fache Behausung. Still ticken die Uhren. Neben ihm sein Gehülfe, gleichfalls still arbeitend. Neb Leiser ist bedächtig und überlegend geworden in seinen langen Jahren. Er drängt seine Anschauungen und Urteile niemand auf. Er behält sie für sich. Er sieht aus wie ein alter Patriarch, voller Ruhe und inneren Lebens. Er glaubt an den Zionismus, er glaubt an ein besseres Leben in Palästina. Aber auch hier wägt er, hört ruhig mit an. wenn der wohlhabende Dr. Fuhrmann seine Lehre: werde reich, und du wirst geduldet, vorträgt. Sein Alter hat ihn ruhig gemacht. Anders Rachmann. Er glüht für seine Sache, er glüht für Zion. Seine einfachen Gefühlsbeweise, die im Sturm alles Reale überspringen, leuchten den einfachen Naturen ein. Der Gehülfe LeiserS ist sein begeisterter Anhänger. DieS ist die alte Welt und hier müssen wir einen Strich machen. Jenseits stehen die neuen Charaktere. Diese kemien den Begriff Entwickelung. Sie haben ihre Begierden im Zaum. Sie poltern nicht. Sie drängen sich nicht mit ihren allzu persönlichen Wünschen in den Vordergrund, sie verlangen nicht sofort den Himmel auf Erden. Hier, hier auf der Erde, die beherrscht wird von denen, die ihren Vorteil im Auge haben, da wollen sie wirken und arbeiten, an ihrem Teile. Stück für Stück wollen sie so dem Feinde sein Gebiet abringen. Sie werfen nicht mit Phrasen um sich. Still und schweigsam gehen sie ihren Weg. Sie hassen das allzu Laute. Reb Leisers bedächtige Art findet in seinen beiden Kindern, der tief fühlenden, wahrhaftigen Lija und dem über- legen ruhigen Boruch eine natürliche Weiterentwickelung. Aeußerlich steht Leiser seinen Kindern, die so ganz andere Ideale haben, die über daS Judentum hinaus zum Menschentum streben und in Petersburg Kameraden gefunden haben, mit denen sie sich eins wissen, die von der sozialen Menschheitsentwickelung erwarten, was die Schwärmer von Zion träumen, frenid gegenüber. Aber ihre offene, ehrliche, gründliche Art ist von seinem Stamme. So bildet der alte Leiser' doch als Charakter die psychologische Ueber- leitung und Verknüpfung zu dem neuen Geschlecht, das wie es auch im Stück gut zum Ausdruck kommt, nicht so viel redet wie der Schwärmer Nachmann, dafür aber denkt und sich über sich selbst klar und klarer wird. Zu ihnen gesellt sich der jüdische Arbeiter Jserson, der mit Recht fragt:„Ihr verweist uns immer auf Zion— warum nicht hier?" Die fanatische Art NachmannS findet in ihm. der von der Not unterdrückt ist, noch ein ent- sprechendes Echo. Lija liebt nicht den Juden Nachmann, sondern den Christen Beresi», Boruchs, ihres Bruders Studienfreund. In einer erschütternden Szene, die von Tilla Dürieux und Adolf Klein in großen und feinen Linien gespielt wurde, erfährt der Vater davon. Diese Szene gehört mit zu dem Schönsten und Dichterischsten in dem Stück. Wie der Alte wie ein achtunggebietender Patriarch in der Tür steht, seine Tochter weinen sieht, dann allmählich leise ihrer Seele naht, mit unaufdringlichen, schonenden Worten, das ist aus einem Guß. Auch in Lija schlummern noch die jüdischen Instinkte, des Pflicht- bewußtsein, die Anhänglichkeit. Als die entfesselte, bestialische Menge hereinbricht, bleibt sie bei ihrem Vater, flicht nicht i allein steht sie mit dem Revolver der Menge gegenüber und gibt sich den Tod. So beginnt das Stück eigentlich ohne Anfang, und schließt ohne Schluß. Es ist ein Ausschnitt aus dem Leben, und wir sehen ver- schiedene Charaktere nicht werden, sondern fertig stehen sie vor uns. aus ihrem Reden entnehmen wir nach und nach, was im Kern in ihnen rnht. Die Schwächen des Stücks liegen darin, daß der Autor zu viel hat geben wollen. Es