Kirche blieben bei der christlichen Martinifeier alle Traditionen der Vergangenbeit im Volksbewuhtsein lebendig und in voller Uebung. Und zwar oft in einer ganz seltsamen Mischung, bei der altrömische und altgermanische Festsittcn und Festgebräuche friedlich nebeneinander herliefen. In den Gegenden, denen von den Römern der Weinbau gebracht worden war, lebte der römische Bacckusdienst durch die christlichen Jahrhunderte hindurch fort. So ernannten die Weingärtner von Bacharach a. Rhein zur Zeit der Traubenlese die sieben Trinker oder gute Gesellen, deren Aufgabe es nicht nur war, zur Feier der Traubenlese das in uralter lleberlieferung seit Jahrhunderten gefeierteBacchusfest" durch- zuführen, sondern auch das Straf- und Rügeamt zu vollziehen, über alle Dinge und Streitigkeiten, die den Weinbau betraten. Sehnlich feierte man den Bacchusdienst zu Vilry bei Paris , dessen sieben Vorsteher die sieben Weisen genannt wurden. In allen Wein- gegenden war die Martinsfeier vor allem Winzerfeier. An diesem Tage probte man erstmalig den neuen Most, und zwar allgemein dermaszen gründlich, dasi dieser Tag sdas gunze Mittelalter hindurch ein einziges grosies Bacchanale war. Man trank untereinander die Mattiiismmne" zur Erneuerung der alten und zur Besiegelung der neu geschlosicnen Freundschaften. Am Marlinstage nüchtern zu bleiben, galt dem Mittelalter als Schande. Im Jahre 1179 verloren die Kreuz- sahrer Joppe an die belagernden Sarazenen, weil der Martinsfeier wegen im christlichen Verteidigungsheere alles total betrunken war. Wie allgemein in allen Bevölkerungsklassen, städtischen und ländlichen, des Mittelalters die Martinsfeier war. bezeugt ziln, Bei- spiel Sebastian Franck in seiner 1ö38 zu Augsburg erschienenen Germania oder Chronica des ganzen teutscheu Landes", indem er schreibt,St. Martins Fest celebrirt disi volck wunder ehrlich; erstlich loben sie Marti» mit gutem Wein, gänsen big sie voll werden. Unselig ist das Hauß, daß nicht auff diese Nacht ein Gansi zu essen hat; da zcpffen sie ihre uewe Wein an, die sie bisher behalten hoben". Die Gans, die ja noch heuie der typische Martinibraten ist, hatte also schon zu Seb. Francks Zeiten das altgermanische Schwei» als Opferbraten fast vollständig verdrängt. Der Volksmund der Vergangenheit feierte denn auch die Martinsgans in freudigem Gedenken an die fettriefenden Genüsse. die ihm jene bescherte, in einer Unzahl von Versen und Liedern, deren jede Gegend fast eine besonders charaktertsttsche Art aufzu- weisen hat. Neben dem besonderen Festbraten erscheint am Martinstage das besondere Festgepäck, das auch heute nock in den verschiedensten Bariationen, je nach der Gegend, ganz regelmäßig gebacken wird. So dieMartinshörner" in Schlesien , in Sachsen , in Thüringen , dieMartinszöpfe", dieMartinskrapfen", dieMartinibrorstollen" in Strasburg , dieMartinswecken und Schiffchen" im Schwäbischen usw. Sie wurden den eigenen Hausgenossen, den Kindern, dem Gesinde oder wer irgend davon heischte, auf das freigebigste aus- geteilt. Denn neben Gastfreundschaft war Gcbefrcudigkeit eine der charakteristischen Begleiterscheinungen des Martinsfestes. Daher wurde denn auch der Marlinstag besonders in den Gegenden, in denen der Winter frühzeitig einsetzte, im früheren Mittelalter, ehe das Weihnachts - fest seine Rolle einnahm, für die Kinderwelt zum allgemeinen Schenkungs- und Bescherungslage. Man reichte den Kindern Kuchen, Aepsel, Rüste. Spielzeug und was sonst ein Kinderherz erfteuen inochte als einfache Gabe oder nach� landesüblicher Sitte und Gebrauch, auf die verschiedenartigste Weise. Die Kinder der Halloren stellten z. B. am Vorabende des Martinstages