, die er an diesem Tage empfunden, blieb jetzt nureine unbestimmte Traurigkeit zurück, ein schmerzliches Ver-langen, nicht mehr in Melchiors Hütte zurückzukehren, sondernhier zu bleiben, auf diesem Felsvorsprung, aber mit Paskazusammen, bis alle die Leute fort wären, lind dann, wennolle fort wären und auch der geheimnisvolle Schimmer amHorizont erloschen, dann würde er vielleicht den Mut haben,Paska Dinge zu sagen, die nie zuvor auf seine Lippen ge-kommen waren. Sie war drei Jahre älter als er, aber sie sahaus wie eine Fünfzehnjährige: er war noch ein Kind, abersein Herz schlug lebhaft, von unsagbarem Sehnen bewegt:jeder Pulsschlag war ein Aufwallen angstvoller, fast wilderLeidenschaft.„Ich habe das Zicklein in eine Höhle geworfen," schrie erjetzt,„uin zu Dir zu kommen, und ich könnte ein Verbrechenbegehen für Dich, Paska! Soll ich alle Ziegen Melchiors, eineum die andere, urubringen? Soll ich ihn selbst totschlagen?Oder den alten Zio Pietro? Sprich doch, sprich! Ich willlügen, morden, alles tun, was Du willst, nur Dir zu Liebe.Aber laß uns hier allein bleiben! Ganz allein! Laß dieHerren gehen! Ich hasse sie, weil Du sie gern hast: laß unsallein bleiben, ganz allein!..."Und die Leute brachen auf. Da Paska aber in geringerEntfernung die kleinen Augen ihres Herrn blitzen sah. sprangsie von der Felszacke herunter, und Basilio erwachte ausseinem leidenschaftlichen Traum. Von unten rief sie leise zuihm hinauf:„Wir werden uns in Nuoro mitunter sehen, wenn Duhinkommst. Wirst Du kommen?"„Ich weiß nicht," erwiderte er unfreundlich. Er folgteihr mit den Augen, sah, wie sie leicht von Stein zu Steinsprang, sich umwandte, um das Hündchen zu rufen, das ihrnachlief, und wie sie dann im letzten Dämmerschein verschwand.Er blieb allein, hörte, wie das Sprechen und Lachen sich langsam verlor, auf dem Waldpfade, hinter dem Felsen...Da kehrte auch er heim, traurig, verzagt.Aus der Hütte, wo das Feuer brannte, drang der Geruchvon gebratenem Fett: und draußen, in dem durch die Tür-öffnung fallenden, schwachen Lichtschimmer sah Basilio einenroten Körper hängen. Es war die arme, tote, abgezogeneITior di pervinca. Einen Ausgang aus der Höhle suchend,war sie mit dem Kopf zwischen zwei Steine geraten, und alsMelchior sie suchte, fand er sie erstickt.Basilio trat hinzu, befühlte das frische Fleisch, um sich zuüberzeugen, daß seine Augen ihn nicht täuschten, und da ernicht wagte, die Hütte zu betreten, streckte er sich draußen hinund stöhnte leise.„Bist Du wieder da?" fragte Zio Pietro.Er gab keine Antwort.„Bist Du da, Basilio? Was hast Du?"„Ich bin halb tot," sagte er matt.„Ich habe den ganzenBerg abgesucht, aber ich sehe, daß ich den rechten Platz verfehlthabe. O. Zio Pietro. ich bin tot!"„Schweig' still," schrie Melchior, der die Eingeweide derZiege briet.„Wenn ich herauskomme, dann werde ich Dichtotmachen, wahrhaftig, und schlimmer noch, als es diesemarmen Tier ergangen ist!"Freilich war er still! Er hielt den Atem an und spitzte dieOhren. Hatte sein Herr seine Abwesenheit bemerkt? Würdeer es ihm am anderen Morgen sagen, wenn Zio Pietro esnicht hörte?VII.Doch weder am folgenden Tage noch später sagte Ätelchiorihm ein vorwurfsvolles Wort. Der September kam und ging:auch der Oktober. An manchen Tagen tobte der Wind undverwandelte die Steineichen in heulende Dämonen mit hunderttoll bewegten Armen: und der Regen kam, die Kälte, dernasse, salzige Nebel stieg, sank, wogte und hüllte bald den Fuß,bald die Gipfel von Wald und Fels in graue Schleier. Unddann kamen die milden, sonnigen Herbsttage. Die Abhängeund der feuchte, in der Sonne dampfende Boden bedeckten sichmit frischem Grün, mit feinem, glänzendem Gras: die Felsenwaren blank gewaschen und hell, Moos und Epheu färbten sichrot, und der ganze Wald, von den schwärzlichen