Leid zugefügt werden solle. Er hatte sich aufs Pferd geschwungen und dem Vater bis aum Bache das Geleit gegeben; dann war er zurückgekehrt, und seither hatte Chadschi-Murat weder Gattin noch Mutter noch Sohn gesehen. Und diesen Sohn wollte Schamhl jetzt des Augenlichts berauben. Daran, was der Schändliche seiner Gattin zugedacht, mochte Chadschi-Murat gar nicht denken. Diese Gedanken und Erinnerungen hatten Chadschi-Murat so erregt, dah er nicht mehr ruhig dasitzen konnte. Er sprang auf, schritt mit seinem hinkenden Gange rasch nach der Tür, öffnete diese und rief Eldar herein. Die Sonne war noch nicht aufge- gangen, doch war es bereits ganz hell. Die Nachtigallen sangen noch immer. Geh, sag' dem Kommissar, daß ich einen Spazierritt machen möchte, und sattelt Eure Pferde." 23. Butlers einziger Trost während dieser ganzen Zeit war die Poesie des Krieges, die er nicht nur im Dienste, sondern auch außerhalb desselben, in seinem Privatleben, suchte und fand. Mit Vorliebe trug er sein tscherkessisches Kostüm, tummelte nach Art der Dschigits sein Rotz und legte sich mit dem wegen seiner Tapfer- keit berühmten Bogdanowitsch zweimal in den Hinterhalt, um die Feinde zu belauern— beide Male vergeblich, da ihnen niemand ins Garn ging. Die nähere Bekanntschaft und Freundschaft, die er mit Bogdanowitsch schloß, gab ihm in seinen eigenen Augen einen ganz besonderen kriegerischen Nimbus. Eine neu eingegangene Spielschuld hatte er bezahlt, ein Jude hatte ihm gegen ungeheure Zinsen das Geld vorgestreckt. Er verhehlte sich nicht, datz dies nur ein Auffchub war, datz die drückende Verpflichtung bestehen blieb, doch bemühte er sich, nicht weiter über seine Lage nachzudenken, und soweit die Poesie des Krieges ihn nicht über die Situation hinwegtäuschte, half er mit kaukasischem Rotwein nach. Er trank immer mehr und mehr und verlor mit jedem Tage mehr seinen sitt, lichen Halt. Was Maria Dmitrijcwna betraf, so war er ihr gegen- über nicht mehr der keusche Josef, sondern machte ihr in ziemlich grober Weise den Hof, stieß jedoch zu seinem nicht geringen Er- staunen bei ihr auf einen recht energisckKN Widerstand und mutzte beschämt von ihr ablassen. Gegen Ende April traf in der Festung die Kolonne ein, die Barjatinskij für die neue Expedition nach der für undurchdringlich gehaltenen Tschetschna bestimmt hatte. Zu der Kolonne gehörten auch zwei Kompagnien des kabardinischen Regiments, die nach einer beim kaukasischen Heere eingeführten Sitte von den in Ku- rinskoje liegenden Kompagnien als Gäste aufgenommen und be- wirtet wurden. Die Soldaten der Kolonne begaben sich nach der Kaserne und wurden dort nicht nur mit einem aus Rindfleisch und Grütze bestehenden Abendbrot, sondern auch mit Branntwein rega- liert, während die Offiziere bei den Kameraden Quartier nahmen und nach gutem altem Brauch von diesen bewirtet wurden. Das Ende vom Liede war ein grohes Zechgelage, bei dem die Kompagnie- chöre ihre Lieder zum besten gaben. Major Petrow hatte einen so mächtigen Rausch, datz sein Gesicht nicht mehr rot, sondern blatzgrau aussah und er, rittlings auf einem Stuhle sitzend, laut schimpfend und lachend mit dem Säbel nach einem vermeintlichen Feinde schlug, zur Abwechselung die Kameraden umarmte und nach dem Takte seines Lieblingsliedes:„Schamyl war ein schlimmer Mann, machte Rebellion— trairai ratatai, machte Rebellion"— einen Tanz aufführte. Auch Butler war mit von der Gesellschaft, und er war geneigt, auch in den Streichen des Majors ein Stück lustiger Kriegspoesie zu sehen, wenn ihm dieser nicht andrerseits leid getan hätte. Es wo? mit ihm, sobald er erst so weit war, gar nichts mehr anzufangen, und so begab sich Butler, der auch selbst schon