Anterhaltungsblatt d«s Vorwärts Nr. 104. Mittwoch, den 2= Juni. 1909 �Nachdruck dervoten.) u Der Hrbciter Schewyrjoffc Nevolutionsgeschichte von M. Artzibaschew. Es waren aber zu derselben Zeit etliche dabei, die verkündigten ihm von den Galiläern, welcher Blut Pilatus samt ihrem Opfer vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meinet ihr. daß diese Galiläer von allen Galiläern Sünder gewesen find, dieweil sie das erlitten haben? Ich sage: Nein; sondern, so ihr euch nicht besiert, werdet ihr alle auch also umkommen. Lul. 13. l-g. I. Auf der Treppe hatte sich in der Dämmerungsstunde vom Erdgeschoß bis hinauf unters Dach ein schwarzer, undurch- dringlicher Nebel zusammengeballt: die. Fenster auf den Treppenabsätzen waren in trübe Flecken zerronnen. Da läutete irgend jemand vor einer Wohnung. Hinter der klebrigen, mit Wachstuchfetzen beschlagenen Tür schluchzte die alte Glocke zornig auf und konnte sich lange nicht beruhigen: ihr feines versterbendes Summen, wie das einer Fliege, die sich in einem Spinncnnetz verfangen hat, klagte noch lange über ihr bitteres Los. Niemand kam: der Mann stand regungslos und gerade wie ein Pfahl. Seine Gestalt hob sich in tieferem Schwarz von der Dunkelheit ab. Eine magere Katze, die unsichtbar am Geländer hinunterglitt, schenkte ihm keine Aufmerksam- keit, so still stand er. Etwas Unheimliches lag in ihm: gute und fröhliche Menschen, die mit offenem Herzen kommen, stehen nicht so da. Lautlos und kalt war es auf der Treppe, und in der öden Dunkelheit stieg muffiger Dunst auf die übelriechenden Aus- dünstungen einer riesigen Mietskaserne, die von den Kellern bis zu den Dachstuben mit schmutzigen, kranken, hungrigen und betrunkenen Menschen vollgefüllt ist. Je höher man kam, um so dichter wogte der Nebel, und es schien, daß er selbst den un- heimlichen schwarzen Schatten erzeugt hatte, indem er sich zu einer menschlichen Gestalt verdichtete. In der Ferne rasselten Droschken, klingelten Straßen- bahnwagen: aus der Tiefe des bodenlosen Schachts her, vom Hof, drangen rasche verbitterte Stimmen; hier oben jedoch war es tot und still. Dann schlug unten die Haustür zu, und das dröhnende Echo hallte, an den Treppenfliyey zersplitternd, im ganzen Hause wider. Tritte ertönten. Man hörte, wie jemand höher und höher stieg, hastig auf den Treppenabsätzen umbog und dann wieder mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nahm. Als diese Schritte bereits auf dem letzten Absatz angekommen waren und als an dem trüben Flecken, wo das Fenster saß, eine dunkle Silhouette vorbei- glitt, machte der Mann vor der Tür eine Bewegung auf sie zu. -„Wer ist da?" schrie unwillkürlich der Kommende in einem Ton, aus dem mehr als einfaches Erschrecken klang. „Ist hier ein Zimmer zu vermieten? Wissen Sie viel- leicht?" fragte scharf, bestimmt der Mann an der Tür. „Ah! Ein Zimmer?... Ich weiß wirklich nicht... Ich glaube, ja. So klingeln Sie doch!" „Ich habe schon geklingelt." „Q, bei uns mutz man das ganz besonders machen. Sehen Sie, so!" Er griff tastend nach der Glocke und riß aus Leibes- kräften daran. Die Glocke erzitterte gar nicht erst, sondern schrie geradezu auf und verstummte dann plötzlich, als ob eine Blechbüchse mit Erbsen, die die Treppe hinunterkollerte, von einer Wand aufgefangen worden wäre. Dann raschelte es, und durch den Spalt der sich öffnenden Tür zeigte sich in einem Streifen gelben Lichtes der graue Kopf eines alten Weibes. „Maksimowa, hier fragt jemand nach Ihrem Zimmer", erklärte der Angekommene, ein langer hagerer Student. Er ging als erster durch den Korridor, in dem die Luft sauer und dampferfüllt war, wie in dem schmutzigen Vorraum einer Badeanstalt. Er hörte nicht weiter auf das. was die Greistn sprach, schob sich durch den Korridor, an Koffern und Vor- hängen, hinter denen sich irgend etwas rührte, vorbei und verschwand in seinem Zimmer. Erst als er seine Sacken ab« gelegt hatte und in roter Vauernbluse mit offenem Kragen ohne Gürtel dastand, fiel ihia der neue Mieter wieder ein, und er fragte die Alte, die ihm einen siedenden Samowar herein, brachte: „Nun, Maksimowa, sind Sie das Zimmer losgeworden?"