Stämmen biszu den feuchten Blättern, kleidete sich in tiefe, satte Farben.Die Luft war lau und still: vom Meere stieg weißer, leuchtenderDuft auf und am Himmel schwammen manchmal kleine rundeSilberwölkchen, die in langsamem Zuge der Sonne folgten,sie einholten, verschleierten. Dann glitt die strahlenlose Scheibedahin, gefolgt von der weitgedehnten, lustigen Herde auf demklaren Himmelsgrund. Sinnend auf dem Rücken liegend, ver-glich Basilio den langsamen, leuchtenden Zug der Wolken miteiner Schafherde mit weißem, seidenem, lockigem Vließ: unddie blasse Sonnenscheibe, die am unermeßlich weiten Himmelden Weg zu unbekannten Weideplätzen wandelte, erschien ihmwie der glückliche Hirte über so viel Reichtum. Lange Stundenverbrachte er, in diese sonderbare Betrachtung versunken, undin seiner naiven Anschauung die poetische Seite mit der wirk-lichen verknüpfend. Oh, alle diese Herden besitzen! Und einetanea(Weide) so weit und eben wie der Himmel! Zio Pietrowußte eine Geschichte von zwei Hirten und was sie, in einerschönen Sommernacht im Freien liegend, sich gewünscht hatten:der eine eine tanea so groß wie der Himmel, der andere so vielSchafe wie Sterne am Firmament glänzten.„Und wo würdest Du Derne Schafe weiden?" fragteder erste.„Auf Deiner tanea."„Aber ich würde sie Dir nicht vermieten."„Ich würde doch darauf gehen."„So würde ich Dich durchprügeln."„Das versuche nur einmal!"Sie prügelten sich, und die Sterne lachten.Um also solchem Ungemach zu entgehen, wünschte Basiliosich lieber gleich beides, die Herden und die tanea.„Und was würdest Du dann tun?" fragte Zio Pietro, demer eines Tages seinen Wunsch aussprach.-„Heiraten!"„Wahrhaftig!" sagte der Alte lächelnd.„Wie alt bistDu? Achtzehn? Und Du denkst an solche Sachen? Uebrigensbraucht man nicht den Himmel und die Wölkchen zu besitzen,um die Liebe eines braven Mädchens zu erlangen. Als ichvom Militär zurückkam, hatte ich nichts, nicht einmal die Spitzeeines Horns. Aber ich hatte gute Freunde, die mir jeder eineZiege schenkten, und die auch andere gute Hirten baten, mirjeder eine zu geben. So wurde ich ein Hirt, und Maria Graziaheiratete mich und wir waren glücklich."„Wart Ihr älter als Eure Frau?"„Nein, ich glaube, daß sie einige Jahre älter war als ich:aber sie war die beste Hausfrau in Nuoro. Sie machte sogarKäschen aus Ziegenmilch, die man für Kuhkäse hielt. Undaus der Wolle, die sie spann, wurden allmählich hundertZiegen, und Zio Pietro konnte dann Weide genug kaufen fürdas ganze Jahr. Verstehst Du?"Ja, Basilio verstand! Und eine Freude, so leuchtend wiejener Herbstmorgen, erfüllte sein Herz bei dem Gedanken, daßdann vielleicht eines Tages auch Paska ihn zum Manne nehmenwürde. Aber hinker der hellen Freude steckte auch ein gut TeilVerschlagenheit: denn Paska war nicht die alte, ehrliche MariäGrazia, und Basilios Herz war nicht das reine Herz ZioPietros.Nach diesem Gespräch wurde Basilios� Verlangen, nachNuoro hinabzugehen, heftiger: da aber die Ziegen trächtigwaren und keine Milch mehr gaben, ging auch Melchior nichtfort und erlaubte ihm keinen Gang in die Stadt. Nur wennbisweilen ein Bock sich verstiegen hatte, ging Basilio demKirchlein zu, das jetzt, zwischen den: herbstlichen Laub, trostlosgrau erschien. Ein böser Zauber schien ihn dorthin zu lockenund nach Monte Bidde, zu dem Felsenvorsprung, wo Paska,ihm in die Augen blickend, von seiner Seele Besitz genommenhatte. Wo war sie jetzt? In dem Rauschen der Steineichenglaubte er noch den hellen Ton der Flöte und den metallenenKlang der Gitarre zu hören: der ganze nebelfeuchte Bergströmte erregenden Duft aus wie an jenem Abend. Doch wowar sie? Er fragte es sehnsuchtsvoll und hätte von da obendie ganze heftige Leidenschaft, die ihn gepackt hatte, weithinausschreien mögen. Nie hatte er an seine Mutter gedacht