geht zu viel durcheinander. Sind schon die Personen an sich vielleicht allzusehr mit dem Ver- stände ausgesucht und typisch einander gegenübergestellt, so herrscht einmal ein unklares Verhältnis darüber, ob der Autor eine mensch- liche Tragödie hat darstellen wollen, intime, persönliche Schicksale (dann fehlen zu sehr die Einzelziige, das Programm überwiegt) oder an Beispielen ein typisches, allgemeines Erleben hat kennzeichnen wollen, das jüdische Schicksal symbolisierend sdann sind die Linien nicht klar und hart genug). Dazu kommt noch, daß russisches Arbeiterelend und zionistische Ideen wie ein Knäuel sich miteinander verlvirren. Freilich erhöht sich andererseits damit loieder die Lebens- »vahrheit: einer in jedem Punkte vollendeten Aufführung würde es vielleicht gelingen, jedes für sich gesondert herauszuheben und doch das Ganze zum Symbol zu runden. Dann erscheint vielleicht auch die hereinbrechende Menge nicht bloß als äußerlicher Abschluß, den der Autor braucht, sondern als einer jener dumpfen, schwerwuchtenden Zufälle, die das Leben oft so sinnlos er- scheinen lassen. Diese Macht müßte nicht so unvermittelt auftreten, sondern ihr Schatten müßte schon vorher auf die Bühne fallen, so daß wir ahnen, wo wir jetzt nur erstaunt sehen. Unter �den Darstellern ragte Tilla Durieux (Lija) hervor durch die Schlichtheit ihres Tones. In Haltung und Bewegung bot sie oft überraschend suggestive Monicntc. Neben ihr hielt sich gleich gut Adolf Klein (in vorzüglicher Maske als Reb Leiser), eine wohldurchdachte Leistung. Auch I a r a y(Boruch), Josef Klein (Beresin), v. W i u t e r st e i n fligten sich gut dem Ganzen ein, das dichterisch vielleicht noch unfrei ist, künstlerisch noch zu wünschen übrig läßt. Jedoch— sehen wir unsere anderen Theater und unsere heutige Produktion an, haben wir da nicht genug prätentiöse Künstelei, die vor dem Wesentlichen, Zupackenden ängstlich zurück- schreckt und, vor den machtvollen Trieben des Daseins sich hütend, sich ein kleines Glück ani Herde baut, während draußen die Stürme brausen?— e. s. Lerantwortl. Redakteur: Paul Büttner , Berlin.— Druck und Verlag: Aus dem Pflanzenleben. tz. Treiblaubfall. Julius Wiesner hatte uns jüngst init dem Sonrmerlaubfall bekannt gemacht, einem Abfallen von Blättern, das in ganz normaler Weise an vielen unserer Bäume während der warmen Jahreszeit stattfindet. Nun»lacht er auf den Treiblaubfall aufmerksam, den er an Lorbeer und anderen immergrünen Gewächsen beobachtet hat. Diese Pflanzen werfen, selbst wenn sie von den verschiedensten äußeren Einflüssen, unter denen sonst Blätter abfallen, getroffen werden, ihr Laub nicht ab. Lange Berieselung mit Wasser. Verdunkelung, selbst Trocken- heit, vermögen Gewächse wie den Lorbeer, die Myrte, den japanischen Evonymus, die Aucuba, nicht zum Fallen- lassen des Laubes zu bringen. Wohl werden selbstverständlich auch die Blätter immergrüner Gewächse durch gewisse Einflüsse zum Ab- sterben gebracht, aber auch dann lösen sich sehr viele von ihnen nicht von den Zweigen ab. Erst der Treibl'aubfall befreit diese Pflanzen von den überflüssigen Blättern. Sobald sie nämlich zu treiben be- ginnen, fällt das verdorbene Laub sofort ab. Auch an Nadelhölzern kommt der Treiblaubfall vor. Wiesner kultivierte in einem Topf im Kalthause einen TaxuS von 1 Meter Höhe. Dieser besaß, be- vor er zu treiben anfing, 287 Zweige mit etwa 17 000 Blättern. Täglich verlor er im Durchschnitt 9,3 Nadeln. Als aber am 18. April die Knospen zu schwellen begannen. verlor er täglich durchschnittlich 21 Nadeln. In der Zeit des regsten Treibens, vom 28. April bis 7. Mai fielen im Durchschnitt jeden Tag 