- „Vermietet, Gott sei Dank, Ssergej Jwanowitsch. Für sechs Rubel vermietet. Ich glaube, das ist ein ruhiger Mieter." „Warum denn?" Die Alte sah ihn mit ihren weißen, fast erblindeten Augen an und sagte, indem sie die ausgetrockneten dünnen Lippen einzog: „Seit fündundsechzig Jahren schon, Ssergej Jwanowitsch, lebe ich in der Welt, habe da allerlei Volk gesehen. Bin ja blind geworden beim Zugucken", fügte sie bitter hinzu und machte eine grämliche Handbewegung. Der Student blickte unwillkürlich auf ihre Augen, wollte etwas sagen, stockte aber wieder, doch als sie fort war, klopfte er an die Nebentür und rief: „Sie, Herr Nachbar, wollen Sie nicht ein Gläschen Tee zum Umzug, wie?" „Mit Vergnügen", antwortete die scharfe Stimme. „Dann kommen Sie bitte herüber." Der Student setzte sich an den Tisch, goß zwei Gläser blassen Tee ein. rückte den Zucker heran und wandte sich zur Tür. Ein mittelgroßer, hagerer, äußerst blonder junger Mann trat ein. Seine Gestalt rief den sonderlichen Eindruck hervor, als wenn er sich die ganze Zeit über absichtlich in die Höhe recken und den Kopf in den Nacken werfen wolle. „Nikolai Schewyrjoff", sagte er mit harter Deutlichkeit. „Aladjew", antwortete der Wirt und drückte freundlich lächelnd die Hand seines Gastes. Er tat es ganz bäurisch: etwas ungeschlacht-freundlich und länger als nötig. Auch im übrigen war er durch seinen gekrümmten kräftigen Rücken, die herabhängenden Schultern, die langen Arme und breiten Hände und das langnasige Profil, wie das eines Heiligenbildes, mit dünnem Kinn- Kärtchen und rundgeschnittenen Haaren einem einfachen Bauernburschen, irgend einem Zimmermann aus Pskow oder Nowgorod ähnlich. Mit etwas dumpfer Baßstimine, die äußerst bestimmt klang, aber doch gutmütig, sagte er: „Schön, nehmen Sie Platz, wir werden Tee trinken und Reden schwingen." Schewyrjoff setzte sich; er bewegte sich dabei rasch und prägnant, doch blieb sein Wesen immer noch steif und ab» lehnend. Seine grauen metallenen Augen blickten kalt und un» durchdringlich. In ihm war auch nicht eine Spur jener be- fangcnen Neugierde, die sich selbst der ungebundensten Leute bemächtigt,»venu sie sich zum ersten Male bei gänzlich Un- bekannten aufhalten. Und Aladjew dachte, während er ihn betrachtete, daß dieser Schewyrjoff sich selbst und dem beson- deren Etwas, das in der Tiefe seiner verschlossenen Seele liegt, unter keinen Umständen untreu werden würde. —„Der Bursche ist interessant", dachte er. „Nun, und Sie—— wie? Erst angekommen?" fragte er. „Ja— erst heute aus Hclsingfors." „Und wo sind Ihre Sachen?" „Sachen habe ich überhaupt nicht. Nur... so. ein Kissen, eine Decke, ein paar Bücher." Bei den letzten Worten sah Aladjew den Gast besonders aufmerksam und freundlich an. „Und... wenn ich fragen darf... womit beschäftigen Sie sich eigentlich?" „Gewiß dürfen Sie... Ich bin Arbeiter, Mctalldrcher. Bin hergekommen, Arbeit zu suchen. Die Fabrik wurde zu- fällig geschlossen." «Soll heißen-- arbeitslos?" „Ja", antwortete Schewyrjoff, seine Stimme nahm eine eigentümliche Nuance an,
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26 (2.6.1909) 104
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