Anlerhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 117. Sonnabend, den 20� Juni. 1903 (Nachdruck verboten) 681 Semper der Jüngling. Ein BildungSroman von Otto Ernst . 1 In den folgenden Wochen und Monaten kam Asmussen seine Erziehung durch die Tabakstube, wo er unter un- ablässigen Gesprächen und Geräuschen die subtilsten Sachen studiert hatte, vorzüglich zustatten. Denn die Stimme Jsoldens war vernehmlich und ausdauernd. Sie vollbrachte Leistungen, gegen die die Partie der Wagnerschen Isolde als Episode erscheint. Aber das störte ihn nicht. Er gehörte nicht zu den geistigen Arbeitern, die auf eine Meile im Um- kreis Asphaltpflaster und Strohschütten brauchen. Der Platz vor seinem Hause war ein beliebter Spielplatz der ganzen nachbarlichen Kinderschar, und er schloß das Fenster nicht, wenn ihr Geschrei hereinklang: denn es war ihm wie ein fröhlicher Gruß des Lebens, das zum Wirken und Schaffen rief. Auch besaß er im Notfall noch immer die Kraft, eine Mauer um sich zu bauen: wenn er nicht wollte, so hörte er selbst Isolden nicht. Auch als Dichter gehörte er nicht zu denen, die nur auf persischen Tcppichen und vor perlgrauen Seidentapeten dichten können, und die mancherlei kleinen Banalitäten, die ein enger Haushalt unweigerlich mit sich bringt, die selbst einer Hilde Hand nicht immer zu bannen vermag, verstimmten nicht sein Saitenspiel. Er verstand eS so gut, daß Schiller in einem Zimmer, das nichts als einen halben Tisch, einen Stuhl und eine Schütte Kartoffeln ent- hielt, die„Louise Millerin" schreiben konnte. Was mußte das für ein Dichter sein, der die Ausstattung seines Zimmers, der seine Gesellschaft nicht jeden Augenblick selbst beschaffen, der nicht jeden Augenblick seine Zelle in das Boudoir der Lady Milford oder in den Hafen von Genua verwandeln konnte?! Und so erzog er in unbekümmertem Frohsinn neben der kleinen Isolde noch ein zweites, stilleres Kind, sein erstes Buch. Unbekümmert war dieser Frohsinn freilich nur in Hinsicht der äußeren Störungen: was die inneren Hemmnisie anlangt, war es ein oft unterbrochener Frohsinn. Nie hat jemand besser den Künstler beschrieben als Goethe, da er die liebende Seele beschrieb:„himmelhoch jauchzend— zum Tode betrübt". Der Künstler wäre kein Künstler, der nicht himmelhoch jauchzte über ein gelungenes Werk und der nicht zum Tode betrübt sein könnte über dasselbe Werk. Und als ihn nun gar die Banalität der Druckkorrektoren überfiel, als er seine eigenen Verse immer wiederkäuen mußte, da über- mannte ihn ein tiefes Verzagen. Aber Rosenberg riß seinen Mut wieder empor: Nosenberg war begeistert von diesen Versen.„Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Sie Anerkennung finden werden", prophezeite er. Und wirklich fanden die„Gedichte" von Asmus Semper, als sie endlich erschienen waren, die freundlichste Aufnahme: denn da Lyrik nichts einbringt, so erfährt sie oft eine sehr wohlwollende Beurteilung. 87. Kapitel. (Fängt fröhlich an und endet traurig; das Schicksal fordert seinen Zoll.) Zu allen diesen Freuden schenkte da? Schicksal, das ihn verziehen zu wollen schien, unserem Asmus noch eine sonnige Weihnacht. Schon zur vorigen Weihnacht hatte er die bis- berige Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt und seinen Eltern den Tannenbaum geschmückt: diesmal, da er wieder ein feistes Honorar von siebzig Mark errungen hatte, sollten sie das zu essen bekommen, was in seinem Elternhause immer als das Weihnachtsgericht der Reichen gegolten hatte: Karpfen! Und Weißwein sollte dazu getrunken werden, ja Weißwein! Unmittelbar vor der allgemeinen Bescherung aber winkte Hilde ihren Gatten auf die Seite, zog ihn ins andere Zimmer, schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr:„Wenn Du lieb bist. Hab' ich noch ein besonderes Geschenk für Dich— freilich noch nickt heute." Er sah ihr mit jähem, frohem, fragendem Staunen ins Gesicht. „Ja??!" Sie nickte eifrig „Wann denn?" „Ich denke, im Juli oder August." Da küßte er sie unzählige Male und zog sie in das Weih- nachtszimmer und war, noch bevor er den Weißwein genossen hatte, so trunken, daß er die Lichter des