Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 203.

Freitag, den 19. Oktober.

1906

( Nachdruck verboten.)

Es gibt einen Dichter, der singt:

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Der Sumpf.

Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. Eines Tages floß Regen in Strömen. Es war im Dezember, und so einen ganzen Tag mit nassen Kleidern in Browns Keller zu siten, war keine Kleinigkeit. Ona besaß keinen Regenmantel und feine Gummischuhe. Deshalb fette Jurgis fie in einen Straßenbahnwagen. Nun wollten aber die Eigentümer der Bahn recht viel Geld verdienen, und als die Stadt an sie das Verlangen stellte, Umsteigekarten auszugeben, ärgerten sie sich darüber. Zuerst stellten sie des halb die Regel auf, daß die Umsteigekarten an die Fahrgäste ausgegeben würden, wenn das Fahrgeld bezahlt war, und schließlich stellten sie noch ein schifanöses Reglement auf. Die Fahrgäste mußten nämlich den Umsteigeschein ver­langen; dem Kondukteur war verboten, ihn anzubieten. Nun hatte Ona gehört, daß sie eine Unisteigekarte haben mußte, aber es lag nicht in ihrem Wesen, sie zu fordern, und so wartete sie ab und wunderte sich nur über den Kondukteur. Erst als sie aussteigen mußte, bat sie um den Umsteigeschein und erhielt eine abweisende Antwort. Da sie nicht wußte, was sie nun machen sollte, begann sie mit dem Kondukteur zu verhandeln, aber in einer Sprache, von der er kein Wort verstand. Nachdem der Kondukteur Ona ein paarmal ge­warnt hatte, zog er die Glocke und der Wagen fuhr weiter. Ona brach in Tränen aus. An der nächsten Ecke stieg sie selbstverständlich aus, aber da sie kein Geld mehr hatte, so mußte sie den Weg nach den Höfen bei strömendem Regen zu Fuß machen. So saß sie den ganzen Tag frierend im Keller und kam abends zähneklappernd und mit Schmerzen im Kopf und im Rücken heim.

Während zweier Wochen litt sie furchtbar und mußte sich doch jeden Tag zur Arbeit schleppen. Die Aufseherin war besonders streng gegen Ona, da sie die junge Frau für wider spenstig hielt, weil ihr der freie Tag nach der Hochzeit abge­schlagen worden war. Ona aber glaubte andererseits, der Aufseherin gefiele vielleicht nicht, wenn ihre Mädchen heirateten, wohl weil sie selbst häßlich, alt und unverheiratet So stellten sich mancherlei Ereignisse ein, bei den der Zufall gegen sie war. Auch die Kinder fühlten sich hier nicht so wohl wie in Litauen . Wer unter ihnen fonnte denn ahnen, daß sich kein Abzugskanal in ihrem Hause befand und daß die Senfgrube in 15 Jahren nicht ausgeleert war? Wer konnte wissen, daß die blasse Milch, die sie an der Ecke fauften, ge­wässert und zugleich mit einem künstlichen Konservierungs­mittel versetzt war? Wenn in Litauen die Kinder erkrankten, so hatte Teta Elzbieta Kräuter für sie gesammelt und sie da­mit furiert; jetzt mußten sie nach der Drogerie gehen und Ertrakte kaufen. Wie aber konnten sie wissen, daß diese Ertrakte alle verfälscht waren? Wie konnten sie heraus­bekommen, daß ihr Tee und ihr Kaffee, ihr Zucker und ihr Mehl mit Gott weiß was gemischt, daß ihre Büchsenbohnen mit Kupferfalz gefärbt waren und die Marmeladen mit Anilin? Aber selbst, wenn sie es gewußt, wo hätten sie andere Sachen kaufen sollen? Der bittere Winter fam, und sie mußten Geld sparen, um Kleider und Betten zu kaufen. Und doch half das Sparen zu nichts, denn sie konnten doch nichts finden, was wirklich warm hielt. Alles Zeug in den Läden war aus Baumwolle und Shoddy gemacht, also von Lumpen. Wenn sie höhere Preise bezahlten, so fonnten sie ja wohl äußerlich hübsche Sachen bekommen, oder aber auch betrogen werden; wirklich gute Qualität bekam man hier nicht für Geld und gute Worte. Ein junger Freund Szedvilas, der gerade vom Ausland gekommen, erzählte mit Vergnügen einen Kniff, mit dem er einen vertrauensvollen Landsmann betrogen hatte. Der Kunde hatte eine Weckuhr zu kaufen gewünscht, und der Kommis hatte ihm zwei ganz gleiche ge­zeigt und ihm gesagt, die eine foste 1 Dollar, die andere 1 Dollar 75 Cent. Auf seine Frage, worin der Unterschied bestände, hatte der Mann einfach die erste halb und die zweite ganz aufgezogen und darauf aufmerksam gemacht, daß die zweite doppelt so viel Lärm machte. Darauf hatte der Kunde dann gemeint, weil er einen sehr tiefen Schlaf hätte, so wolle er lieber die teure Uhr nehmen.

