'Doktor Del Ponte nickte still. Die Uebcrzeugung, mit der Pietro sprach, machte Eindruck auf ihn. „Wenn ich mich recht erinnere, hast Du einmal eine AbHand- lung über die Funktionen des Gehirns geschrieben. Was sagst Du von dieser Massensuggestion, die in kürzeren oder längeren Zwischen- räumen die zivilisierte Welt heimsucht? Wv liegt der psychologische Erklärnngsgrund zu diesem in unseren Tagen so äußerst häufigen Phänomen?" Der Doktor zuckte die Schultern. „Meine Abhandlung wurde gehörig herunlergesäbelt. Gott Hab' sie selig. Ich bin jetzt Militärarzt und habe weiter keinen Ehrgeiz mehr. Was den Mcissenhypnotismus betrifft, ist die Frage noch nicht völlig aufgeklärt. Ich will� Dir nur eine Sache sagen, Fontanara. D» hast von Deinem Standpunkte aus mehr recht, als die Nüstungseiserer von ihrem. Aber das bedeutet an und für sich sehr wenig, falls Du nicht eine genügende Anzahl von dem größeren Wert Deiner Ansicht überzeugen kannst, sie mit anderen Worten allgemein zugänglich machst." „Ja, aber meine Ansichten sind weder neu, noch geheim. Alle kennen sie. Ich verlange nur, daß jeder ehrlich und vorurteilsfrei denken soll." „Dann verlangst Du zuviel." „Glaubst Du? rief Pietro mit wirklicher Angst. „Ruhig, Fontanara. ruhig!" warnte der Arzt. „Ich versteh', was Du meinst. Die Lügen hindern die Völker am Sehen. Man hat sie ja glücklich so weit gebracht, daß sie das, was ihnen am meisten schadet, am eifrigsten hegen und pflegen. Es ist ein rührender Anblick, alle diese Aufopferungen, denen sich die Nationen unterziehen, um den Krieg beizubehalten. Man rüstet ununterbrochen für den Frieden, und die Folge davon wird, daß man früher oder später vor dem Kriege steht." „Was suchst Du unter Deinem Kopfkissen?" „Mein Notizbuch. Ich sagte vorhin, der Kern des Krieges wäre Lüge. — Danke. Del Ponte!— In diesem Buche hier habe ich einige Beweise für meine Behauptung gesammelt. � Die erste Frage ist, wie kann man erlauben, daß ein Krieg geführt wird? Ja, ganz einfach, weil niemand, nicht mal die, die selber daran teilnehmen, wissen, was der Krieg ist. Sieh nicht so erstaunt aus, Del Ponte, es verhält sich so. Man hat eine Reihe von Lügen über >cn Krieg zusammengedichtet, man hat darin von Mut, Tapferkeit, Ehre geredet... den ganzen Reichtum der Sprache an großen Wor- ten und klingenden Phrasen erschöpft, lind die Völker glauben an diese Lügen oder bilden sich ein, es zu tun, was auf eins heraus- kommt. Aber das Sonderbarste ist, daß, sobald man einen Soldaten nach seiner Ansicht über den Krieg fragt, so hat er eine Antwort für die Gebildeten oder die Vertreter der Behörden und eine ganz andere für die Kameraden im Glied. Sieh, Benedetti, der am selben Tage fiel, als ich verwundet wurde, sagte:„WaS Krieg ist? Läuse, nichts als Läufe."— Aber, glaubst Du, er hätte das einem Zei- tungskorrespondentcn geantwortet, einem Offizier oder sonst einem beliebigen Herrn? Nein. Ein anderer Kamerad, Rapagnotti, ein » Mürrischer und verschlossener Raufbold, gab mir auf dieselbe Frage zur Antwort:„Hungern". Dabei aß er dreimal soviel, wie irgend- einer von uns. Das Merkwürdige war, daß er sein ganzes Leben hatte hungern müssen und es gewohnt war. aber plötzlich ein rich- tiger Fresser wurde... als Soldat in Afrika . Und wie diese bei- den Unzufriedenen prahlten alle gegenüber den Außerhalbstehenden bveit und breit mit dem Kriege, mit ihrer Begeisterung dafür, mit Angriffen und Gefechten, mit Kampflust und Todesverachtung. Sie haben eine Menge Phrasen gelernt und benutzen die als Antwort. Aber sie lügen nicht bewußt. Und nach dem Kriege, wenn sie freie Männer sind und vor keinen unangenehmen Folgen bange zu sein brauchen, werden sie in derselben Weise dabei bleiben. Das ist ein Beweis von Mut und Mannhaftigkeit, womit sie sich und ihr Land ehren. Glaub' mir, dieser Rapagnotti, der Bauer, dem die Sache so wider die Natur geht, daß er bisweilen vor Unlust nicht zurech- nungsfähig ist, wird späterhin die Hand aufs Herz legen und ehr- lich antworten, daß der Krieg seine schönste Zeit gewesen ist. Du zuckst die Schultern, ungebildete, kritiklose Soldaten, meinst Du... Du kannst überzeugt sein, daß es sich mit den Offizieren genau so verhält. Nach dem Frieden, wenn die Wunden geheilt sind, und der Krieg eine Episode in ihrem Leben ist, werden sie nur die Kraftentwickclung, die Spannung des Abenteuers, das Verlockende der Gefahr, den Siegesrausch erinnern. Alles andere ist vergessen. Das bange Warten der langen Nächte, die Nervosi- tät, die heimlichen Triebe, die losgelassenen Leidenschaften, die Wunden, die Krankheiten und der ekelhafte Schmutz, der für viele von ihnen wohl das Schlimmste von allem war. Die Menschen find sehr schwach, Del Ponte, sie sagen lieber das, was man von ihnen verlangt, als die Wahrheit. (Schluß folgt.? JVeuc ßcUctnftik, In bet Sommer- und Reisezeit erhält der dickleibige Roman in den Novellenbänden eine starke Konkurrenz. Man darf diese kleinen Geschichten nicht mit der durch Flachheit oder fauligen Ge- ruch gekennzeichneten Bahnhofslektüre verwechseln. Wie der heu- tigc Roman in seinen guten Vertretern— ich spreche nicht von der Massenfabrikation gerissener Spekulanten— dem Geistigen und dem Kunstwerk zustrebt, will auch die heutige Novelle mehr als Unterhaltung. Eine Anzahl dieser Gedanken- und Jdccnnovellen- bücher habe ich aus dem Stoß neuen Belletristik herausgesucht. Siä bemühen sich aile um ein: sichtbare Kunstform, sie haben das zentri- Pedale System, daß heißt, sie treiben einem Mittelpunkt zu, statt daß sie auseinander treiben und reichen einen Kern. Diese Ein- dampfung. Konzentration, das Extraktive schluckt sich gerade in den Ferien besser, als der zentrifugale Roman, ohne daß wir dabei etwa intellektuell verkürzt würden. So glaube ich ist der spezifische Gewinn aus dem Novcllenband „Umwege" von Hermann Hesse , Verlag S. Fische r, Berlin , nicht geringer, als etwa der aus des Verfassers naturbc- seelten umfangreichen Romans Peter Eaunuciud oder eindring- lichen Erziehungsbuchcs Unterm Rad. Alle die Vorzüge dieser gc- würdigten Bücher: die schlicht-natürliche Redeweise in einer an den späteren Goethe und Keller gereiften, klaren, männlich bestimm- ten Prosa, die innere Harmonie von Seele, Landschaft und Stim- mung, nicht zuletzt eine durchleuchtende Sittlichkeit, die wohl hier und da etwas steifleinen und pedantisch gefärbt ist, doch nie die moralische Tendenz aufdringlich unterstreicht, vielmehr den den- kcndcn Leser selbst die ethischen Schlüsse ziehen heißt, finden sich auch in den Erzählungen. Sie werden uns besonders wert als Gegengewicht gegen die Vcrccnkungskünste der kulturmüdcn Ar- tisten,"die schillernden Stil-Aestheten und Stil-Athleten, die gesin- nungsschwitzenden Bildungsprotzen und Heilprediger, diese stillen. abgeklärten, geistig gestützten Lebcnswegweiser, die Hermann Hesse unter dem Generalnenner Umwege vereinigt hat. So geheißen. weil der Dichter auf Umwegen seine Menschen zum Ziele führt. für das sie ursprünglich geschaffen und bestimmt waren. Groteske. lächerliche, gefahrvolle, verbrecherische Umwege oft, und das er» sehnte Ziel, das die von dunklen Schicksalsfäden gelenkten Lebens- Wanderer auf stolzem Berggipfel erträumten, ach! wie oft lag es zuletzt im öden Nebel des grauen Alltags, in den nahrhaften Wiesen des Flachlandes, gar am Rande eines Sumpfes! So ein