Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 234.

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Dienstag, den 29. November.

1904

( Nachdruck verboten.) hat mir oft erzählt, als er Knecht war, hat seine Herrin ein Testament auf ihn gemacht, weil ihr Sohn im Gefängnis war, und dann hat er alles herausgegeben und das Gericht kriegte feinen Heller."

Der Alte vom Berge.

Roman von Grazia Deledda , ( Schluß.)

Das war meine Ahnung, sagte Basilio sich. Ich fühlte, daß etwas Schreckliches kommen sollte! Und ich bin es, Zio Pietro, der Euch getötet! Und ich hatte Euch so lieb, und Ihr habt mir zu essen und zu trinken gegeben und mich gekleidet. Und ich habe Euch getötet! Ich habe zuerst Euren Sohn als Dieb hin­gestellt, um ihr zu Gefallen zu sein; und sie ist die erste ge­wesen, die ihn angezeigt hat. Und ich selbst hatte das gestohlene Vieh in die Tanca gebracht. Was habe ich getan! Was habe ich getan!

Auch der Hirt empfand tiefen Kummer, wenn er das vom Monde beschienene weiße Gesicht Zio Pietros sah; aber er war nicht mehr jung und weich und leidenschaftlich wie Basilio. Nach der ersten Anwandlung von Reue machte er sich nicht mehr den Vorwurf, Melchior ebenfalls denunziert zu haben.

In der Grotte hatte unterdes der Bursche aus Nuoro das Feuer unterhalten und sein Alleinsein dazu benutzt, den Vorrat an Brot und Käse zu verschlingen. Aus den Matten und Mänteln richteten Basilio und Gevatter Jacu ein möglichst bequemes Lager her, auf das sie den Alten niederlegten. Dann entkleideten sie ihn der Rücken war geschwollen und blutunter­laufen, doch kein Tropfen war aus der großen Wunde aus­getreten. Sie strichen warmes Del auf und verbanden ihn, so gut sie es vermochten. Er winimerte vor Schmerz und ver­sant dann wieder in Betäubung.

,, Sollen wir einen Arzt holen?" frug Basilio. Der Arzt will bezahlt sein." Er soll bezahlt werden."

Er holte seinen Lederbeutel hervor, rief den Burschen heraus und gab ihm zwei Zehnlirescheine; dann hieß er ihn das Pferd nehmen.

,, Gehe zu Zia Bisaccia und sage ihr, daß sie einen Arzt heraufschicken soll. Sage diesem gleich, daß der Alte gefallen ist und sich das Kreuz gebrochen hat. Bezahle ihn und kaufe die Medizin, wie er es Dir fagt. Wenn Du nicht schnell machst, so hast Du es mit mir zu tun. Bestelle Zia Bisaccia auch, daß fie zu feinem Menschen davon sprechen soll, damit Zio Melchior nichts davon erfährt."

Der Bursche schlug dem Pferd auf die Kruppe und trabte im hellen Mondlicht bergab. Basilio trat wieder in die Grotte, warf sich bei dem Feuer nieder und stöhnte.

Schweige, sagte endlich der Schweinehirt ärgerlich; gib das auf, Du Unverschämter! Jetzt weinst Du, aber... wenn ich den Mund auftun wollte!"

Basilio war still, aber nur um so heftiger bekümmert. Er sah Zio Pietro vor sich wie in den vergangenen guten Tagen, als Melchior noch frei war und in ihrer einsamen Be­hausung Friede herrschte; er hörte noch die schlichten Er­zählungen, die ihm in der ersten Zeit so großen Eindruck ge­macht hatten, und gedachte der schuldlosen Glückseligkeit, die er genossen, bevor er Pasta fannte. Jetzt war alles dahin: Melchior im Gefängnis, Zio Pietro dem Tode nahe und in seinem eigenen Herzen die Hölle. Der Alte würde nicht wieder aufstehen, nie mehr würde er die Hürde bewachen: Alles war dahin.

Nur ein sanfter Schimmer hätte es noch verinocht, das Dunkel seiner tieferschütterten Seele zu erhellen: Paska! Aber auch Paska, wegen der all dieses Unglück geschehen war, auch Paska entschwand ihm und verlor sich in dem Strudel, der ihn umtobte; und der letzte Lichtschimmer schwand mit ihr.

In der Morgendämmerung ging Gevatter Jacu, um nach feiner Herde zu sehen. Der Himmel war klar und versprach einen schönen Tag.

Als er dann zur Grotte zurückkehrte, sah er Basilio ihm entgegenkommen, mit fahlem Gesicht und geschwollenen Augen. Bio Pietro kommt zu sich," sagte er. Wäre es nicht gut, wenn er sein Testament machte?"

Sein Testament?"