Tannenbaums nicht doppelt, nein siedenfach, nein hundertfach sah. Rebekka Semper fand den Karpfen köstlich, fand über- Haupt, daß Hilde eine„gebor'ne Köchin" sei, und Ludwig Semper lächelte sein stillstes und innigstes Lächeln, als �abs er den Weg zurückgefunden zu den strahlenden Tannenbäumen seines Elternhauses. Er sprach mit Asmus von dessen Ge» dichten und nannte die, die ihm besonders gefallen hatten, und obwohl eines Vaters Beifall zu den Werken seines Sohnes vor der Welt keinen Klang hat, so wußte Asmus doch, daß ihm nie ein schönerer Lorbeer gedeihen könne, als dieses schweigsamen Mannes Lob und Lächeln. Diesem großen und stillen Herzen zu gefallen, das war ein großer und stiller Ruhm. Aber nur ein Semper konnte das wissen. Ludwig Semper war aufgeräumt und gesprächig wie seit langem nicht: er erzählte, wie Asmus einst mit kleinen Kinderschrittchen neben ihm über die Wiese getrippelt sei und gerufen habe:„O Vater, hier ist es gerade so wie Dein Geburtstag!" wie der Kleine unzählige Male an seinen Arbeitstisch gekommen sei und ihm nach Wunsch aus dem „Freischütz ", aus der„Nachtwandlerin" und wohl aus zwanzig anderen Opern vorgeblasen, was er aufgefangen habe, ja, Ludwig Semper stieg weit in die eigene Kindheit hinab und sprach von seinem Vater, dem Kaufmann Carsten Semper, aus dessen Diele jeder Besucher Schinken essen und Kornschnaps trinken konnte, ohne zu bezahlen, und von dem Tage, da der Justizrat quer über die Straße auf seinen Vater zugelaufen kam und rief:„Wissen Sie schon. Herr Semper, Goethe ist tot!" Es war wie Sammlung und Rück- blick in diesen Reden Ludwig Sempers: aber die Seinen merkten es nicht. Wohl war ihnen aufgefallen, daß er die Speisen kaum berührt hatte, selbst die Karpfen nicht: aber da er ihre Besorgnis mit Lachen zurückwies, so hatten sie sich beruhigt. Freilich hatte Frau Rebekka erklärt, daß er schon länger an Appetitlosigkeit leide und daß sie ihn„natürlich" nicht zum Arzt kriegen könne. Als Asmus seine Eltern am Silvestertage besuchte, Hörle er, daß sein Vater sich von der Weihnachtsfeier nur mit unsäglicher Mühe nach Hause geschleppt habe.„Ich werde den Weg nicht wieder machen können," sagte Ludwig Semper mit wehmütigem Lächeln.„Ei was!" rief Asmus,„dann holen wir Euch einfach in der Droschke: wir haben's ja!" Und er dachte sich, welch eine Lust es sein werde, die„Alten" im Triumph einzuholen, zu Wagen, wie ein Fürstenpaär! Und noch einmal ging er beruhigt heim. Beim nächsten Besuch fand er seinen Vater zum Schlimmen verändert. Er konnte nicht mehr arbeiten, saß in seinem alten Lehnstuhl und mochte nicht sprechen. Seine Gesichtsfarbe war grau geworden, und wie Frau Rebekka mit Kümmernis erzählte, schlief er den größten Teil des Tages. Sein Appetit war nicht zurückgekehrt. Mit Bangen im Herzen ging Asmus diesmal davon. Sollte das Schicksal—? Nein, einen so harten Zoll könnt' es nicht fordern: so grausam könnt' es sein Glück nicht ver- kürzen wollen! Ja, wenn es ein achtzig-, neunzigjähriger Greis wäre, dann müßte man sich mit der Notwendigkeit versöhnen. Aber mit siebenundsechzig Jahren konnte daS Schicksal diesen Mann nicht hinraffen wollen, diesen Mann nicht! Selbst völlig fremde Menschen mußten dem Zauber dieses Mannes huldigen. Als Asmus vor nicht langer Zeit im Lehrcrverein geredet und die Kunst als Erzieherin pro- klamicrt hatte und auch sein Vater als Gast zugegen ge- Wesen war, da hatte die Versammlung dem Redner ein Hoch gebracht. Gleich darauf aber hatte sich der Vorsitzende er- hoben und gesprochen:„Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich in dem ehrwürdigen Manne, der unserem Semper zur Seite sitzt, seinen Vater vermute." Und dann hatte er mit kühner, launiger und geschickter Psychologie aus dem Wesen des Sohnes ein Bild des Vaters konstruiert und hatte diesen Vater gefeiert, und mit brausendem Hurra hatte die Ver- sammlung ihm zugestimmt. Asmus hat« heimlich nach seinem Vater geschielt und hatte gesehen, w»! er sich freute, und daß dieser Mann, der sein ganzes reiches Pfund in Welt,
Ausgabe
25 (20.6.1908) 117
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten