34. Als Marcel ncuh Paris kam, wollte er mit seiner arabi- schen Vergangenheit so vollständig brechen, daß er sogar das Studium wechselte und Mediziner wurde. Seine Mutter war wieder in Amerika , und er hörte nur selten von ihr. Er war so allein wie irgend ein Mensch auf Erden. Justine führte ihm das Hauswesen wie früher. Verkehr suchte er nicht, sondern studierte mit eisernem Fleiß und war stets daheim, wenn nicht Hospitäler und Vorlesungen Beschlag auf seine Zeit legten. Er galt als glänzender Kopf,, aber ein wenig als Sonderling. Er war schroff und unzugänglich wie ein Felsen, und niemand gewann Einblick in fein Herz. Nach Ablauf von acht Jahren, in denen er seine«Studien beendet hatte, kehrte er plötzlich nach Tunis zurück und richtete sich ein, den Rest seiner Tage hier zu verbringen. In Hamzas Hause, das immer noch das seine war, traf ep dieselben drei Menschen, die er verlassen hatte. Hamza war nicht mehr zurückgekehrt. Keiner wußte, ob' er lebte oder tot war, aber niemand kümmerte sich auch darum. Nur hatte drei Kinder bekommen und kleidete sich mit Ausnahme des roten Fez europäisch. Winter und Sommer ging er in einem dicken grauen Winterrock, der ihm über die Schultern hing und den malerischen Bernus ersetzte. Dies waren die einzigen Veränderungen, die man an ihm beobachten konnte. Er mästete sich auf seinem Diwan und faulenzte den lieben ganzen Tag, war immer noch der- selbe wetterwendische Tunichtgut, zu dem die Schule und gute Anlagen ihn gemacht hatten. Sein Entzücken über Marcels Rückkehr nach Tunis aber war grenzenlos und ganz echt. Marcel zog in Si Hamzas Palast, wo für sie alle Platz genug war. Justine führte sein Haus wie zuvor. Ihr kleines Mädchen, das die großen schwarzen Augen des nie wieder aufgetauchten treulosen Vaters besaß, hate sein ganzes Herz gewonnen, in welchem allmählich auch Rurs drei Würmchen ihren Platz fanden. Er hatte nicht mehr die weitumfassenden Pläne seiner Jugend, strebte aber danach, sich mit eineni engeren Kreise zu umgeben, dem er. wie er fühlen konnte, wirklich etwas war. Dies gab ihm eine Empfindung von Leben. Er suchte Klientel unter der eingeborenen Bevölkerung, vergrub sich im übrigen jedoch mehr und mehr in seine ur- sprünglichen Studien. Während de.s langen Pariser Aufenthalts hatte er er- kannt, daß die.'Vergangenheit sich nicht vergessen ließ. Er sah in sich selbst einen Baum, den der Blitz getroffen hak. Er stürzt nicht. Er steht aber er grünt nicht mehr. Nun wollte er wenigstens gleich dem Baume an dem Lrte stehen, wo er einstmals gelebt hatte. Und dann waren ja noch die Kinder der anderen, für die man leben konnte, und der große stimmungsvolle Friedhof Sidi bel Hassen, wo klein Sultana lag. Zu Rouffeaus 200. Geburtstag. (23. Juni.) Rousscaus unsterblich Teil liegt nicht in seinen Werken. sondern in dem Einfluß, den sie ausgeübt haben. Wenn uns an seinenConfessions" noch heute die ergreifende Leidenschaft einer großen Persönlichkeit fesselt, im ersten Teil der..Neuen Heloise" die träumerische Inbrunst der Empfindung entzückt, so sind die ästhetischen Eindrücke doch nichts gegen die ungeheure Wirkung seiner Bücher, die ein halbes Jahrhundert lang die geistige Ur- sache der größten Umwälzungen in Kunst. Moral und Geschichte waren und noch heute unbewußt unser Handeln, Fühlen und Denken bestimmen. Wie ein