weiter. Neuer Lärm, eine zweite Botschaft.»Wo wollen Sie hin? Gotthardpaß? Können Sie nicht, Lawinen I' Wir sahen uns um. Die Luft war still und warm, die Berge langweilten sich und schienen an gar nichts zu denken. Außerdem waren Lawinen gerade das, was uns beiden durchaus sehenswert schien. Wir gingen weiter und man ließ uns zufrieden. Grau, ewig gleichgültig lagen die Felsenkulissen vor uns, die hohen Wände engten den Horizont, die gleichförmige farblose Schneedecke er- müdete das Auge noch mehr. Im Laufe der Serpentinen wieder- holen sich selbst die Ueberschneidungen, die bizarren Felsformen, die Abstürze so häufig, daß sie nicht mehr beachtet wurden. Nur der wieselschnelle Wildbach da unten erzwang sich Aufmerksamkeit, oder ein verschlossenes, vom Schnee verpacktes Haus. Blank gefegt vom gestrigen Sturm lag der Paß, ein ironisches Lächeln überflog wohl in gleichem Gedankengang unser Gesicht. Wenn das alles war--- Plötzlich eine Mauer der Paß in seiner ganzen Breite durch eine mannshohe Schneewand gesperrt. Dann kommen Sie an Schneemassen, da sinken Sie bis zum Hals ein." repetierte etwas im Ohr. Der Fuß trat zaghaft ein bah er hielt. Der andere folgte alles fest, man stand auf der Zinne und siehe, es war eine Finte, eine schmale Anwehung, offen und schneefrei lag dahinter wieder der Paß. Hurtig hinab und scherzend über den Schreck weiter. Aber nicht geschickter und systematischer konnten je Aufständische ihre Straßen durch Barrikaden sperren, als es der Paß tat. Jede Biegung hatte ihren hohen Wall aufgeworfen und immer dichter folgten sie. immer höher stiegen die Kronen und breiter wurden die Kuppen. Weil hingen sie noch über den Paß in den Abgrund. Mynheer fluchte. Ich sprang schnell den Wall hinab und fluchte. Wir sanken ein bis zum Knie. Suchten links und rechts festen Schnee, vergeblich. Da wateten wir nach kurzem Nachdenken eigen- sinnig weiter.Danach werden Sie bis zum Knie einsinken und endlich bis zur Brust---" Wir gingen stumm weiter, zogen Fuß um Fuß heraus und hinein. Es legten sich Nebel uni tins, wir stampften weiter. ES gab nach einer Stunde eine matte Helle, die Sonne, sie verging und Mynheer konnte die Schneebrille wieder verstecken. Um die zurückliegenden Gipfel hoben sich dünne, helle Staubwolken, Schneestürme. Bei uns war es still und warm. Tief unter uns hatten sich einige lange Schuppen und Häuser in den Winkel hineingekrochen und zuschneien lassen. Das gab wohl einen Unterschlupf, wenn wir-- Wir stampften fort. Die Höhen halten deutlich abgenommen, wir mußten der Platte, dem Hospiz nahe sein. Es war eine unheimliche, be- unruhigende Stille, kein Hauch, kein Atem als der unsere. Kein Rabe, kein lebendes Wesen, selbst der Wildbach da unten verstummt oder erstickt unter Eisfäusten. Die Luft schwer und warm, eine wohlige Erschlaffung und Wärme nach dem stundenlangen Waten. Wieder war ein Wall zu nehmen. Wir traten auf und stürzten hinein versanken gänzlich. Der Schnee trug nicht mehr. Den Grund verstanden wir nicht. Ermüdet und verdrießlich standen wir. Mynheer, sehr erzürnt über solche nicht angenommenen Schwierig- leiten, erktärte, etwas ruhen zu wollen und fiel auch, überanstrengt vom Stapfen, gegen den Schneewall. Zu wohlig und lockend fühlte auch ich die Bergsirene, den Schlaf, und zerrte ihn hoch zurück zum letzten Wall, der uns trug. Er versicherte, daß wir sofort da wären und er nur zehn Minuten schlafen wollte. Ich wußte aber, daß ich. ganz allein mit dieser schläfrigen Stille, meine Augen nicht beherrschen könnte, und nichts unseren Schlaf stören würde als die Frühlingssonne. Er stand unentschlossen, unglücklich..Welch