Ladidek zum Beispiel muß Barbier werden, weil er eben dazu und nicht zum Notar, wie man wollte, in seinem Urwesen bestimmt war. Und ein Pater Matthias, der das Doppelleben eines Mönches und eines Lebemannes führt, muß erst an den Rand des Verbrechens geführt werden, ehe er erkennt, daß sein Ziel der bürgerliche Ehegatte ist. Der junge Weltverbesserer Reichardt muß erst absonderliche Irr- Wege als lodener Asket und hygienischer Erlöser gehen, ehe er seiner Braut versprechen kann, daß er auch als Richlvegetarier in Zukunft an der Heilung des sozialen Zeitelenos mitarbeiten will. Hesse findet mit aufmerksamem Blick jedesmal das Gesetz, unter dem so ein scheinbar nur durch Zufälle geleitetes Leben steht. Er lehrt den Glauben an das Ich und seine Kräfte. Das ist das erfreulich Einheitliche dieses guten Buches. Das unerfreulich Einheitliche ist, daß alle Erzählungen prompt mit Verlobung enden. Dieser sche- matische Ausklang mit Aussicht aus legitime Volksvermehrung wirkt fast komisch. Satirischer gefärbt sind die von Schnitzlers Geist und Schnitz- lers Betrachtungsweise des Lebens befruchteten Novellen: Dis plötzliche Insel des Wiener Autors Ludwig Hirschfeldi (Tenien-Verlag, Leipzig ). Sie variieren alle mehr oder weniger das Thema Geschlechtlichkeit und Liebe in einer scharmanten und nachdenklichen Weise. Allerdings gefallen sie sich dabei in absow- derlich konstruierten Situationen, die die gewandten großstädtischen! Lebensspieler zu einem plötzlichen Abwerfen der Maske der Kon- vention und Gescllschaftsheuchelei zwingen. Freilich ist hier bei Hirschfeld der Beweis, daß der so selbstbewußt getragene„Kultur, lack" jämmerliche Risse bekommt, sobald nur eine Art Straflosig- keit und gesellschaftsrichterliche Beobachtung außer Sicht sind, wicht in ein tragisches Ethos gehüllt, ein ironisches Lächeln nur begleitet die betrübliche Tatsache. Im Falle der Gefahr fallen die anstelli- gen Tugenden, wie Nietzsche den zivilisierten Menschheitsverkehv nannte, hinterher geht man beschämt auseinander. Hinterher, wen» sich das Rettungsboot mit der Mama, den Tanten, den alten galan- ten Herren, den Neurasthenikern, den Sportskretins, den süße» Mädchen und korrekten Halbjungfrauen der Insel nähert. Und» dann erzählt das Buch neben den Abenteuern der Lebensspielev von unglücklichen passiven Mitspielern des Lebens, die nicht wissen. daß Erlebnisse, Liebe, abenteuerliche Dinge einem nicht auf gera, dem Wege entgegenkommen, sondern den Nichtsahnenden vielmehr hinterrücks, unvorbereitet zu überfallen pflegen. Wem derart me- lancholisch-weltmännisch-philosophische Glossen über Junggesellen- moräl, zur Ethik des Abenteuers, zuv Optik des Maturaferienreisen, den, zur Taktik des berufsmäßigen Frauenverführers, zur Müßig» gangsseele des Genußmenschen eine willkommene Ferienkost be- deuten, der ist bei Ludwig Hirschfeld gut aufgehoben, denn er findet nicht nur die Seifenblasen des Flirts, sondern, wie bei Schnitzlcr» eine reizvoll verstehende Weltbetrachtung. In den Skizzen: Die knöcherne Hand von Karl Hans Strobl , Verlag Georg Müller, München , spukt der Geist E. Th. A. Hoffmanns. Dieser irrlichterierende, auf das Grausige, Geheimnisvolle, Unerklärliche gerichtete Geist geht ja überhaupt in unserer Literatur heute wieder stärker �m als je. Man denke nur an H. H. Evers letzten Roman oder Gustav Meyrinks beklemmende Bilder, auch an Hermann Bangs letzte Novellen, wo das Gespcn- ische Dirigent der Geschehnisse ist. Eine Atmosphäre des Haar- raubenden umwebt auch K. H. Strobls Novellenreihe, jedoch es ist
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29 (17.8.1912) 159
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