Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 184.
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Der Entgleifte.
Mittwoch den 21. September.
( Nagbrua berboten.)
Er ging nach dem Montmartre hinauf. Ein kleines Wegstückchen pfiff er vor sich hin und schwang seinen Stock. Dann ging er eine Weile still, bis er über die Straßenkreuzungen hinaus am Place St.- Georges war. Von da an pfiff er wieder. Die Wacht am Rhein" den Montmartreberg hinauf. Ganz dumm, nur aus Freude am Gegensatz. Und dann sagte er vor sich hin, wie ein Kind, das seinen Auftrag nicht bergeffen will: ch bin in Paris , ich bin in Paris , ich bin in Paris !" bis er an dem kleinen Hotel stand und die ganze Haustüre und den Türrahmen abtastete, um den Schellenknopf zu finden.
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,, Verdammt," brummte er, die verfluchten Franzosen fönnten auch ihre Straßen beffer beleuchten!" Da hatte er den Knopf, und es schien ihm unrecht, daß er die Franzosen berwünscht hatte. Denn ihm war, er sollte ihnen doch dankbar sein. Während er auf den Concierge( Portier) wartete, jubelte er innerlich:" Ich bin in Paris ! Ich bin in Paris !" Er stieg mit dem blanken Messingleuchter und dem fladernden Kerzenlicht darin die Treppe hinauf. Aber er war ein bißchen duselig geworden er tat einen Fehltritt und follerte ein paar Stufen die Treppe hinunter. Krampfhaft hielt er das Licht hoch. Er raffte sich auf und krabbelte wieder nach oben. Aber nun wußte er nicht mehr, wo sein Bimmer war. Er ging ins erste beste, das er offen fand, und legte sich. In der Nacht war's ihm, als trete jemand mit einer brennenden Kerze ins Zimmer. Aber er wurde nicht recht wach. Es war nicht sein Zimmer, in dem er schlief. Für die erste Nacht mußte er zwei Zimmer bezahlen. Aber das verstimmte ihn nicht. Er war mit dem Gedanken:„ Ich bin in Paris !" wach geworden. Da mochte nun kommen, was wollte, es verstimmte ihn nicht. So trat er auf die Straße.
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1910
feit und Freiheit, Freiheit und Anmut. Aermlich und erbärmlich jedes Haus, einige sogar menschenunwürdig- und doch -fast einladend in seiner Freiheit. Hier leben nicht Menschen, dachte er, die sich irgendwie gebunden fühlen, die an irgend etwas hängen, was hinter ihnen liegt, hier ist man sorglos, zwanglos verlorene Existenzen, berpfuschtes Leben, Halbheit in Talent und Willen, erbärmliche Schidsale- ja, aber losgelöst von den allgemeinen Gleichmachungen und dem allgemeinen Philisterkoder, den anderen ein Verlorener, sich ein Besik, ganz gleich, ob in Kraft oder Schwäche, und wenn auch meist in Schwäche. Und so betrachtete er wirklich mit Behagen diese Montmartretypen und Originale, die ihm hier begegneten. Sie hatten das Leben auf nichts gestellt und hatten weit mehr Eigenart dabei bewahrt und weit mehr die sich zwischen den erstarrten Regelrechtigkeiten hindurchEigenart dabei herausgebildet als die Gründlinge da unten,
schlängelten.
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Wenn er hier eine Wohnung finden könnte! Er ging die Straße ab und las die ausgehängten Plakate. Er fand eine Junggesellenwohnung ausgeschrieben. Er machte sich der Concierge( Portierfrau) verständlich, so gut er konnte, stieg mit ihr in den fünften Stock hinauf und mietete ihre kleine, ärmlich eingerichtete Stube. Er hatte hier einen schönen Blic, auf Baumgrün und auf die Häuser vor dem Moulin de la Galette, die da durcheinander hingestreut waren, und hinten stieg Sacré- Coeur auf, weiß ins Blaue ragend, eine Fata Morgana. Die Mittagssonne lag darauf. So aufgelöst war hier das Leben, man konnte es neu bauen.