Wasserkrüge in die Saline, wobei sie sangen:Martcine, Marteine-- Mach das Wasser zu Weine". Am anderen Morgen waren die Krüge mit Most ge- füllt, von Martinshörnern und sonstigen Geschenken bedeckt oder umgeben. In den meisten deutschen Gegenden trat der heilige Martin in eigener Person den Kindern gegenüber als Geber auf, die artigen Kinder beschenkend, die unartigen aber bestrafend. Die Gestalt, in der er dabei erschien, war aber nicht die eines christlichen Kultheiligsn, sondern vielmehr die Personifikation des altgcrinanischen Wintergottes! Nach altem Volksglauben hielt ja auch zu Martini der Winter seinen Einzug. Im Schlefischen sagte man z. B.zu Martini kommt der Winter auf einem Schimmel geritten". Der Schimmel ist dabei alt- germanische Wolansreminiszenz, denn nach gernranischer Auffasiung zog Wotan aus weißem Rosse durch das Land, das Haupt bedeckt mit einem großeu Hute, den Leib gehüllt in einen weiten, dunkel- farbigen Mantel, begleitet von der Freya (der Saatenschützerin, Haus- göttin), dem Donnar iGewittergottj und dem Frü(Gott der Fruchtbar- teil). Wotan galt unseren Altvorderen als der große und gütigeWunsch- erfüller". Die Rolle desWunscherfüllers" der Kinderwelt gegen- über spielen auch alle die ihr großes Vorbild symbolisierenden Martinsspender, die in der Gegenwart und der Vergangenheit auf- treten. So der Knecht Rupprecht, der schon zu Martini seinen Rund- gang durch die Kinderwelt antritt, der Pelzmärte oder Klos im Schwäbischen oder wie sie sonst heißen mögen, alle die durch Pelz und Schellengeklingel den Winter verkörpernden Kinder- ibeglücker. Aligermanisch ist neben dem Opserfeuer, das hier und da am Rheine und in einigen Schweizergegenden, z. B. am Zürichsee , am Abend des Martinstages noch auflodert, auch der Ursprung des Aber- glaubens, der sich so vielfach bis in die Gegenwart hinein um den Martinitag rankte. Denn ivie die Öfter-, Pfingst- oder Johannis- nacht brachte auch die Martininacht Glück und Segen und ließ in die Zukunft schauen, besonders in allen Herzensangelegenheiten, des- halb ging ftüher in Bayern der heiratslustige Bun'ch kurz vor Mitternacht rund um sein heimatliches Dorf. Dann erschienen ihm alle heiratslustigen Mädchen im Traume und die ihm bestimmte Zukünftige reichte ibm eine Rose. Im Brandenburgischen gingen am Martinsabend Liebesleute in den Garten und schnitten einen Zweig. Grünte er im Waffer fort, dauette auch die Liebe an. Ver- dorrte er aber schnell, so wurde nichts aus der Heirat. Eine besondere Bedeutung für den Bauern und Landmann ge- wann der Martinitag auch als Witterungsprophet. In Ermangelung meteorologischer Berichte galten sie dem Bauern der Vergangenheit als unfehlbar. So hieß es im Bolksmunde z. B.wenn am Martini Nebel sind, so wird der Winter meist gelind",Martins Schnee, tut den Früchten weh" und andere mehr. A. Ad 6. Kleines f eullleton» Aus dem Pflanzenleben. Lebensverlängerung einjähriger Pflanzen. Als einjährige Pflanzen oder Annuellen bezeichnet man in der Bo- tanik solche Gewächse, die in demselben Kalenderjahre blühen, fruchten und absterben, in dem sie zur Keimung gelangten. Die Bezeichnung ist insofern nicht ganz treffend, als die Pflanzen nicht, wie man wohl vermuten konnte, ein Jahr alt werden, sondern meist'nur wenige Monate leben. Die Lebensdauer mancher dieser Annuellen ist so kurz, daß dergleichen Pflanzen in einem Kalenderjahre nicht selten zwei oder drei Generationen hervorbringen, ja selbst das Entstehen einet vierten Generation ist keine große Seltenheit. Das manche Gartenunkräuter, ivie beispielsweise das einjährige Bingelkraut und die Sternmiere, fast unausrottbar erscheinen, ist zum großen Teil