510 Nadeln. Später entwickelten sich die jungen Triebe lang- sanier und der Blattfall belief sich nunmehr auf 131 Nadeln pro Tag. Als aber der Trieb gänzlich nachließ, wurde die Zahl der täglich fallenden Nadeln wieder ganz klein. Manche sommergrünen Pflanzen, z. B. die Eichen, verlieren auch erst ihr Laub, das sie allerdings in gänzlich abgestorbenem Zustande den Winter über an den Zweigen behalten, zur Zeit der neuen Vegetation. Sie haben also auch einen Treib- laubfall. Wiesner stellte mit dürrem Laub voll besetzte Zweige der Zerreiche ins Kalthaus. Die Knospen ivaren noch in der Wintcrruhe und die Blätter saßen fest an den Zweigen. Selbst als die Knospen zu schwellen begannen, hingen die Blätter noch so fest, daß man sie nur mit einer gewissen Krastanstrengung von den Zweigen losreißen konnte. Indessen als die Knospen sich öffneten, und der Trieb begann, da fielen die Blätter ganz von selber ab. Der Abfall begann von den Spitzen der Zweige aus, es fielen dem- nach die jüngsten Blätter zuerst ab, die ältesten am spätesten. Die Reihenfolge der abfallenden Blätter richtet sich also nicht nach dem Alter, sondern nach dem Zustand der Knospen, an denen jene stehen. Die kräftigsten Knospen befinden sich bei der Eiche am Ende des Sproffes, von hier aus nimmt nach der Basis der Zweige hin die Stärke und Triebkraft der Knospen ab. Wo also die Knospen am stärksten treiben, da fallen die Blätter zuerst. Die Pflanze spart sich so gewissermaßen die LoSlösung der Blätter, die den jungen Trieben das Licht wegnehmen lvürde, bis zur letzten Minute auf.— Notizen. — Andersens Märchen undGe schichten. Ausgewählt vom Hamburger Jugeudschriften-Ausschuß für Kinder vom 13. Jahre an und für Erwachsene. Buchschmuck und Bilder von Ernst Eittier, Hamburg.— Dieses von organisierten Arbeitern zusammengestellte Buch ist 160 Seiten stark, ist auf gutes Papier gedruckt, die Schrift ist groß und deutlich. Beigegeben sind 19 ganzseitige bunte Bilder und 20 farbige Initialen. Der Preis stellt sich auf 1,25 M., wenn 8 Exemplare auf einmal bestellt werden. Versandstelle: A. Look, Hamburg 6, Sedanslr. Nr. 9.— Das Buch kann empfohlen werden.— — Im Verlage von C. H. Beck, München , erscheint in den nächsten Tagen der erste Band eines zweibändigen Werkes über Schiller aus der Feder Karl Bergers.— — Otto E r n st's politisches Schauspiel„Bann er mann" erzielte anr Burgtheater einen Achttmgserfolg, in Frank- furt a. M. einen lebhaften äußeren Erfolg.— — Gut aufgenommen wurden bei der Erstaufführung: KonradDrehersPosse„Münchener Leben" im Münchener Gärtnerplatz-Theater;„Schule des Lebens", ein vieraktiges Schauspiel von Ludwig Bäumet st er, im Hoftheater zu Stuttgart.— — Das Wiener Raimund-Theater hat das vieraktige Schauspiel„Schmelz , d e r Ni b e l u ng e" vonFranzAdami erworben.— — Hugo v. HofmannSthals neues Drama führt den Titel„Jedermann" und ist ein„geistliches Spiel". Dem Werke liegt eine Vorlage aus dem Englischen vom Anfang des 16. Jahrhunderts zugrunde.— o. Ein Hotel für Frauen. In New Jork gibt es em Hotel, das ausschließlich für Frauen bestimmt ist. und zwar für solche, die geschäftlich tätig sind oder nur gelegentlich in New Jork zum Besuch weilen. Das„Martha Washington Hotel", so nennt es sich, kann über 400 Personen aufnehmen; die Preise betragen 4 M. täglich und darüber. Für ständige Bewohnerinnen, die möblierte oder unmöblierte Zimmer haben können, werden besondere Preise vereinbart.— Vorwärts Buchdruckerei u. Verlagsanstalt Paul Singer LcCo., Berlin S\V!
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21 (29.11.1904) 234
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