Hoffentlich hat fie nicht bergeffen, daß wir Henri übermorgen taufen?" bemerkte Adrienne. Uebermorgen?" Ja. übermorgen, den 10. Juni. Vor ihrer Abreise hat Arlette selbst diesen Tag bestimmt." Ich fürchte, sie erinnert sich nicht mehr." Das kann ich mir nicht denken I" Doch! Arlette ist so zerstreut! Auch ihre Briefe sind so konfus! Das einzige, was ich genau weiß, ist, daß Arlette heute abend in Nizza   spielt." Schön. Ich werde ihr telegraphieren. Wenn sie will, mag sie kommen!" In äußerst schlechter Laune ging Madame Marnier nach Hause. Na, die Geschichte ist ja nett!" rief Herr Marnier, als seine Frau von ihrem Besuch erzählt hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir nun auch keine Patin haben. Apropos! es werden zwei Gäste weniger sein. Dein Bater und Dein Bruder. Eben war Dein Vater hier, es mir sagen.Madame Planet", erklärte er, will partout nicht kommen. Unter solchen Umständen begreisen Sie wohl, ist es meine Pflicht Die Pflicht schien ihn sehr zu ärgern! Er ließ sich die Speisenfolge sagen, und sein Aerger wuchs." Das glaube ich. Und mein Bruder?" Bleibt bei seinen Eltern, wie es seine Pflicht ist." Die Taufe läßt sich ja gut an I" Wenn wir sie aufschieben möchten?" Um keinen Preis 1" Der Tag, an dem ihr Söhnchen getauft werden sollte, erhielt bei den Marniers den BeinamenDer Depeschentag". Um!1 Uhr früh kam ein Telegramm aus Nizza  . Die Patin erschöpfte sich in Entschuldigungen. Ihr Gastspiel sei derartig erfolg- reich, daß sie sich entschlossen hätte, dasselbe zu verlängern. Sie hoffe, daß die Taufe sich bis zum nächsten Monat verschieben lassen würde. Verrechne Dich nur nicht I" wütete Madame Marnier. Um 10 Uhr ein zweites Telegramm: Die Noifots sagten ab, weil Herr Roifot unwohl sei. Um 11 Uhr abermaliges Erscheinen des Depeschenboten, der dieses Mal zwei Telegramme brachte: zwei Familien drückten ihr Bedauern au?, im letzten Augenblick der Einladung der Marniers nicht Folge leisten zu können. Um 12 Uhr ein fünftes Telegramm: die Tante de? jimgen Vaters kam nicht, da ihr Mann sich am Tage vorher den Fuß ver- sstaucht hatte. Herr und Madame Marnier sahen einander an. Adrienne war ehr blaß. Wir sind nur noch sieben!" sagte sie matt. Vorausgesetzt, daß wir keine weiteren Absagen erhalten l" Laufe zum Trniteur, bestelle die Fischpastete ab und sage, man soll nur eine halbe Eisbombe schicken I" Wenn's noch nicht zu spät ist!" Die Bombe ließ sich noch halbieren, für die Fischpastete war es schon zu spät. Was fangen wir mir mit dem ganzen Esieu an?" entsetzte sich Adrienne.Wir haben eine Fischpastete für zwanzig Personen, acht Pfund Filet, fünf Pfund Gemüse, drei Hühner" Wenn wir Deine Eltern einladen möchten?" Ach ja! Soge ihnen, Pate und Patin hätten uns im Stich gelassen, es fände keine Taufe statt, bloß ein einfaches Diner!" Die Planet  '? ließen sich nicht lange bitten. Wenn es keine Taufe ist" erklärte Madanie Planet. Wir kommen I" bekräftigte Herr Planet, dessen Augen in Er- Ivartung der kulinarischen Genüsie zu ftinkeln begannen. Anfänglich war die Stimmung eine ziemlich gedrückte, bald aber taten der Wein und die guten Speisen ihre Wirkung, und die Fröhlich- keit trat in ihre Rechte. Madame Planet war taktvvll genug, nicht laut zu triumphieren, wenngleich ihre Genugtuung augenscheinlich war. Sie, die in der Regel das Essen kaum berührte, heute fiir zwei. Die Freude, ihre Tochter gedemütigt zu sehen, gab ihr Appetit. Nur Madame Marnier hatte keinen Hunger. Kleines f eullleton» Das Lied des Lebens.(Aus dem Russischen.) Es ist noch nicht lange her.--- Im Schweigen des grauenden Tages, d?S bleichen Folget? der dunklen Nacht, und in der toten Stille dieser Nacht fror jeder Gedanke zu Eis, das Gehirn verweigerte die Arbeit, die Sprache versagte ihren Dienst. Still und tot ruhte die Erde und ringsum nur Grausen und Schrecken. Still und geräuschlos lebten die Menschen dahin, still und ruhig gingen sie ihrer Arbeit nach, aßen und tranken sie, still und ge- horsam ertrugen sie die rauhe Hand des Schicksals, still und un- merklich stiegen sie in die Gräber hinab. Still und tot ruhte die Erde und ringsum war nur Grausen und Schrecken. Etwas Großes, Schwarzes und Kaltes schien über allem zu liegen, über den Städten, über den Menschen, über ihrem Kummer und Glück, über ihrer Freude und ihrem Gram; etwas Kaltes, Schlüpfriges, wie eine Schlange, bedeckte mit kaltem Leib die ganze Welt. Und nirgends ein Lichtschimmer. Wo aber durch diese Hülle des Schreckens ab und zu dennoch schwache, zitternde Strahlen des Lichtes durchdrangen, dahin krochen von der großen Schlange her kleine Schlänglein, dünne und dicke. große und kleine; sie krochen unheimlich schnell heran, wanden sich und zischten rings in der kalten, lichtlosen