darin begründet, daß dergleichen Pflanzen eine schnelle Generalionsfolge besitzen. Bei den meisten einjährigen Pflanzen liegen aber die Berhälmisse so. daß der in einem Jahre gezeugte Samen viele Monate der Ruhe bedarf und erst im folgenden Jahre zur Keimung gelangt. Die Pflanzen selbst gehen aber jedesmal nach der Samenreife zugrunde, sie haben ihren Lebenszweck, Nach- kommenschaft zu zeugen, ersiillt. In der Samenerzeugung erschöpft sich die Lebenskraft der Annuellen. Sobald nun die Samenerzeugung verhindert wird, bleibt die Lebenskraft erhalten, und diele äußert sich sodann dadurch, daß die Pflanze immer aufs neue versucht, ihren Lebenszweck doch noch zu erfüllen. So kann man die bekannte Reseda jahrelang im Topfe in Vegetation erhalten und aus der sonst einjährigen krautigen Pflanze ein mehrjähriges holziges Gewächs erzielen, wenn nur dafür gesorgt wird, daß die Pflanze keinen Samen ansetzt. Man braucht nur die Blumen jedesmal abzuschneiden, bevor Befruchtung eintritt. Die Pflanze verwendet dann alle Stoffe, die normalerweise zur Samenbildung erforderlich sind, zu neuen Baustoffen; die krautigen Stengel verholzen und ständig werden neue Triebe erzeugt. Auch in der Natur retten sich bisweilen einjährige Pflanzen unter besonders günstigen Umständen in daS folgende Jahr hinüber, wenn sie im Jahre ihrer Geburt keinen Samen mehr hervorbringen konnten. h. h. Phstsikalisches. Ein Mikroskop für das Ohr. Es ist eigentlich ein Widerspruch, wenn man von einem akustischen Mikroskop sprechen wollte, weil in dem Begriff des Mikroskops die Bestäsigung des Auges vorausgesetzt ist. Dennoch ist ein solrver Ausdruck' jetzt mit Bezug auf phonographische Aufzeichnungen angewandt worden. Die größte Sammlung dieser Alt besitzt bisher die Akademie der Wissen- schaften in Wien , und der besondere Ausschuß, der mit der Verwal- wng und Erweiterung dieses eigenartigen Archivs betraut ist, ist jetzt eifrig bestrebt, zunächst eine möglichst vollständige Zusammen- stellung aller Sprachen und Dialekte zu beschaffen. Zu diesem Zweck sollen der Reihe nach alle Länder bereist und untersucht werden. Fürs erste wird man sich selbstverständlich vorzugsweise auf Europa beschränken, und zwar hat der Wiener Ausschuß bei seinen Forschungen dem Gebiet von Schweden und Norwegen den Vorrang gegeben. Die Studien sollen aber nicht nur für die Zwecke der Sprachengeschichte und der Kulturwissenschaft dienen, sondern auch zur Förderung der physikalischen Wissen- schaft. In dieser Hinsicht gewinnt der erwähnte Begriff des Phono­graphen als eines akustischen Mikroskops eine Bedeutung, weil dieser Apparat seine Aufzeichnungen in tausendfacher Vergrößerung fest- hält. Dadurch wird ein unschätzbares Vergleichsmaterial für die Ergründung der schwierigen Frage geliefert. wie die verschiedenen Geräusche und Klänge und insbesondere die Laute der Sprache zustande kommen. Ein Beispiel der jüngsten Erfahrungen auf diesem Gebiete zeigt, daß man auch zur Feststellung von Unter- schieden und AeHnlichkciten zwischen tierischen und menschlichen Lauten gelangen wird. Es ist den Nawrforschern längst aufgefallen, daß beim Quaken der Frösche ein Laut, der dema" unserer Sprache entspricht, auftaucht. Die phonographische Untersuchung bat nun deutlich bekundet, daß dasa" der Frösche' ein Laut mit vielen kurzen Unterbrechungen ist, die nur so schnell aufeinanderfolgen, daß das menschliche Ohr sie nicht wahrzunehmen vermag. Auch die krankhaften Sprachstörungen werden durch das akustische Mikroskop am besten erkannt werden können. Verautw. Redakteur: Richard Barth , Berlin. Druck u. Verlag:VorwärtsBuchdruckerei u.Verlagsanstalt Paul SingerLeCo., Berlin LW,