ein wenig benommen war, in aller Stille allein nach Hause. Der Vollmond schien auf die kleinen weitzen Häuser und die steinige Straße herab. Es war so hell, datz jeder Kiesel, jeder Strohhalm, jedes Stück ffuhdünger auf der Straße zu erkennen war. Als Butler sich dem Hause des Majors näherte, stieß er plötzlich auf Maria Dmitrijewna. die ein Tuch um Kopf und Hals geschlagen hatte und irgendwohin ging. Nach der Abweisung, die Butler bei ihr erfahren, schämte er sich ein klein wenig und wäre ihr am liebsten aus dem Wege gegangen. Aber der Mondschein und der Wein, den er getrunken, taten das Ihrige, und so trat er, an- scheinend sehr erfreut über die Begegnung, auf sie zu. „Wohin denn so spät?" fragte er in einschmeichelndem Tone. �Jch will einmal nach meinem Alten sehen," antwortete sie freundlich. So entschieden sie auch Butlers Bewerbungen abge- lehnt hatte, so peinlich war es ihr doch wieder, datz er ihr in der letzten Zeit ganz aus dem Wege gegangen war.« „Was ist da groß nachzusehen? Er wird schon von selbst kommen." „Meinen Sie?" „Wenn er nicht kommt, wird man ihn eben bringen." (Fortsetzung folgt.) Der deutfebe Opcrnfpiclplan. Zum geistigen Besitzstand der Nation gehört mit in erster Linie die Schaubühne. Und neben der Pflege der klassischen Dichtung ist die vornehmste Aufgabe der deutschen Schaubühne die Verwaltung jener künstlerischen Auslese von internationalen Opernwerken, die den mehr oder minder festen Bestand 0eS deutschen Opernrepertoir» bilden. Wenn irgendwo, gilt der parteilos-vornehme Grundsatz von der.Jnternationalität der Kunst" in der Oper. Wenn irgendwo, ist Rassenrendenz und Chauvinismus verächtlich in der(auch in der Bere schwistening mit dem Drama noch reinen und übersinnliche«) Musik! Ehrenvoll, schwierig und verantwortungsvoll ist daS Amt derer, die den mit den Früchten der musikalischen Weltliteratur bestellten Tisch) der Oper zu verwalten haben. Aber die Opernleiter der Hof- und Stadt- und Privattheater machen sich diese Aufgab« in der Reg«? unverantworwngsvoll leicht. Sie sollen einen überlieferten Kunst- Hort hüten und bewahren, sie sollen aber auch vorwärts blicken und da« Schaffen zeitgenössischer Talente durch mutige Aufführung neuer wertvoller oder doch interessanter und selbständiger Werke fördern. Aber auch sie pfeifen auf den unrentablen Idealismus, beugen sich willig dem kassemachenden Kunst- JndustrialismuS und dienen dem herrschenden oberflächlichen Ge- schmack der unterhaltungsbedürstigen Bourgeoisie, die einen möglichst leichtgeschürzten Opernspielplan mit Einschlutz natürlich der TageL- sensationen wünscht. Was bestimmt nun eigentlich die Auslese und Anordnung jener in- und ausländischen Opern, die in ihrer Gesamtheit eben daS ständige Repertoire der Opernbühnen bilven? Der Wille eines Ein» zelnen? Zeitumstände, Publikum, rollentragende Virtuosen, die Kritik, der künstlerische Wert eines musikalischen Werkes? Dieser leider zuletzt, zu vv Prozent aber einzig und allein geschäftliche Rücksichten der Intendanz oder Direktion, der Kassenerfolg einer Oper. Der Kassenrapport bestimint den Spielplan, denn das Theater ist ein Geschäft wie jede andere Institution in der bürgerlichen Wirtschasts- ordnung. Es handelt eben mit dramatischer Kunst. Kassenrapporte find entscheidend. Was aber füllt die Kassen? Der Geschmack deS Publikums. Sieht- man die Erfolgopern des letzten Jahrhunderts (mit Ausnahme der Wagner-Opern, die eine historische Ausnahme von der Regel bilden) durch, so wird man finden, datz Se. Majestät daS Publikum mit gesetzmäßiger Sicherheit immer lieber Billetts zu Opern gekaust hat. in denen grobsinnliche, brutale Handlung mit entsprechender Musik begleitet zu sehen