Finsternis. Und wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, wo die Lichtstrahlen ein kleines, schmales Streifchen der Erde beleuchteten, da legten sie sich an diese Stelle; das Licht fiel auf sie, und die dünnen, zitternden Strahlen spielten auf den schillernden Schuppen und zerstreuten sich darauf. Und von neuem versank alles in tiefe Finsternis. Still und tot ruhte die Erde.... Aber plötzlich hörte man ein Lied ertönen. Ein leises, be- trübtes Lied drang aus weiter Ferne zu den Ohren der Menschen, eine ferne, unbekannte Stimme sang vom grauen Leben der Ge- ringen unter den Menschen, sang von ihrem Kummer und Leid, sang von der Finsternis, die die ganze Erde wie ein Schleier be- deckte, sang von den Schlangen und dem Gewürm, das die Menschen wie Fesseln umklammerte und auf den Menschen lag; und in dieser Stimme tönte wieder das Schluchzen, die Tränen und Seufzer der kranken und gequälten Seele.   In diesem Liebe erklang der Ton einer vollen Sehnsucht, einer Sehnsucht nach Licht, Sehnsucht nach Menschlichem, quälende Sehn- sucht nach dem wirklichen, wahren Leben, und seine Laute waren ruhig, still und schwermütig, aber tief rührend. Mit angehaltenem Atem hörten die Menschen dem Liede zu; ihre Seelen schienen weit in die Ferne zu fliegen und mit diesem Liede zusammenzuschmelzen, ja, das Lied schien ganz und gar eins zu sein mit den Seelen der Menschen. Da lauschten sie noch auf- merksamer auf jedes Wort, jeden Laut des Liedes, und begannen still zu weinen. Die Schlänglein aber krochen unterdessen, beunruhigt durch das Lied, boshaft zischend heran zu den Menschen und zu jenem frechen Sänger, der die Ruhe zu stören wagte. Aber von neuem drangen die Strahlen durch, heller wurde es, und leichter war es, zu atmen. Und die Stimme sang und wurde immer stärker. Näher und näher kam sie den Menschen, mehr und mehr wurden fie von ihr ergriffen, und tiefer drangen ihre Laute in die Herzen der Zuhörer. Und wie das Lied noch kraftvoller wurde, wie es noch wuchs, da wurde es plötzlich mitten im Gesang abgeriffcn. Und gleichzeitig riß auch die leise klingende Seite in den Seelen der Menschen. Still wurde es wieder auf der Erde... Ein furchtbarer, quälender Moment war eingetreten: Finsternis und Licht rangen miteinander. Da plötzlich ertönte gerade neben den Menschen eine neue Stimme, die sang ein mutiges und machtvolles, kräftiges und voll« tönendes Lied, ein Lied der Kämpfer für die Freiheit und für das Leben. Und von neuem horchten die Menschen auf, von neuem schmolzen ihre Seelen mit dem Liede zusammen; von neuem begannen die Schlangen und das Gewürm zu kriechen und sich zu winden. Das Lied aber wuchs und breitete sich aus. Immer mehr. Die Wogen der stürmischen und kraftvollen Laute würden höher und höher getragen, stiegen bis zu den Wolken, wurden vom Wind über die ganze Erde zerstreut und wie ein hallendes Echo weit, wert aus der Ferne zurückgeworfen. Und das Lied schien schon nicht mehr von einer Stimme ge- sungen, sondern von Millionen von Stimmen, die sich vereinigt hatten zu einem stürmischen, großen, machtvollen und furchtbaren Gesänge, groß und mächtig wie die Nation selber. Und mit jedem neuen stärkeren und kräftigeren Laute dieses Liedes wand sich und zog sich mehr und mehr zusammen die ungeheuere, große, schwarze und kalte Schlange, schneller und schneller versteckten sich die kleinen Schlangen und Gcwürmc. Und das Lied wurde stärker und breitete sich weit und immer weiter aus. Und über allem, über dem Lied, über der Erde, über den Menschen, über den zuckenden Schlangen, dem zugrunde gehenden Gewürm geht allmählich auf die helle, strahlende Sonne. w. Michaclistag. Der Beginn desLichtarbeitens" wird vielfach am 29. September, dem Mickxzclistage, gefeiert. Denn wie um Mariä Verkündigung oder zu Ostern der Sommer seinen An- fang nimmt, so endet er zu Michaeli, und dieser Tag wird daher nicht nur in Deutschland  , sondern auch in Dänemark  , Schweden  , Flandern   und England festlich begangen. In Nauen   wird nicht auf dem Felde gearbeitet, in der Altmark nicht gesponnen, in Ober- und Niedcrsachien, in Schwaben   und Bayern   bei den Handwerkern nicht eher bei Lichte gearbeitet, bis der Lichtbratcn oder dieLicht- gans" gegessen ist. Bis zu Ende des 18. Jahrhunderts, wo die Polizei und die Zeitvcrhältnisse mancherlei Einschränkungen ge- boten, war in Ulm   der Lichtschmaus mit Musik, bisweilen selbst mit öffentlichen Aufzügen verbunden, und in Wür-�urg buk man zur Feier desselben eigene Wecken, welche Michelswcckcn hießen. Auch in Flandern   backt man zum Michaclistage rollerte, eine be- sondere Art Weißbrot, das man den Kindern des Nachts heimlich unter das Kopfkissen steckt, damit sie des Morgens beim Erwachen