Er stieg hinauf auf Sacré- Coeur, zu Füßen lag ihm die Weltstadt. Dumpf, verworren, dann und wann in einzelnen Stimmen und Rufen laut und fast deutlich, dann wieder ein allgemeines Gewirr von Schreien, Klängen, Geräuschen, dringt ihr Lärm, ihr Getöse, ihre Bewegung herauf. Eine Weile steht Philipp starr, er weiß nicht, worauf er hören, was er ins Auge fassen soll. Alles scheint ihm gleich wichtig, alles möchte er wissen und kennen. Er sieht den Eiffelturm, die Kuppel bom Invalidendom, goldglänzend und reich, die Kuppel vom Panthéon , die Türme des Trocadéro. Seine Blide streifen die Runde ab. Er sucht die Türme von Notre- Dame , Er Der Morgen war nüchtern, öde. Unangezogene Frauen, weiß nicht, find's diese, find's jene. Er nimmt eine Karte: gewöhnliche Männer, Arbeiter, Handwerker, Ladendiener, Notre- Dame , Saint- Sulpice. Er hat sich orientiert. Hier Ausläufer, Gemüse- und Grünkramberkäufer und-verkäufe rechts ist die große Oper nur den Louvre fann er nicht rinnen mit ihren Wägelchen. Uebernächtige Gesichter, die finden. Aber er wird dieses Meer von Häusern wieder und Schminke verwischt, unsauber der Puder, unordentlich die wieder sehen, was liegt daran, wenn er jetzt noch nicht ganz Frisur war das dasselbe Paris ? Buh! es schüttelte ihn. So troftlos, so abstoßend war das! Und wie er ging, ward ihm so einsam und verlaffen zumute. Die verschiedenen Cabarets, die meisten Häuser, Moulin rouge, das sah alles aus wie auf Abbruch. Razen jämmerlich, wie nach einem über mütigen Feste, das bis in den Morgen gedauert hat. Grau, verschlafen, frank direkt.
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Philipp dachte darüber nach, was er denn eigentlich hier wolle. Schien es nicht die reine Narrheit, daß er überhaupt hier? Melanie zuliebe, die doch gar nicht in Paris war! Er dachte an Wald und Feld und Wiesen, an die Berge daheim. Wie viel schöner war das alles! Wie viel reicher! War nicht plöblich eine Sehnsucht über ihn gekommen? Ein leichtes Schämen bedrückte ihn, ein leises vorwurfsvolles Heimweh. Und das Gefühl des Alleinseins lag so schwer auf ihm.
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Er war doch noch gar nicht versucht und geprüft in der Welt, und nun wollte er beim ersten leichten Enttäuschtsein die Flinte ins Korn werfen? Da straffte er sich wieder auf und sprach sich Mut zu und schalt sich. bu Er stieg die Rue Caulaincourt hinauf, ging über den Montmartrefriedhof hinweg- Heines Grab wollte er sich noch aufsparen und fah nun das bunte Gemengsel der fleinen Häuschen, Hütten und Baracken, von der Moulin de la Galette oben bis zur Straße herunter hingestreut, und weiter zurüd, ein wenig berstedt, lugte einer der grauen. runden Türme von Sacré- Coeur über die Dächer hinaus. Darüber lachte die Sonne und ein heller klarer Herbsthimmel und alles war in diese zitternde, flimmernde Helle getaucht, die Paris eigen ist, in der die Linien so fein und spielend, die Farben so heiter und satt werden. Alles Einzelne so nichtig und anspruchslos, und doch das Ganze so reich und mannigfaltig, wie verklärt, wie von Boesie übergossen, Bwanglofig
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sicher ist, was das einzelne sei. Er muß nur sehen und sehen, das Nahe, das Nächste, das Ferne, das Fernste. Den zarten grauen Strich da hinten- Wald oder Berge: wunderbar ist die Riesenstadt davon umrahmt. die Riesenstadt davon umrahmt.
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Fast ist's eine Andacht, die ihn überfällt, eine Andacht vor der Größe, vor der Menschenarbeit.
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6 Herrgott!" sagt er und Herrgott, Herrgott, Herr gott !"
Ein alter Mann bietet ihm eine Sacré- Coeur- Medaille und das Bild der Kirche mit der Savoyardglocke an. Er lächelt und sagt:„ Herrgott! Herrgott! Herrgott!" Und zu dem Alten auf Deutsch :" Dante schön!" Aber dann: da!" Und er reicht ihm ein Fünfzigcentimesstück und läßt ihm Medaille und Bild.
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Na
Er geht den Hügel hinab und fährt mit der Untergrundbahn nach der Etoile. Gar nichts anderes möchte er tun, als den ganzen Tag durch Paris laufen, betrachten, bestaunen, bewundern, sich freuen und sich verwundern. Nun muß er Paris noch einmal zu seinen Füßen haben. Es ist ihm eine wollüftige Freude. Auf dem Arc de Triomphe genießt er sie aus. Er sieht in die Straßen hinein, die auf den Platz münden er sieht Menschen und Wagen scheinbar schweigend sich bewegen. Er blickt weiter und beginnt am Trocadéro das Stadtbild langsam mit den Blicken abzustreichen. Trocadéro, das große Rad, der Eiffelturm, der Invalidendom, wo Napoleon ruht, Saint Sulpice, das Panthéon , NotreDame. Notre- Dame steigt von hier aus in massiger Größe auf, es bannt den Blid. Ruht es, strebt es, das Riesengebäude der Gothik? Wie spielerisch und epigonisch ist der Kölner Dom dagegen!
Philipp fühlt, daß etwas in ihm wach geworden, das früher nicht in ihm war: er steht anders zu den Dingen, sie