war, als zu Opern idealen StilS, die sich an geläutertes Schönheitsempfinden wandten und deren Stoffe in die Bezirke des Seelenlebens eingriffen. Meyer beer, der sich mit Freund ScribeS und seiner eigenen banalen Melodien Hilfe vortrefflich auf die Pfefferragouts solcher pseudodramatischer Texte verstand, ist ein klassisches Beispiel hiersür» Auf der anderen Seite Fidelis und Mozarts beseelte Rokokoopern. Es ist eine den vielbemsenen„deutschen Idealismus" beschämend« Tatsache: Mozart ist auch heute erst von den Spitzen der musikali» schen Intelligenz, den genießenden Kennern in der ganzen Ties« seiner Schönheit und Anmut, seines Ernstes und seines Geinüts er- kannt. Die andern gehen in seine Openi, weil eS seit seine» Münchener Wiederentdeckung durch Possart und Levi zum guten Ton gehört oder weil internationale Trillerlerchen Mozartsche Arien mit erhöhtem Entree exekutieren. Aber um ein Billett zur Folteroper „ToSka", zur Harakirioper„Butterflh", zu den mit Blut, Brunst und Mord aufgedonnerten Armseligkeiten Mascagnis und LeoncavalloS bricht man sich die Hälse. Und alles dies, trotzdem der National» gcnius aller mit sittlichem Pathos erblich behasteten deutschen Kunst- Philister, Schulpfaffen, Dogmatiker, Germanisten und ErlöiungS« bedürftigen, trotzdem Richard Wagner die Hohlheit und Faden» scheinigkeit der älteren wie der„Grotzen" Oper mit BlitzeSschärse beleuchtet hat, trotzdem seine Jünger, die mhthisch-mystisch ver» feuchten Gralshüter, daS Gleiche mit der romantisch-romanischen, ganz zu schweige» von der realistisch modernen Oper, taten und die Bizet, Verdi, Puccini , Wolf-Ferrari weit weg wiesen auS dein Saal der Seligen und Echten. Dr. Hans Löwenfeld, der geistvolle und tatkräftige Opernregisseur und Leiter der Hamburger Bühne, hat jüngst m einem Hamburger Vortrag, der allen denkenden Bühnenvorständen zum ersprießlichen Studium hiermit enipfohlen sei, an der Hand von Statistiken ausgeführt, wie die zirka 80 Opern, die man im engeren Sinne als deutsches Opernrepertoire betrachten darf, in der Praxis verteilt und verwaltet werden. ES find in seinen ver- nünstigen Ausführungen feste Richtlinien und Zielpunkte gezogen, nach denen jeder Operndirektor, dem die Kasse nicht daS einzig« „ethische Moment" seines Wirken? ist(eö soll noch ein paar solche schnurrige Käuze geben, am Rhein sitzen sie, an der Waterkant und in der„schwäbischen Gartenstadt"), einen Spielplan aufstellen kann, der sowohl den Modelieblingen deS verehrlichen Publikums gerecht wird, als der höheren Aufgabe, das unaufhaltsame Streben künst» lerisch edler Werke möglichst zu hindern. Löwenfeld erkennt richtig, datz ein Thcaterdireklor andere Pflichten hat, wie ein Museums- direktor. Seine Liebe muß der Gegenivartsproduktion gehören, denn er wendet sich ja an ein Publikum, das absolut im musikalischen Leben der Gegenwart steht und sich nicht mit historischen Studien, Kompromissen und Reminiszenzen befassen kann. Das Publikum in seiner Gesamtheit ist nun einmal nicht für den historischen Geschmack zu erziehen. Der Opernleiter macht seine Bühne zum Spiegelbild sowohl des Bedeutenden wie des Erfolgreichen, der eS versteht einmal alte gute Opern auf seinem Spielplan lebenskräftig zu erhalten, ohne in histo- rische Ausgrabungen zu verfallen, dann aber dem Nachwagnerischen Repertoire durch wertvolle Novitäten der deutschen und romanischen Produktion dauernden Zuwachs zu geben, ohne durch waghalsige, von vornherein aussichislose Experimente die komplizierte und kost- spielige Maschinerie einer Operneinstudierung unnütz in Gang zu
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29 (6.3.1912) 46
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