Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 189.

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Sonnabend. den 29 September.

( Nachdruck verboten.)

Die Sandinger Gemeinde.

Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann . ( Schluß.)

Noch während der Nachhausefahrt war der Geheime Etatsrat ganz erfüllt von diesem jungen Bauern und sprach darüber mit seiner Tochter, die indessen seinen Geschmack nicht teilte.

Mir gefällt er gar nicht," sagte sie mit ihrer harten Stimme. Er war so widerwärtig friechend."

"

,, Ach was, der richtet sich schon gerade auf!" " Ja, das ist's ja, was ich fürchte. In zehn Jahren ist er Reichstagsabgeordneter. In zwanzig Jahren vielleicht Minister. Warte nur, der Holzschuhfuß wird schon aus den Leistenschuhen zum Vorschein kommen."

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Nun, nun! Du bist auch immer so schonungslos, Agnete!"

Sie zuckte die Achseln.

" Ich begreife nicht, daß Ihr nicht sehen könnt, wie er sich vor Euren Augen lustig über Euch macht. Ihr glaubt, daß er naiv ist. Ich danke! Er ist flüger als Ihr alle mit­einander. Das werdet Ihr schon merken!"

"

Ach, Du redest!" sagte der Vater. Du mußt doch zu­geben, daß er hübsch und warm von Knud sprach!" Hierauf erwiderte sie nichts. Der Klang von Knuds Namen brachte ihr Tränen in die Augen. Sie hatte es heute abend deutlicher denn je empfunden, daß er unwiderbringlie für die gute Gesellschaft verloren war. Die Macht, die die Mutter auf ihn ausübte, war zu stark. Und doch konnte sie nicht auf ihn verzichten. Troß allem bewahrte sie ihm ihre Liebe. Wahrscheinlich würde er jetzt den graden Weg zur Erniedrigung einschlagen. Er würde Volksführer werden, Rednertribünen- Tenor, Popularitätsjäger, um schließlich wie Jensen- Damgaard als Reichstagsabgeordneter und vielleicht als Minister zu enden. Und troß alledem würde sie ihn lieben!

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17.

In der kleinen Lehmhütte am Abhange der Sandinger Hügel waren die Tage unter fümmerlichen Kämpfen um das tägliche Brot dahingegangen. Den Tod hatte man soeben von der Tür zu verscheuchen vermocht, aber der Hunger, sein Schatten, war der tägliche Gast des Hauses geworden. Es hatte Zeiten gegeben, wo das trockene Brot fehlte.

Damals, als der Winter von dannen schmolz, und der Frühling anfing, wieder Fuß zu fassen, war Lavs soweit zu­sammengeflickt, wie es sich machen ließ. Aber ein Krüppel würde er sein Leben lang bleiben, und seinen Verstand bekam er auch nicht wieder.

Er war am ganzen Unterkörper, der mehr und mehr dahinwelfte, gelähmt. Das eine Auge war ganz geschlossen; und über dem anderen hing das schwere Vid so tief herab, daß nur eine schmale Rize übrig blieb, unter der man die schwarze Bupille sich hin und her bewegen sah. Meistens lag er im Bett und lallte wie ein Kind. Aber wenn die Sonne auf die Giebelmauer schien, nahm Lone ihn in ihre Arme und brachte ihn draußen auf einem Strohbündel so an, daß er den Rücken gegen die Mauer stüßen konnte. Hier konnte er dann stunden­lang sitzen und durch die schmale Augenrizze blinzeln wie ein Frosch.

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Im Dorfe begriff man nicht, wie die Familie ihr Leben fristete. Lone hatte einmal über das andere verweigert, die Hülfe anzunehmen, die die freie Armentasse der Gemeinde deren Vorsteher der Freischullehrer Povelsen war, ihr angeboten hatte. Auch im Kirchspiel war sie nicht um Unter­ftüßung eingekommen, man wußte nur, daß sie Webearbeit von einem Kaufmann in der Nachbarschaft bekommen hatte, und daß Leute, deren Weg an dem Hause vorüberführte, oft mitten in der Nacht Licht gesehen und den Webstuhl hatten Flappern hören.

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Jezt drang die Nachricht von Boels Flucht aus dem Kopenhagener Hause, wo man sie so menschenfreundlich auf­genommen hatte, bis in das Dorf. Frau Gylling hatte selber an Pastor Momme geschrieben und ihn ersucht, der Mutter

1906

so schonend wie möglich" die niederschmetternde Nachricht zu übermitteln. Die Betrübnis unter Boels vielen alten Freundinnen und Gönnern war groß, und sie hatten auf­richtiges Mitleid mit ihr. Es seien, so sagten die Alten, die Sünden der verhärteten Mutter, die an ihrem armen Kinde heimgesucht würden.