Ja, sein Testament. Du weißt, wenn Melchior ver­urteilt wird, dann nimmt das Gericht alles. Wenn aber Zio Pietro sein Teftament macht auf einen anderen... Er selbst

Und Du meinst?" blickte zu Boden.

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sagte der andere verlegen und

Ich schwöre, daß meine Mutter mich nie wiedersehen soll, wenn ich nicht ebenso täte!" rief Basilio und er meinte es auf­richtig. Der Hirt betrachtete ihn, und sie blickten einander ins Auge.

,, Wenn Du willst, so wird Dein Herr nicht verurteilt. Warum Zio Pietro diesen letzten Schmerz bereiten? Das wäre, als ob man zu ihm sagte: Ihr liegt im Sterben und Euer Sohn wird verurteilt werden."

Gedankenvoll traten sie wieder in die Grotte. Zio Pietro jammerte; es war nicht mehr das frühere bewußtlose Stöhnen, sondern laute Klage, die noch weit ergreifender war, weil sie außer dem körperlichen auch seelischen Schmerz ausdrückte. Er bewegte die rechte Hand und schien etwas zu suchen; kaum hörte er die beiden eintreten, so fragte er ächzend:" Wo ist er? Wo habt Ihr meinen Stod gelassen?"

,, Wozu braucht Ihr ihn jetzt, Zio Pietro? Seid doch

ruhig!

,, Es ist wahr, ich brauche ihn nicht mehr," antwortete er nicht ohne Bitterfeit.

,, Warum hast Du mir nicht geholfen, kleiner Basilio? Durch Deine Schuld muß ich sterben, ohne meinen Sohn wieder­gesehen zu haben.

Das war sein erster, sein einziger, sein letzter Vorwurf. Bafilio war's, als ob ihm eine lange Nadel ins Herz dränge; er ging hinaus und rang die Hände in Reue und Ver­zweiflung.

Der Hirt erwärmte ein wenig Milch, kniete neben Zio Pietro nieder und ließ ihn trinken. Der Alte versuchte den Kopf zu heben, aber seine Lippen zuckten vor Schmerz, und der ganze Körper zitterte. Dann setzte das Fieber wieder ein, das Gesicht brannte, und er fing an zu phantafieren; er bewegte die Hände, als ob er sich von einer unerträglichen Last befreien wollte. Mit heiserer Stimme, doch in sanftem, fast findlichem Ton sprach er allerlei zusammenhanglose Dinge, Gebete, Erzählungen, alte Lieder; er sprach zu seinem kleinen Melchior und zu seiner ver­storbenen Frau; er erinnerte sich an fleine Einzelheiten aus seiner Jugend und blickte in weit entlegene Zeiten zurück. Aber er ächzte bei jedem Atemzuge, und wenn er eine Bewegung machte, schrie er vor Schmerz; von Zeit zu Zeit suchte er seinen Stock und bat darum. Auf einmal wurde dieses Suchen be­ängstigend, und jede Bewegung der Arme vermehrte den quälenden Schmerz der Wunde.

Und alle Zuckungen dieser Qual sah Basilio mit an und empfand fast körperlichen Schmerz. Nichts tun zu können, nicht zu wissen, was zu tun, um die Leiden des guten Alten zu lindern, das vermehrte seine Pein und gab ihm einen grausam mitleidsvollen Wunsch ein:

Möchte er doch bald sterben, daß er aufhört zu leiden! Geh," sagte der Hirt, geh und suche den Stock, vielleicht wird ihn das beruhigen."

"

Basilio stürzte fort, als ob er einen Alp von sich abschütteln möchte. Als er zu der Stelle gelangte, wo sie Zio Pietro ge­funden hatten, tauchte eben die Sonne aus dem Meere auf. Die ganze Natur atmete reinste Morgenfrische.

Auf und ab kletternd, zwischen dem Gestein und in den alten Felsspalten, unter den Sträuchern und im taufeuchten Moose suchte Basilio und vergaß für einen Augenblick seinen Kummer. Aber er fand den Stock nicht

Traurig fehrte er zurück; bevor er wieder eintrat, ging er zu dem Fußpfad und schaute nach dem Arzt aus. Doch niemand fam. In der weiten Tanca sprangen mur die Zicklein umher und steckten die vom Maulkorb umschlossene Schnauze tief ins Gras. Eine Schar grunzender Ferkelchen war unerlaubter­weise in die Tanca eingedrungen; doch heute kümmerte sich niemand darum.

Niemand kam. Und doch standen die Felsen im Morgen­glanze wie wartend da; die Ziegen standen auf den Abhängen, zwischen dem Gesträuch und blickten mit großen, traurigen Augen in die Ferne; die Katze saß über der Grotte, und in ihren halbgeschlossenen, grünen Augen spielten seltsame Lichter; der