ein Bluff für meine Eltern, über den Gotthardpaß im Winter," klagte er. .Wie, fuhr ich auf Eltern haben Sie auch und bluffen wollen Sie nur?" und ich machte Kehrt, worauf er folgen mußte. Welch ein.Bluff" war das, wenn keine Lawine kommt. Er ward erst als guter Rechner munter, als ich feststellte,' daß unsere teuren Fahrkarten nach Mailand in sechs Stunden ungültig geworden wären. Die acht geretteten Frank wogen bei ihm den Bluff auf. Kaum erzwangen wir aber die Rückkehr von den ermatteten Körpern. Jeder der dreißig Wälle schien höher und breiter geworden und wir stürzten und tappten schwerfällig. Die Lust wurde dicht. Schnee begann zu fallen, unsere Fußtapfen waren lange verwischt nach Stunden zog wie im Nebel alles wieder vorüber. Die verschneiten Häuser, jene warnenden Arbeiter, die uns fröhlich und erfreut zuwintten, die beiden Orte, die Kasernen, selbst der einleitende Schneesturm, nur daß er diesmal ungeheuere dichte Schneemaffen hcrabwälzte. Taumeld wankten wir wieder die Kehren herab zum Bahnhof, brachten die steifen Beine in das Koupee und fielen schlaftoll in unsere warmen Ecken, die Füße auf den heißen Röhren. Und der Zug fuhr langsam in das schwarze Loch hinein.... R G. Die Boheme» Zum fünfzigsten Todestage ihres Dichter?. Am 28. Januar 1861 starb zu Paris der Schriftsteller und Dichter Henri M u r g e r, vor der Zeit und nicht unter eigenem Dach und Fach, sondern im Hospital, wie er es von einem seiner Helden einst berichtet hatte:Das Elend ließ ihm keine Zeit, zu er- füllen, was er versprochen hatte. Gr starb im Marz vor Erschöpfung im Hospital Saint-Louis, Saal Sainte-Victoire , Bett iL " Nur mit dem Unterschiede, daß Murgers Schicksal, so traurig e> an fich sein mochte, doch nicht mit der Tragik umkleidet war, die ein vom Tode vor der Vollendung vernichtetes Lebenswerk umgibt, denn was er an Eigenem und in seiner Art Unvergänglichem zu geben hatte, nahm er nicht mit in die große Dunkelheit hinüber. Dieses Eigene und Unvergängliche steckt nämlich ganz und gar in seinen Scenss ds la Vis do Bohfemo",Szenen aus dem Zigeunerleben", die allein von seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen und Gedichten vor der dicken Staubschicht des Vurgessens bewahrt worden sind. Und eS ist die literarisch entflammte männliche Jugend zwischen sechzehn und einundzwanzig, die um dieses Buches Willen den Kranz der Unsterblichkeit für den Dichter von Jahrzehnt zn Jahrzehnt weiter gereicht hat, jene schwärmende Jugend, die aus der Gebundenheit des Gymnasiums oder Kontors in die Welt der freien künstlerischen Betätigung hinausstrebt, sich mit dem Feder- Halter statt mit dem Degen die Erde erobern möchte und immer wieder mit heißen Wangen in MurgerS Buch die erste Offenbarung ihres eigenen Herzens gefunden hat und finden wird. Die jungen Kunstzigeuner Rodolphc, Marcel, Scheunard und Colline mit ihrem unverwüstlichen Leicht- finn, ihren lustigen Streichen, ihrem ds m'enficliismus, ihrerIch Pfeif drauf"- Philosophie, mit ihren kühnen Gefechten gegen Gläubiger, Hauswirte und sonstige Philister, dann die Grazie der Mimi Pinson und der Musette, die zu Urbildern eines naiven. liebenswürdigen und unverderbten Grisettentums geworden und auch für das Auge von Wtllettes Griffel festgehalten worden sind, und nicht zuletzt der verklärende Glanz, der wie ein melancholischer Sonnen- Untergang noch über dem Hungern, dem Verzweifeln und dem Sterben dieser Bohömiens liegt wie sehr ist all das geeignet, die Seele leicht entzündlicher Jugend zu entzünden. Darum braucht sich auch m späteren Jahren nicht zu schämen, weffen Herz einst für diese