Kleines Feuilleton.

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Alus D. E. Hartlebens Briefwechsel. In der Neuen Rund­schau" wird der Briefwechsel O. E. Hartlebens mit seiner Ges liebten und späteren Frau in Auswahl veröffentlicht. Er erstrect fich von 1887 bis zu seinem Tode( 1905). Unsere Leser werden einige Stüde interessieren von dem jungen Hartleben , der der sozialistischen Bewegung nahestand. In einem Briefe vom 17. No­bember 1889 schreibt er:

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" Germinal" im Volksblatt", dem Vorgänger des Vor­tvärts", ist von demselben Zola , der die Mutter Erde" geschrieben hat. Er erwähnt in seinen Romanen freilich manches, was andere Romanschriftsteller aus sogenannter Wohlerzogenheit verschweigen aber das geschieht aus dem echt fünstlerischen Drange, den Ein­druck der Lebenstreue und Lebenswahrheit des Erzählten zu erhöhen, unsere Jllusion, daß wir es mit dem wirklichen zu tun hätten, zu verstärken. Der Romanschriftsteller schreibt seinen Roman nicht, um einem männlichen und weiblichen Damenpublikum seine Wohl­erzogenheit zu beweisen oder zu erhärten, sondern um ein treues und ergreifendes Abbild des wirklichen Lebens zu geben. Das im Germinal " geschilderte Elead der Bergarbeiter ist teineswegs übertrieben. Ein Jahr nach Erscheinen des Romans brachen in Belgien die großen Streits aus, welche sich fast wie nach dem Rezept des Zolaschen Homanes abspielten und welche Zustände enthüllten, die zum mindesten ebenso entseßlich waren, wie die von Bola ge­schilderten. Du würdest hierzu leicht die Belege finden tönnen, wenn Du das Boltsblatt" gelegentlich auch mal über den Feuille tonstrich nachlesen wolltest."

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Von Bildungsfragen spricht ein Brief vom 26. November 1889: Du weißt ja, wie wenig ich auf die sogenannte Bildung" Wert lege, wie widerlich mir die Gesellschaft der Gebildeten" ist. Wir wollen Menschen, wirkliche Menschen, aber keine Gebildeten" fein, welche sich wegen irgend welcher angelernten Dinge für wert­bollere Geschöpfe halten als ihre Mitmenschen. Aber außer jener Bildung" in Anführungszeichen, außer der gesellschaftlich sanktio­nierten und mit möglichster Engherzigkeit uniformierten Bildung, gibt es noch eine andere, jene, von der man sagt," Bildung macht frei!", d h. frei von den stumpfsinnigen Vorurteilen der legitimen Gesellschaft. Das ist eine Bildung, welche in dem Begriff Mensch fein" enthalten ist. Sie geht nicht auf Aeußeres und Angelerntes ihr Wesen ist selbständiges Dente, natürliches Fühlen, das ist die Bildung, welche wir erstreben, die einzige, welche für uns Wert hat. Das sage ich Dir alles, um nicht den trüben Gedanken in Dir aufkommen zu lassen, als ob, indem ich darauf bestehe, daß Du orthographisch schreibst, ich in dieser Aeußerlichkeit ein Sympton Deiner Unzulänglichkeit, Unebenbürtigkeit oder dergleichen erblickte. Meinetwegen fönntest Du Zeit Deines Lebens mit tonstanter Bos­heit das" statt daß" schreiben, ich meine, meine Wertschäzung Deiner Persönlichkeit würde dadurch nicht modifiziert, ebensowenig, wie Du in meiner Achtung steigen würdest, wenn Du nun wirklich lernst fehlerfrei zu schreiben. Aber es handelt sich nicht um mich, sondern um Dich und andere. Und erst indirekt, indem ich dar­unter leide, wenn ander Dich nicht für voll nehmen, berührt diese Frage auch mich."

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Wie Hartleben über Liebe und Ehe dachte, spiegelt eine Aus­einanderseßung vom 8. Juni 1893 wieder:" Die Franzosen nennen eine Geliebte: Maitresse, d. h. auf deutsch :" Herrin", und dieser Bezeichnung liegt ein Verhältnis zugrunde, in dem der Mann nach den Launen und Eigenwilligkeiten des Weibes tanzt und vor ihnen zittert: ein Verhältnis: wie ich es erst jest wieder mit Schauder und Schmerz bei H. beobachtet habe. Du achtest aber, wie ich hoffe, Dich und mich zu hoch, um ein solches Verhältnis zwischen uns zu wünschen. Du verstehst, wie ich hoffe, daß das deutsche Wort Ge­Tiebte, wie ich es auffaffe und mit mir alle, die von der lebenden Generation für die Zukunft in Betracht kommen, auf ein Verhältnis fich bezieht, das alle sittlich ernsthaften und schönen Seiten einer " Che" in sich begreift, ohne die häßlichen und gemeinen Seiten des toirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwanges, der zu 99 Prozent das eigentliche Wesen der bürgerlichen Ehe" bildet. Wenn Du Deinen Verstand zusammennimmst und Dich in diese Anschauung Hineindenkst, die einzige, die menschlich vornehm und zugleich wahr­haft modern ist, dann wirst Du nicht nur eine frohe Sicherheit und Ueberlegenheit unserer Liebe fühlen, die so viel höher geartet ist, als das jämmerliche Gros der Chen, Du wirst auch ein für allemal die stumpfsinnige Sorge um die Zukunft los werden, weil Du Dir fagen mußt, daß es damit wohl recht wenig Gefahr haben muß, wenn ich unseren Bund so auffaffe.( Vorausgesetzt, daß Du Ver­trauen zu mir haft.) Aus den fleinbürgerlichen Anschauungen, in denen Du herangewachsen vist, mußt Du Dich aber losmachen, das ift eine geistige Arbeit, die ich von Dir verlangen darf, wenn ich

das Leben mit Dir teile."

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fich feboch nicht bewahrheiteten. Der Ducheß of Bedford", die von der Britischen und Amerikanischen Geographischen Gesellschaft ausa gerüstet wurde, gelang es nach mannigfachen Schwierigkeiten und mit Hülfe der Waifischjäger die Barrowspiße zu umschiffen, allein in der Camden- Bai geboten die Eisverhältnisse einem weiteren Vordringen nach Osten Halt, und mit Eintritt des Winters be. gannen die Schlittenexpeditionen nordwärts; Stefansson hatte den Landweg gewählt und plante, das Schiff an der Mündung des Mackenziefluffes zu erreichen. So mußte er monatelang unter den Estimos weilen, ehe es ihm gelang, das Echiff, das die Madenzie Bai nicht erreicht hatte, aufzufinden. In den ersten Märztagen wurde der erste Schlittenvorstoß in das zugefrorene Eismeer unter. nommen. Er scheiterte an den unüberwindlichen Eisverhältnissen, wurde dann aber Ende März mit besserem Erfolge wiederholt. Nach einer 60tägigen, entbehrungsreichen Reise traf die Expedition wieder beim Schiffe ein, nachdem sieben von den dreizehn Hunden hatten geschlachtet werden müssen und zwei von den drei Schlitten auf. gegeben waren. Es war ein wenig tröstlicher Empfang, der die Forscher am Winterlager erwartete; das Schiff hatte dem Eisdrud nicht standgehalten, es war geräumt worden und fiel dem Eise anheim. Erst Ende Juli 1907 wurde die Besatzung von dem Wal faschfahrer Belvedere" aufgenommen. Nur Kapitän Mittelsen und Mr. Leffingwell blieben zurück, um im kommenden Winter die Forschungen fortzuseßen; auch Stefansson wird sich ihnen wieder zugesellen und seine ethnologischen Untersuchungen unter den Eskimos weiterführen. Als wissenschaftliche Ergebnisse sind eine Reihe interessanter Neubeobachtungen und hinsichtlich der Meeres­strömungen der Beaufortsee wichtige Berichtigungen der früheren Annahmen zu buchen. Von besonderem Interesse aber sind die einzelnen Beobachtungen und die praktischen Erfahrungen, die Stefansson schon heute mitteilt. Mit dem Einsetzen des Winters mußte man schnell inne werden, daß die bewährten arktischen Aus­rüstungen" der Forscher einen Vergleich mit der Eskimokleidung in feiner Hinsicht aushalten konnten. Die finnischen Stiefel, die Finnsfor", die auch Nansen und andere Polarforscher getragen, wurden von den gewöhnlichen Gefimostiefel sowohl an Leichtigkeit wie an Wärme übertroffen. Ein einfacher, in Norwegen gefertigter Pelzrock wie solche bei fast allen Polarexpeditionen getragen wurden wiegt für sich allein soviel wie eine ganze Eskimoaus­rüstung von Ober- und Unterkleidern mit Stiefel und Handschuhen. Der norwegische Rock ist steif wie ein Segeltuch, die Eingeborenen­kleidung bleibt weich und biegsam wie Lederhandschuhe. Ein gut gemachter Eskimoanzug Soden, Stiefel, Unterkleidung, Bein­fleider, Rock und Kopfschutz wiegt zehn bis elf Pfund, soviel wie europäische Sommerkleidung und damit kann man auf einem Eis­blod figen, den Wind im Raden und in einen geöffneten Wasser­Toch bei einer Temperatur von 10 Grad Reaumur unter Null ge­mächlich fischen, ohne die Kälte anders zu spüren als im Gesicht, dem einzigen Teil, der frei bleibt. Keiner von uns trug noch die ameri fanischen Belzhüllen, und jeder versuchte sich von den Eskimos neue leider zu verschaffen." Bei der ersten Schlittenreise mußte man bald umfehren und brachte die Erkenntnis mit heim, daß die Schlitten von erprobtem arktischem Thpus" für ihre Zwecke nicht besser geeignet waren als die finnischen Schuhe und norwegischen Belze. Zu den mannigfachen Schwierigkeiten gesellte sich noch die Plage der Schneeblindheit, von der Stefansson eine an­schauliche Schilderung gibt. Der Schmerz beginnt nicht unmittel­bar nach der Ueberanstrengung der Augen, die deren Ursache ist. Nach einem langen Rebeltag fühlt man am Abend, wenn man in die Hütte friecht, ein leichtes Juden an den Augen und sobald man sich dem Feuer oder überhaupt der Wärme nähert, beginnen sie zu tränen. Später hat der Kranfe ein Gefühl, als sei ein beizender Rauch im Zelte und dies Empfinden verstärkt sich schnell; es ist, als ob er ein Sandtorn unterm Augenlid hätte, und dies lästige Gefühl verstärkt sich immer mehr. Jede Bewegung verursacht heftige Schmerzen, die dann schließlich auch ohne Bewegung an­halten. Die Bein verstärkt sich immer mehr. Es ist der einzige Schmerz, der selbst dem Estimo Schreie der Verzweiflung entlodt. Nach 24 Stunden mäßigt sich etwas der Anfall; der Kranke bleibt gewöhnlich in seiner Hütte, von draußen hört man ihn jammern und zuweilen aufschreien, mit beiden Händen bedeckt er die Augen, um das Licht fern zu halten. Um zweiten oder dritten Tage ist er dann imstande, wieder zu reisen, aber er ist dann außerordentlich turzsichtig und sieht alle Dinge doppelt. Ist das Wetter neblig und besißt der Krante feine Schneebrille, so mag sich nach einer Woche der Anfall wiederholen. Jeder Anfall schwächt die Augen mehr, und nach der Annahme der Eskimos führt eine öftere Wiederholung schließlich zu völliger Blindheit, ein lebel, das unter den Eskimos start verbreitet ist. Die Gingeborenen glauben, durch Schonung der Schkraft und durch ein unausgefehtes Hinstarren auf dunkle Gegenstände, z. B. auf einen schwarzen Hund im Gespann, sich am sichersten gegen die Schneeblindheit zu wappnen. Diefelbe Anschau­ung ist unter den Mannschaften der berittenen Royal North West Bolizei verbreitet, die durch ihren Beruf in die arktische Bone ge­führt werden und in den Ebenen des Nordwestens oft von der Schneeblindheit heimgesucht werden. Nichts mag die furchtbaren Qualen der Schneeblindheit deutlicher zu erklären als die Tatsache, daß alljährlich im Frühjahr mehrere Selbstmordfälle in der Polizei zu verzeichnen sind, die nur auf die Unfähigkeit, die Schmerzen länger zu ertragen, zurückzuführen sind."

Von der Polarexpedition Kapitän Mikkelsens. Von dem bis­herigen Berlaufe der angloamerikanischen Polarexpedition unter dem dänischen Kapitän Mikkelsen, die im Mai 1906 von Viktoria in Britisch- Kolumbia auslief, um die schwer zugängliche Nordküste von Alaska und die Verhältnisse der Beaufortsee zu erforschen, gibt jebt Vilhjalmr Stefansson, der Ethnologe der Erpedition, in Harpers Monthly" einen fesselnden Bericht. Von der Expedi­tion waren eine Zeitlang beunruhigende Nachrichten verbreitet, die Berantw. Redakteur: Georg Davidfsohn, Berlin . Drud u. Berlag: Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Baul Singer& Co., Berlin SW.