'obgeschiedenheit vergraben hatte, nun doch einmal vor aller Welt die Ehren genoß, die ihm gebührten, das war doch von allen Erfolgen Asmussens der beglückendste gewesen. Und sollte das die letzte große Freude im Sieben Ludwig Sempers gewesen sein? Nein, nicht die letzte. Als Asmus wieder nach Oldensund kam, waren Hilde lind die kleine Isolde mit ihm. Und als sie zu dem Vater ins Zimmer traten, saß er schlafend im Lchnstuhl: er er- wachte auch nicht von ihrem Eintritt. Bekümmerten Herzens hörten sie, was Mutter Rebekka mit leisem Weinen berichtete. Er schlafe fast den ganzen Tag, sei nicht zum Essen zu be- wegen und verstehe oft gar nicht, was man zu ihm sage. Während sie noch sprach, öffnete der Kranke die Augen: immer weiter öffnete er sie, bis sie so groß und freundlich waren wie in seinen besten Tagen. ..Wenl gehört das allerliebste Kind?" fragte er leise, Mit frohem Staunen. Sie sagten ihm, daß es ja Isolde sej, Asmussens und Hildens Kind und seine eigene Enkelin. (Fortsetzung folgt.) (Nachdruck verboten.) Die Gefdnehte der lieben Gehängten. Gegen Ende jedoch, je näher die Hinrichtung heranrückte, ward die jähe Heftigkeit der zerrissenen Vorstellungen, die auf ihn eindrangen, ihm ganz unerträglich. Er hätte sich breit hinstellen und mit Gewalt dagegen antrotzen mögen— aber die wirbelnde Strömung riß ihn mit, und es gab nichts ringsum, das ihm Halt geboten hatte: alles war im Fluß, alles jagte. Und schon begann auch sein Schlaf unruhig zu werben; neue Traumbilder erschienen, rcliefartig, schwer, wie bunt bemalte hölzerne Klötze und noch un- gcstümer als seine Gedanken. Das war kein bloher Strom mehr, sondern ein endloser Fall von einem endlos hohen Berge, ein kreisender Flug durch die ganze sichtbar bunte Welt. Als Zi- gcunerchen noch frei umherging, hatte er einen ziemlich stutzer- haften Schnurrbart getragen, im Gefängnis aber war ihm ein kurzer, schwarzer, stacheliger Bart gewachsen, und das gab ihm ein schreckliches Aussehen— einem Wahnsinnigen glich er. Bis- weilen war Zigeunerchen in der Tat wie geistesabwesend und rannte wie unsinnig in der Zelle umher, immer wieder die rauhen, kalkgetünchten Wände betastend. Und Wasser trank«r dabei wie ein Pferd. Eines Abends, als eben Licht gemacht worden war, begann Zigcunerchen auf allen Vieren umherzutraben, machte mitten in der Zelle Halt und heulte mit zitternder Stimme wie ein Wolf. Er verhielt sich dabei ganz auffällig ernst und heulte auf eine ganz seltsame Weise, als wenn er ein ungemein wichtiges und notwendiges Werk verrichtete. Er schöpfte die Brust voll Luft— und stieß sie dann langsam, in einem gedehnten, zitternden Heulen aus; und voll Aufmerksamkeit, mit geschlossenen Augen, horchte er, was dabei herauskam. Selbst das Zittern in seiner Stimme schien ein wenig beabsichtigt, und es war überhaupt kein sinnloses Schreien, sondern jede Note in diesem tierischen Wehklagen, das voll unendlichen, schaurigen Leids war, schien sorgfältig abgemessen und erwogen. Tann brach er mit einem Mal das Heulen jäh ab und schwieg, Immer noch auf allen Vieren dastehend, ein paar Augenblicke. Und plötzlich begann er leise, wie zur Erde gewandt, zu murmeln: »Meine Lieben, Teuren... Meine Lieben, Teuren, habt Mitleid mit mir... Meine Lieben!... Meine Teuren!.. Und auch jetzt horchte er hin, wie seine Worte sich ausnahmen. Sprach ein Wort und horchte dann hin. Dann sprang er auf— und schimpfte eine ganze Stunde lang, ohne Unterbrechung, auf mordsmäßige Weise. ..£), Ihr so und so, Ihr Bande dort— ta— ta!" brüllte er und rollte dabei die blutunterlaufenen Augen.„Wollt Ihr mich hängen, dann hängt mich, aber mich so... O. Ihr, so und so..." Ganz kreidebleich, weinend vor Bangigkeit und Entsetzen. hörte der Soldat auf dem Korridor ihm zu, stieß mit der Gewehr- mündung gegen die Tür und schrie hilflos: „Ich schieß Dich tot! Bei Gott, ich schieß Dich tot! Hörst Du?" Doch er wagte nicht zu schießen: auf zum Tode verurteilte wird nie geschossen, wenn eS sich nicht gerade um offenen Aufruhr handelt. Zigeunerchcn aber knirschte mit den Zähnen, schimpfte und spuckte— sein menschliches Hirn stand auf der unheimlich schmalen Grcnzscheide zwischen Leben und Tod und zerbröckelte wie ein Klumpen trockenen, verwitterten Lehms. Als man in der Nacht seine Zelle öffnete, um ihn zum Nicht- platz abzuführen, geriet Zigeunerchen in lebhafteste Bewegung. Im Munde wars ihm noch süßer, und der Speichel floß unauf- hörliw, aber die Wangen hatten sich ein wenig gerötet, und auS den Augen sprühte die frühere, urwüchsige Verschlagenheit. Während er sich anzog, fragte er den Beamten' „Wer wird mich denn hängen? Der Neue? Ob der'S wohl schon so richtig weg hat?" „Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen", der- setzte