Szenen, mitemfindend in Freud und Leid, geschlagen hat, so viel auch an falscher Perspettive, an falscher Sentimentalität und an falschem Heroismus in diesem Buche steckt. ES ist jung! Und daS ist feine ganze Rechtfertigung. Zu Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, al» in Deutschland gerade die Revolutionäre in der Literatur ihren Guillotinenmarsch zu trommeln begannen, erschien dieVie de Bohöme" ins Deutsche übertragen in Reclams Univcrsalbibliothek. In seinem Roman eines verbummelten Genies, imStilpe", hat Otto Julius Bierbaum eine anschauliche Schilderung davon entworfen, wie Murger die Herzen jener Generation im Sturme nahm. Auf der anderen Seite hat es in neuerer Zeit nicht an heftigen Angriffen auf das.Zigeunerleben" gefehlt. Besonders Camille M a u c l a i r, einer der gepflegten und kühlen Geister des modernen Frankreich , hat fich mehr als einmal dafür ins Zeug gelegt,.diesem schlechten und schwachen Buche eines mittelmäßigen Schriftstellers" den Gnadenstoß zu versetzen, und zwar im Jnlereff« der bürgerlichen Reputierlichkeit der Literatengilde. Denn MurgerS Werk habe überall den nicht wieder auszurottenden Gedanken ein» wurzeln lasten, daß der Künstler schmutzig sei, einen durchnäßten Filzhut, karrierte Beinfleider und Bindekrawatten trage, niemals einen Lieferanten bezahle, schlecht erzogen sei und dergleichen mehr. Wie dem auch sein mag, auf jeden Fall wuchs der Erfolg der .Vie de Bohöme" für ihre Zeit aus der Tatsache heraus, daß fie eine damals vorhandene Schicht, wenn auch nicht ohne Schönfärberer, in ihrem Wesen spiegelte. In der Vorrede, die Henri Murger seinem 1862 erschienenen Buch vorausschickte, mühte er sich zwar, nach- zuweisen, daß es Bohömiens zu allen Epochen gegeben habe. Aber wenn die Gesellschaft auch stets an ihrer Peripherie herum» schweifende Außenseiter genialer Prägung und schöpferischer Art ge- kannt hat, eine in sich abgeschlossene Boheme konnte nur auf dem Pariser Pflaster des zweiten Kaiserreiches gedeihen, und zwar eins Boheme, für die Murgers Wort nicht gilt, daß sie dieVorstufe deS Künstlerlebens, die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zur Morgue" sei. Denn diese Boheme war kein Durchgang, sondern eine Sackgaste und in ihrer Art die erste Opposition gegen ein Regime, das jede andere Opposition mit eisernen Fängen daniederhielt. Das Wesen der Bohöme ist. daß sie. wenn auch bourgeoisen Ursprungs, außerhalb jeder Klassenschichtung steht und_ auf eigen« Faust einen Kleinkrieg gegen die bürgerliche Gesellschaft führt, freilich mit Kampfesmitteln, die eher dem Lumpenproletariat als dem werktätigen Proletariat entsprechen, mit Faulenzen, Schuldenmachen und Zediprellerei, wie denn Max Stirner wohl am ersten als Philo? oph der Bohöme zu nennen wäre. Soweit sie nicht Schmocks, unfähige Kaffeehausschwätzer und schlimmeres Ungeziefer sind, dürfen fich aber die Mitglieder der Bohöme mit mehr oder minder Recht als Opfer der kapitalistischen Wirtschaftsordnung fühlen, in der für ihre Ware, künstlerisches Talent, nicht die genügende Nachstag» herrscht. Arbeitslos und brotlos sinken da die BohsmienS oft noch unter die Existenzbedingungen de? wirklichen Proletariats herab. Das zweite Kaiserreich in Frankreich hatte, weit weniger noch alS vordem das Bürgerkönigtum, nichts, was einer feurigen und stürmischen Jugend den Weg zu hohen Zielen hätte weisen können. Kaum jemals war eine herrschende Klasse so ohne allen Glauben an sich selbst und an Ideale, kaum eine opferte mit solcher Skrupellosigkeit alles, was über ihre brutalen materiellen Interessen, hinausging, dem zügellos rasenden Tanz um das golden«