Frühlingsgott, wie der Balder der nordischen Mythe ist der arme Uhrmacherssohn, der Vagabund und Wilde" durch die Welt gewandelt, den Samen seine? Geistes weit- hin ausstreuend. Nirgends aber hat er tiefere, leuchtendere Spuren des Wirkens hinterlassen als in Teutschland. In die gärende Kultursphäre Deutschlands fiel sein Wort wie des Schöpfers Gebot, das das ChaoS zu reiner Form gestaltet. Bis ins Tiefste aufge- wühlt und erschüttert hat er die Gemüter und ist so zum Seelen- sichrer geworden, der die größten deutschen Geister ins gelobte Land der Schönheit, der Sittlichkeit und des Ideals führte. Der Genfer Calvinist. den VoltaireHalb-Gallier" und Halb-Deutschen" nannte, dessen Wiege so nahe bei der Albrecht von Hallers stand, schrieb ja nur französisch, dachte und fühlte germanisch. Nicht würdiger können wir diesen größten Propheten unseres Zeitalters feiern, als indem wir der entscheidenden Anregungen gedenken, die unsere Genien, unsere ganze Kultur ihm verdanken. Als die ersten grundstürzenden Ideen Rousseaui. die er in den beiden Preisschriften über die Schädlichkeit von Kunst und Wissen- schaft und Kultur überhaupt für die Sitten und über die un- natürliche Ungleichheit der ursprünglich gut und gleich geborenen Menschen darlegte, das allergrößte Aufsehen hervorriefen, fand seine viel angefeindete Lehre sogleich in dem jungen Lefsing einen gerechten und scharfsinnigen Beurteiler. Lessing sieht in diesem kühnen Weltweisen, der geraden Weges auf die Wahrheit zugeht und sein Herz Anteil nehmen läßt an seinen spekulativischcn Be- trachtungen, den Hekrold der Gcfühlsrcaktion gegen den gallischen berüchtigten Witz", den Sturmvogel einer neuen Zeit, und er empfindeteine heilige Ehrfurcht" vor dem Manne,welcher der Tugend gegen alle gebildeten Vorurteile das Wort redet". Eni- zückt von der Frische und Helle seiner Sprache versucht er ihn zu übersetzen und gibt Mendelssohn den Anstoß zur Verbeut- schung der zweiten Preisschrift. Der Zauber dieses neuartigen Wesens und dieser hinreißenden Beredsamieit zog bald alle in seinen Baun; selbst ein so alter Veteran der Literatur, wie Bod- m e r, gab sich ihm ganz hin, wurde durch ihn zum Politiker, zum Jugenderzieher, zum Freiheit in Kirche und Staat verkündenden Dramatiker, und noch wenige Monate vor seinem Tode übersetzt der Achtzigjährige, begeistert von derlachenden Grazie und einnehmen» den Blüte", Rouffeaus wundervolle Idylle:Der Levit von Ephraim". Konnte Bodmer von sich sagen, daß ihn kein anderer Schriftsteller so tief ergriffen, so bekannte das gleiche ein Größerer von sich: K a n t. Es wird berichtet, daß der Magister Kant , der jeden Tag so regelmäßig seinen Spaziergang machte, daß die Königsberger ..nach ihm ihre Uhren stellten", ein einziges Mal die bestimmte Stunde vergaß und zu Hause blieb: damals, als er RouffeausEmile" las. Der pedantisch kühle Man» wurde aus all seiner Ordnung gerissen: eine neue Welt tat sich vor ihm auf.»Es war eine Zeit," so hat er selbst voll der durch Rousseau bewirkten Umwandlung seiner Weltanschauung berichtet,da ich glaubte, der ganze Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, könnte die Ehre der Menschheit nmchcn, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet; ich lerne die Menschen ehren." Die Auffassung des Menschen als einer auf sich gestellten