trocken der Beamte. „Wieso keine Sorgen machen, Ew. Wohlgeboren? Ich bin's doch, der gehängt wird, und nicht Sie. Sparen Sie wenigstens nicht an der Seife für'n Strick, damit die Sache glatt geht." „Schon gut, schon gut, ich bitte Sie zu schweigen.' „Ich glaube gar, der da"— Zigeunerchen wies nach dem Aufseher—„hat alle Seife aufgefressen! Sehen Sie nur, wie sein Gesicht glänzt!" „Still endlich!" „Also bitte, keine Seife sparen!" Zigeunerchcn stieß ein Lachen aus— im Munde aber ward's ihm immer süßer, und plötzlich begannen ihm seine Beine den Dienst zu versagen. Als er jedoch mit den andern auf den Hof trat, hatte er doch Laune genug, zu rufen: .Den Wagen für den Grafen von Bengalen!" V. Küß ihn— und schweig I Das Urteil in Sachen der fünf Terroristen war in endgültiger Form verkündet und noch an demselben Tage bestätigt worden. Man hatte den Verurteilten nicht gesagt, wann die Hinrichtung stattfinden würde, aber nach dem üblichen Gange des Verfahrens wußten sie, daß man sie noch in dieser Nacht, oder spätestens in der darauffolgenden hängen würde. Und als man ihnen gestattete, am nächsten Tage, das heißt am Donnerstag, den Besuch ihrer An- gehörigen zu empfangen, da begriffen sie, daß die Hinrichtung am Freitag bei Tagesanbruch stattfinden würde. Tanja Kowaltschuk hatte keine nahen Verwandten, und die sie hatte, sie wohnten irgendwo in der Provinz, in Klemrußland, und wußten kaum etwas von ihrer Verurteilung und der bevor» stehenden Hinrichtung; bei Mußja und Werner, den beiden Unbe- kannten, hatte man überhaupt nicht angenommen, daß Verwandte sie besuchen würden, und so stand denn nur zweien, nämlich Sergej Golowin und Wassili Kaschirin, ein Wiedersehen mit den Eltern bevor. Mit bangem Schrecken dachten beide an dieses Wiedersehen, doch hatten sie nicht den Mut, den alten Leuten hie letzte Unterredung, den letzten Kuß zu verweigern. Ganz besonders qualvoll war die Erwartung des Wiedersehens für Sergej Golowin. Er liebte seinen Vater und seine Mutter fehr, hatte sie erst ganz kürzlich gesehen und malte sich jetzt mit Entsetzen aus, was nun wohl kommen würde. Die Hinrichtung selbst in ihrer ganzen ungeheuerlichen Ungewöhnlichkeit, ihrem das Hirn zum Erstarren bringenden Wahnwitz, stellte sich ihm nicht so entsetzlich schwer und furchtbar dar wie diese wenigen kurzen, unbegreiflichen Minuten, die gleichsam außerhalb der Zeit, außer- halb des Lebens selbst standen. Wie er dreinschauen, was er denken, was er sprechen sollte— alles das zu begreifen sträubte sich einfach sein menschliches Hirn. Was sonst so einfach und ge- wohnlich war: die Hand des Vaters zu ergreifen, sie zu küssen» „Guten Tag, Vater", zu sagen— daS kam ihm jetzt in seiner absurden, unmenschlichen, wahnwitzigen Verlogenheit unbegreiflich grausam vor. Man hatte die Verurteilten nach der Verkündigung des Gerichtsspruchs nicht, wie die Kowaltschuk vermutet hatte, zu- sammen eingesperrt, sonhern jeden in seiner Einzelzelle gelassen; und den ganzen Morgen, bis um ll Uhr, da die Eltern kommen sollten, war Sergej Golowin wie toll in feiner Zelle umhergerannt, hatte an seinem Bärtchen gezupft, klägliche Gesichter geschnitten und irgend etwas vor sich hingemurmelt. Bisweilen hielt er in seinem Aufundniederhasten ein, schöpfte tief Atem und keuchte schwer wie ein Mensch, der zu lange unter Wasser gewesen ist. Aber ha er gesund war, saß das junge Leben so fest in ihm, daß selbst in diesen Augenblicken schrecklichster Qual das Blut unter seiner Haut pulsierte und seine Wangen färbte und die blauen Augen klar und naiv in die Welt schauten. Es ging indes alles weit leichter von statten, als Sergej er- wartet hatte.- In das Zimmer, in dem das Wiedersehen stattfand, trat zu- erst Sergejs Vater— Nikokaj Sergejewitsch, Oberst a. D. Er war ganz gleichmäßig weiß, Gesicht, Bart, Haar und Hände— alles weiß, als wenn man eine aus Schnee geformte Statue in menschliche Kleider gesteckt hätte, und er trug immer noch den- selben alten, wohlgebürstetcn nach Benzin duftenden Uebcrrock mit den neuen, querliegenden Achselstücken; stramm, parademäßig, mit festen, bestimmten Schritten trat er ein. Er reichte Sergej die weiße, magere Hand und sagte laut: .Guten Tag, Sergej!" (Fortsetzung folgt.)' I�eue GrzählungsUteratur. Karl Hauptmann : Einhart der Lächle », Roman in 2 Bänden.(Verlag von Marquart u. Co., Berlin .) Wir sind in der Literatur wieder da angekommen, wo die Zeit- bücher geschrieben werden. DaS sind nicht die Bücher, die von der Zeit handeln, sondern für die man Zeit braucht. Zwei- und dreibändige Romane liegen schon vor, nicht lange mehr, und wir haben wieder die Zwölfbändcr des jungen Deutschland . Ganz auf«
Ausgabe
25 (20.6.1908) 117
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