Nntethallungsblatt des Horwärts Nr. 166. Freitag, den 28 August. 1903 KNachdruS bettoUtt.J Mafia. Roman aus dem modernen Sizilien von Emtl RaS müssen. Endlich hob sich der Vorhang über dem Einzug in Jeru- salem. Hinter der Szene hörte man Trompetenfanfaren, Hofiannarufe und Volksjubel. Gleich darauf kam ein Haufe Gassenjungen, die Purzelbäume über die Bühne schlugen, und ihnen folgten Frauen mit Palmzweigen in den Händen, ganz in Weiße orientalische Gewänder gekleidet und in faltenreiche Schals gehüllt, die sie unter fanatischen Rufen abnahmen und auf die Erde breiteten. Crocifissa war ganz Auge und Ohr. Sie lebte in dem Vorgeführten� es war für sie vollste Wirklichkeit. Doch der« hielt sie sich ganz ruhig, bis der Herr erschien, umwogt von den anbetenden Huldigungsrufen, auf einem Esel sitzend, den St. Peter selbst beim Zügel führte. Dem regelmäßig schönen. aber bartlosen Geficht Don Serafinos war durch einen blonden krausen Bart nachgeholfen worden, und seine Tonsur deckten lange, auf die Schultern herabfallende, blonde Locken. Aus feinem Inneren heraus aber kam das seraphisch liebenswürdige Lächeln, das in seinen Augen strahlte und m Verbindung mit der künstlichen Beleuchtung seine Erscheinung wie eine gött- liche Offenbarung wirken ließ. /Crocifissa begann zu zittern. Sie erhob sich unwillkürlich, ihre Arme streckten sich ihm ent- gegen, sein Lächeln spiegelte sich in ihren großen Augen, die das geisterhafte Antlitz ganz beherrschten, und ihre Lippen be- wegten sich, als suchten sie Worte, die nicht Laut gewannen. Von allen Seiten flüsterte man, sie solle sich setzen, aber sie hörte weder Diambra noch die Nonnen. Erst als der Vor- hang nach der ersten Szene fiel, fiel sie auf ihren Stuhl zu- rück und saß still, mit geschlossenen Augen, ohne'die zahl- reichen Ermahnungen in ihr Bewußtsein aufzunehmen. Es folgten nun einige Szenen, die auf das ganze Publi- kum, besonders auf die Frauen, großen Eindruck übten: es war Judas ' Versuchung durch Satan— einem großen, mageren, hinkenden Mann, in langem schwarzen Gewand, mit einem über die Brust reichenden schwarzen, spitzen Bart und einem breitkrämpigen Priesterhut—; hierauf die Bestechung der Juden durch Judas . Auf Crocifissa wirkten diese Szenen weit weniger. Da- gegen kehrte ihr Entzücken zurück, als der Herr während der Fußwaschung und des Abendmahls sich wieder zeigte, und war von da ab in unterbrochener Steigerung begriffen. Man beachtete sie jedoch weniger, denn das Schauspiel begann nun auch die anderen in einem Grade gefangenzu- nehmen, daß ihnen für nichts anderes Aug' und Ohr blieb. Won dem Augenblicke an. da der Knoten der Tragödie sich fester zu schürzen begann,— nach der Ergreifung in Gethsemane — saß die ganz dichtgedrängte Versammlung in nervöser Spannung vor etwas Unabwendbarem und Fürchterlichem, das nun bald losbrechen mußte. Seltsam war es zu sehen, wie die Männer, die, mit den Hüten auf den Köpfen, gesessen, einer um den anderen das Haupt entblößten, während die nicht seltenen erregten Zurufe an die Schurken der Bühne be- wiesen, in welchem Grade die Zuschauer mitlebten. Man hatte um vier Uhr nachmittags begonnen, aber die Szenen war zahlreich und die Pausen nicht kurz. Als Jesus von Herodcs zu Pilatus geschleppt wurde, war es Mitter- nacht: es war vorauszusehen, daß die Auferstehung, mit der das Schauspiel schließen sollte, nicht vor vier Uhr nächsten Morgen stattfinden würde, und dennoch war keine Müdigkeit unter den Zuschauern zu merken. Es schien, als ob die stei- gende Hitze, die das.Atmen schwer machte, zugleich die Nerven eregte und für die immer peinlicheren Szenen des unheim- lichen Dramas sfimulierte. Das Entsetzen des cmzeknen ver- doppelte sich, wenn er sein Spiegelbild in den ihm umgeben- den Dkienen beobachten konnte. Crocifissa zitterte vom Scheitel bis zur Sohle, so daß Diambra für sie zu fürchten begann: aber sie war nicht zur Heimkehr zu bewegen. Endlich kam die Szene, wo der Herr verhöhnt und ge- geißelt wird. Don Serafino überließ nun seine Rolle einem jungen Schuhmacher, einem Gildenbruder, da es einem Priester nicht ansteht, den Hohn piid Scknmvf zu erdulden. den er in der Rolle des Jesus von da an über sich ergehen lassen mußte. Auf Crocifissa wirkte