Deeper their heart grows and nobler their bearing, Whose youth in the fires of anguish hath died.*)

Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß er damit die Angst gemeint hat, welche so unendlich bitter und grausam ist und doch so häßlich und so kleinlich, so demütigend die mit der Not kommt ohne den leisesten Anstrich von Würde oder nur Pathos! Das ist eine Angst, mit der die Poeten gewöhnlich nicht rechnen, denn der Ausdruck dafür ist ihnen nicht gegeben. Von dieser Angst wird in feinen Kreisen nicht gern gesprochen. wie kann denn auch ein Dichter hoffen, Sympathie bei Liebhabern schöner Literatur zu erlangen, wenn er davon erzählt, wie eine Familie ihr Heim voll Ungeziefer findet? Wenn er alle die Leiden und Unannehmlichkeiten, alle die Demütigungen schildert, die den Leuten dadurch entstehen? Und wenn er um das schwererworbene Geld flagen wollte, das sie fortwerfen müssen, um davon befreit zu werden? Nach langem Zögern und Zweifeln zahlen sie 25 Cent für ein dides Paket Insektenpulverein patentiertes Präparat, das sich in der Hauptsache als Gips herausstellt und kaum 2 Cent wert ist. Selbstverständlich hat es nicht die geringste Wirkung, außer für gierige Ratten, die das Unglück hatten, Wasser zu saufen, nachdem sie es verschluckt und sich den Magen dadurch vergipsten. Die Familie aber, welche die Fälschung nicht ahnt und fein Geld mehr wegzuwerfen hat, fann weiter nichts tun, als sich darein ergeben und auch dieses Elend zu ertragen.

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Da war der alte Antanas! Der Winter kam, und der Platz, wo er arbeitete, war ein dunkler, ungeheizter Keller, wo du alle Tage deinen Atem sehen konntest und deine Finger erfroren! Des alten Mannes Husten verschlimmerte sich täglich, bis eine Zeit kam, da er eine Plage für seine Mitarbeiter wurde. Später traf ihn noch etwas viel Schreck­licheres. Er arbeitete an einer Stelle, die mit Säuren ge­tränft war, und es dauerte nicht lange, so hatten diese seine neuen Stiefel zerfressen. Dann brachen Geschwüre an seinen Füßen auf und wurden schlimmer und schlimmer. Ob sein Blut nicht gut war oder er sich geschnitten hatte, war nicht festzustellen. Er fragte dann seine Mitarbeiter um Rat und erfuhr, daß es sich um etwas ganz Gewöhnliches handelte es fam vom Salpeter. Jeder hatte darunter zu leiden, früher oder später. Und dann war es für ihn, wenigstens mit dieser Arbeit, vorbei. Die Geschwüre würden nicht heilen, und wenn Antanas nicht fortginge, würden ihm die Zehen abfallen.

Der alte Antanas wollte nicht fortgehen; er sah die Leiden seiner Familie und wußte, wie schwer es hielt, andere Arbeit zu bekommen. Deshalb umwickelte er seine Füße und humpelte hustend umher, bis er wie ein abgetriebenes Pferd zusammenbrach. Sie trugen ihn auf eine trockene Stelle und legten ihn auf den Fußboden. Abends waren ihm zwei Männer beim Nachhausegehen behülflich. Der arme alte Mann wurde zu Bett gebracht, und obgleich er bis zulezt jeden Morgen versuchte, aufzustehen er vermochte es nicht mehr. Er lag da und hustete, huſtete Tag und Nacht und magerte zu einem Stelett ab. Es kam eine Zeit, da hatte er so wenig Fleisch, daß die Knochen durch die Haut famen, was schrecklich anzusehen war. Und in der einen Nacht bekam er einen Blutsturz ein Strom von Blut schoß aus seinem Munde. Ganz entsetzt vor Schrecken schickte die Familie nach dem Arzte und bezahlte einen halben Dollar, nur um dafür zu erfahren, daß hier nichts mehr zu machen sei. Der Doktor sagte das nicht in Hörweite des alten Mannes, denn dieser flammerte sich immer noch an die Hoffnung, daß ihm morgen oder übermorgen besser sein würde und er dann zur Arbeit gehen könnte. Seine Gesellschaft hatte bestellen lassen, oder vielmehr daß die Stelle für ihn freigehalten würde Jurgis hatte einen Mann gebeten, diese Botschaft auszu­richten. Dede Antanas glaubte daran, obwohl noch weitere vier Anfälle kamen.

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Eines Morgens fanden sie ihn steif und kalt. Ihre Lage war eine sehr traurige und, obgleich Teta Elzbietas Herz beinahe darüber brach, sie waren gezwungen, auf eine mur

*) Wärmer schlägt das Herz, größer wird die Würde, Wem die Jugend starb in Gluten der Angst.