Eines Nachmittags ging dann Pastor Momme nach dem kleinen Haus auf den Hügeln hinaus, um Lone die traurige Mitteilung zu machen. Rone saß am Webstuhl und hielt nur inne mit ihrer Arbeit, um dem Geistlichen einen Stuhl leer zu machen und ihm Platz zu bieten. In dem Bett, ganz ver­funken in das verpestete Stroh, lag Lavs und lallte. Rings umher im Zimmer standen die vielen blassen und scheuen Kinder in ihren schrecklichen Zumpen und starrten ihn mit großen, hungrigen Augen an.

Die Mitteilung des Pfarrers machte offenbar keinen Eindruck auf Lone. Es war, als habe sie sie erwartet. Sie sagte nur: Na, dann weiß ich das ja auch." Der Pastor wartete einen Augenblick, aber es fam wirklich kein Wort mehr. Er drückte die Brille fester gegen die Augen und beobachtete sie scharf, aber es glitten auch keine verborgenen Tränen an ihren Wangen herab.

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Da packte ihn ein angstvolles Entsetzen, ein Schrecken, der die Seele dem Rätselvollen gegenüber aufschreckt. Denn trotz allem glaubte er im Grunde nicht mehr, daß Lone so ein Unmensch war, zu dem man sie stempeln wollte. Der stumme Kampf, den sie diesen Winter geführt hatte, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, hatte ihm nach und nach einen anderen Eindruck von ihr gegeben. Nur begriff er nicht, woher sie diese zähe Kraft der Selbstaufopferung schöpfte, die ihm seine Bewunderung abgezwungen hatte. Er, der Ver­fünder des Liebesevangeliums, wußte nicht oder wollte es nicht wissen, daß auch im Haß und im Troß eine leben­erhaltende Macht liegen konnte, die sogar die Lasten trug, unter denen die Liebe erlag.

Er sah sich um in dem dunklen, feuchten, verpesteten Raum mit all seinem Elend und seinem stummen Jammer. Und er rief gemartert und fast verzweifelt aus:

" Lone! Lone! Wie halten Sie nur einmal dies Leben aus! Das ist ja entsetzlich! Woher nehmen Sie die Kraft? Trinken Sie?"

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,, Nein!" antwortete sie ruhig. Das ist nicht wahr. Sie müssen trinken! Wie Woher nehmen Sie halten Sie sich sonst wohl aufrecht? die Kraft?"

Sie gab ihm keine Antwort.

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Ueber den Sandinger Wiesen wechselte jetzt Sommer mit Winter und Herbst mit Frühling, so wie überall auf der Erde. Boels Geschichte gehörte bald der Vergangenheit an, und sie selber wurde schnell vergessen. Ueber ihr Geschick verlautete hin und wieder ein Gerücht in der Gemeinde, aber etwas Zuverlässiges wußte niemand. So wurde einmal erzählt, ein Knecht dort aus der Gegend habe sie als Kellnerin in einer sehr ordinären Schenkwirtschaft in Christianshafen getroffen. Andere wollten wissen, daß sie später noch tiefer gesunken war, ins Namenlose hinein-, aber, wie gesagt, bestimmtes wußte man zunächst nicht.

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Schließlich stellte es sich aber doch heraus, daß sie mit einem Schlächter verheiratet war, den sie in besagter Wirt­schaft kennen gelernt haben sollte. Die Küsterfrau Stine brachte die Neuigkeit unter die Leute, und sie hatte sie von einem umherziehenden Hühnerhändler, der selbst mit Boel gesprochen hatte, so daß kein Grund vorlag, an seiner Zu­verlässigkeit zu zweifeln. Nach Aussage des Händlers sollte fie und ihr Mann in ganz guten Verhältnissen leben; sie hatten einen Fleischverkauf in einer der Schlächterbuden an der Nikolaikirche, wo Boel selber hinter dem blutigen Tisch von allen Schlächter­stand, jung und schön und gedeihlich

Außerdem gesellen wie eine Königin der Halle verehrt. hatten sie eine kleine Wurstfabrik in einem Keller in der Weinhofstraße angelegt außer der, die wir im zweiten Stockwerk haben," wie ihr Mann in bezug auf ihre Wohnung in demselben Hause geäußert hatte, wo ein paar dralle kleine Bengel schon auf dem Fußboden umhertründelten.