diese Veränderung störend. Sie er» kannte Jesus ' Züge nicht wieder. Erst allmählich, mit fort» schreitender Handlung, wurde sie von ihrer Umgehung ange- steckt und willenlos in die Illusion mitgerissen. Jesus ist nur mit einem Lendentpche bekleidet. Die Partien, die den nackten Körper vorstellen sollen, sind jedoch von einem fleischfarbenen Trikot bedeckt, das über den ein- gelegten Blasen, welche die Bestimmung haben, während der Vrügelszene aufzuspringen und ihren blutroten Inhalt über seinen gemarterten Körper zu ergießen, schwach hin und her wogt. Er soll während dieser ganzen Szene stumme Person sein. Ruhig findet er sich darein, daß sie ihn als den ein» gebildeten Judenkönig verhöhnen. Erst als sie ihm die Augen verbinden und ein Soldat ihm ins Gesicht schlägt, stößt er einen entsetzlichen Fluch aus, befreit sich von seinen Banden und will sich auf den, der ihn geschlagen hat, losstürzen. Dies fällt ja ein wenig außerhalb der traditionellen Auffassung. Aber man verzeiht es einem rohen Schuhmacher, und das Ganze wirkt fo lebendig: das Blut fließt ihm über das Ge» ficht: sie haben ihn gehöhnt und geprügelt: wer kann sich da wohl bezähmen I Die ganze Bande wirft sich über ihn: eS kommen sogar Statisten aus den Kulissen herbei, mit dem Hahnenschrei Pamfo an der Spitze. Sie binden ihn an den Pranger und lassen Peitschenhiebe und Faustschläge über den Unglücklichen herabsausen. Das Blut riefelt vom seiner Brust und seinen Schultern über die Lenden bis hinab auf die Beine: er heult und jammert: aber die Henker übertäuben sein Geschrei und der Anblick des Blutes reizt sie zu immer wilderer Grausamkeit— bis Don Serafino hereingestürzt kommt und der Vorhang unter fortdauerndem Lärmen fällt. Unten auf den Zuschauerplätzen hatte keiner bemerkt, daß das Spiel in Ernst ausgeartet ist. Die Szene hat auf sie ge» wirkt, wie sie es mußte und sollte— wie sie es verlangten— als ein namenloser Schrecken.' der Heilige gepeitscht, wie man keinen Verbrecher mißhandelt! Gepeitscht! Welcher Gräuel für einen Sizilianer, der wohl töten kann, aber der den Men- schenadel hat, nicht peitschen, nicht mißhandeln zu können! Alle sind erschüttert, als seien sie Augenzeugen eines Meuchel» mordes auf offener Straße geivescn. Einige flehen um Barm» Herzigkeit, andere fluchen, die meisten schluchzen laut: nur ein» zelne fitzen versteinert in stummem Entsetzen. Es dauert eine Weile, bis man die Bewegung bemerkt. die unter den Nonnen entstanden ist; und erst als einige Kinder aufschreien, sehen die Nächftstehenden in dem Halb- dunkel eine Frau in Konvulsionen auf dem Boden liegen, mit wild rollenden Augeu und aus dem Munde fließenden Blute. Einen Augenblick später— während der Lärm auf der Bühne anhält und die Aufmerksamkeit zu erregen beginnt— widerhallt der Saal von ihrem Name»: Die Gräfin Del Chiarok Crocifissa! Alle Nonnen kehren mit ihr heim, während das Spiel seinen Fortgang nimmt. Der verletzte Schuhmacher, welcher über den ersten, ganz außer Programm stehenden Nasenstüber in Wallung geraten war, wird abermals von Don Serafino ersetzt, der unermüdlich aushält, bis er bei frühem Morgen- grauen, ehe die Sonne aufgeht, gen Himmel fährt.— Lange Zeit hatte Crocifissa keinen Aulaß zu besonderer Aufmerksamkeit gegeben. Don Gerlando hatte wohl bemerkt, wie tief versunken sie bei der Komunion war, und daß sie im Beichtstuhl manch- mal auf seine Fragen gar nicht antwortete. Aber er maß diesen Dingen keine Bedeutung bei: er kannte ihre große Frömmigkeit, ihre anhaltenden Gebete und fttengen Fasten. Diambra beobachtete sie näher und genoß bis zu einem gewissen Grade ihr Vertrauen. Sie wußte, daß sie stunden- lang auf den Knien lag vor einem grauenhafter Wachskopf in Lebensgröße, der die tote Katharina von Siena vorstellte und den sie unter einer Glasglocke in ihrem Zimmer aufbe- wahrte. Sie kannte ihre brennende Sehnsucht, diesem frommen Weibe zu gleichen, das ihr oft erschienen war, manchmal zusammen mit dem heiligen Franz. Auch hatte �ie bemerkt, mit welchem Gemisch von Freude und Schrecken sie den Namen..Schwestern des teueren Blutes" aussprach und
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25 (2.4.1908) 166
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