moralischen Persönlichkeit, dieser stolzeste Gedanke des Kantschen Idealismus, ward so in dem Schöpfer derKritik der reinen Ver- nunft" erweckt; eine neue Wertung war durch Rousseau gegeben: jenermoralische Glaube", der das Wesentliche unserer Existenz aus dem sittlichen Gefühl, aus der Schönheit und Würde der menschlichen Natur herleitet. Der Vorrang des Moralischen vor dem Intellektuellen, die Bedeutung der sittlichen Persönlicbieit, die Rousseau betonte, ist der Mittelpunkt des Kantschen Denkens, die Grundlage seiner Philosophie, und so hat Jean-Jacques die größte Gcistestat unserer klassischen Kultur entbinden Helsen . Staut hat diese Ideen weitergegeben, und unter denen, die das Evangelium des Genfers mis seinem Munde begriffe», war Herder , der als Achtzehnjähriger so völlig von ihm erfaßt und eingerissen war. daß er seine Produkte aus dieser Zeit später drastischdas Aufstoßen eines von den Rousseauschen Schriften überladenen Magens" nannte. Der geniale Ahner und Anreger unserer Literatur war eine dem Genfer vielfach verwandte Persönlichkeit, reizbar und schwärmerisch wie er, voll tiefer Empfindung für das Ursprünglich-Urwüchsige und das Rein-Menschliche. So hat er denn die Größe und Eigen- art des Menscken am tiefsten verstanden und am feinsten gedeutet, denarmen Selbstpeinigcr" gegen seine Feinde und gegen den ärgsten Feind in sich selbst in Schutz genommen. Aber ebenic» früh schon hat er an ihm scharfe Skritit geübt; denn Herder besaß in hohem Maße, was Rousseau völlig fehlte: historiscben Sinn. Er bekämpfte in ihmjene durchgehende französische Ehr- und Aus- zeichnungssucht":Nickis wird bei ihm simple Behauptung; alles neu. frappant, wunderbar: so wird das an sich Schöne übertrieben, das Wahre zu allgemein und hört auf Wahrheit zu fein". Wie Kant Ronsseaus Gedanken in der Philosophie fortbildete und vol- lendete, so machte sie Herder für die Dichtung fruchtbar: Auch die Poeten sollten zur Natur zurückkehren, zur originalen, nur der eigenen Stimme gehorchenden Schöpferlraft. Zu den reinen Quellen alles Großen sollte die Kunst hinabsteigen: zu den Stimmen des Gefühls, zu den Liedern des Volkes. Als er nach Straßburg ging, war dies seine fröhliche Botschaft und dieNeue Heloife" sein Lieblingsbuch. Nun trat ihm der Mann nahe, der seine Predigt in die Tat umsetzen sollte. G 0 et h e wußte zunächst mit Rousseaus Sckriften nicht diel anzufangen; in denEphcmeriden" schreibt er sich zwar einzelne Stellen aus seinen Werken auf, aber erst Herder führte ihn ein in die Welt des Philosophen, in der er»un eine Zeit lang lebte und webte; seine Dissertation verficht Rousseausche Gedanken, und unter diesem mächtigen Einsluß stehen dann alle seine Jugendwerke, der Götz, der Urfaust, vor allem der Werther, der nicht mir in der Technik sich eng an dieNeue Heloisc" anschließt, sondern auch von ihr die tief schürfende Analyse des Seelenlebens gelernt hat. Rousseau hat ja mit diesem Werk die Form des modernen Romans geschaffen, und so sind alle die großen Dichterpsychologen von ihm abhängig, Gottfried Kellers grüner Heinrich " so gut wie etwa HauptmannsEmmanuel Quint". Auch in die Melodie des Tasso mischen sich Nousscau-KIänge und Goethes MelodramaProser- pima" gehört zu einer Dichtungsgatlung, die Rousseau in seinem Pygmalion " begründet. Am tiefsten aber ist Goethe dem Vor-