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und fonnte sich selbst nicht weich genug machen. Alles warlift, in der Bodelschwinghschen Elendstolonie Goffnungstal fein für ihn da. Und so unfaßlich weich fonnte sie sich selbst Leben zu beschließen. Trok Weib und Kind. Der Dreißiger war Bezirksfeldwebel im Elsaß und wurde machen. Die Vorsehung hatte all ihren Reichtum und alle hre Wärme in ihren Schoß geworfen. Es wunderte ihn wegen Amtsunterschlagung degradiert und so weiter. Strafmaß und Gefängnis verschweigt er. Die Karikaturen des deutschen nicht, daß sowohl das Leben als auch das Glück feiner Brut- Militärs wirken immer luftig. Dieser Mann war ehedem bestallt play dort wählte. und befliffen, das frische Franzosentum durch preußische Zucht Ihre Liebe nahin mit der Sonne um die Wette zu an auszutreiben. Nun ist er zur natürlichen Entwicklung der deutschen Kraft und Glut und machte es überall leicht und gut, da blieb Stlaberei gekommen. Hierzulande ist der Zuchthäusler manchmal fein Play fiir etwas Dunkles. Belle nahm alle Verdrießlich ein freierer Mann als der Kasernenhäusler. Der echte Soldat Feiten mit einem großen Lächeln hin; er ging umher in einem bleibt auch durch Knute und Gefängnis Patriot. Diesem ehemaligen Militärbureaukraten heißen heute noch Fürft, Vaterland und Zustand von halber Betäubung, selbst die ernstesten Geschäfte Kanonen höchste Begriffe. Frühjahrs- und Herbitparade und jede fonnten Ellens Bild nicht aus seinem Sinn verdrängen. Ihr höfische Masterade sind seine großen Berliner Ereignisse. Er verheißer Atem machte den Tag hindurch die Luft um ihn her steht die Kunst, in strammer Haltung im Staube zu triechen. Zoll erglühen und veranlaßte ihn, heimwärts zu eilen. Und da- und Bad, unser Schreibstubenaufseher und der Degradierte, stehen heim bei Tische hatten sie geheime Zeichen, die sich auf ihre deshalb im besten Verhältnis, Bad genießt ein relativ hohes Anverstedte Welt bezogen. Sie durchlebten die erste Liebe der sehen beim Bureaupersonal, für das er niedrige Dienste mit hünJugend mit ihrer füßen Geheimnisfülle und lachten einander discher Luft verrichtet. Niedrige Naturen Tommen hoch. Jack wird zu in jungem und verstohlenen Verständnis, als überwache sie wieder hochkommen. Der Junge, vielleicht zweiundzwanzigjährig, ist Berliner . Die die ganze Welt und dürfe nichts wissen. Wenn sich ihre Füße Berliner find primitive, flare und glatte Menschen. Der junge unter dem Tisch berührten, begegneten sich ihre Augen, und Reichert hat Braut und Kind. Die Braut gibt ihm Nahrung und Ellen errötete wie ein junges Mädchen. Ihre Hingebung war Notdurft. Sein Notstand wird dadurch zu einer lächelnden Ges so stark, daß sie kein Mitwissen duldete, nicht einmal zwischen lassenheit. Nach dem Refrain: mir kann Keener, ooch nicht Gener... ihnen felber. Es lag eine rote Flamme über ihrem Antlig Als Telephonist einer großen Weinfirma hat er einem Kollegen und die Augen waren verschleiert, als bewahre sie die unjag- Hehlerdienste getan und das Geld mit ihm in Dirnen und Seft bare Süße des Stelldicheins von einemmal zum anderen. Befest. Der Kollege der Duffel", sagt Reichert hat sich erSie sprach nur ungern, antwortete am liebster mit einem schoffen, Reichert ist in einem schönen Winkel Europas als Vergnügungsreisender gefahndet" worden und lebt nun der Erinnerung Lächeln, ging fummend umher und trug ihr junges Glück. dieser Tage. Sechs Monate Hochschule Tegel machen einen echten C- Berliner erst voll, sagt er. Daß sein Sedbriefbild in Berliner Blättern stand, gilt ihm als Triumph.
Eines Nachmittags, als er nach Hause geradelt kam, nahm ihn Ellen nicht in Empfang, wie sie zu tun pflegte. Eine Angst überfam ihn, und er eilte hinein. Das Sofa war in ein Bett umgewandeit. Ellen stand davor und beugte sich über Johanne, die dalag, vom Fieber geschüttelt. Sie richtete fich nicht auf und machte ihm ein Zeichen, leise zu sein. Die Kinder jaßer in einer Ede und starrten ängstlich die Kranke an, die mit geschlossenen Augen dalag und leise jammerte.
Sie kam heute nachmittag hier herausgerannt," flüsterte Ellen und sah ihn so wunderlich an, ich ahne nicht weswegen. Sie ist schrecklich frank. Ich habe Laffe Fredrik zu Morten geschickt, damit er weiß, daß sie bei uns ist!"
9)
( Fortsetzung folgt.)
Tagebuch
eines entlaffenen Sträflings.
Von Hans von Glümer.
25. Mai.
Im trodenen Tone muß ich meine Tage erzählen. Es jauchat und wimmert nichts mehr. Der Frühsommer blüht und duftet. Arme Seele, die sich verkriechen muß. Man objektiviert sich hier. In dieser herzlosen Stadt wird man ebenso. Das Gemeinsein wird Schutzfarbe.
Um zu Herrn von Kupffer, dem gewaltigen Chefredakteur des Berliner Lokal- Anzeigers vorzubringen, habe ich eigens VisitenTarten gekauft. Erfolglos. Er läßt mich nicht vor, reagiert in Teiner Form auf den Empfehlungsbrief des Gefängnispfarrers Dieftel. Zum deutschen Kaiser könnte man leichter gelangen.
In der Schreibstube für entlassene Sträflinge bin ich nun doch zu Gnaden gekommen und habe in der ersten Woche zwei Mart dreißig, in der zweiten weniger verdient. Es macht sich bezahlt, daß die vorsorgliche Freiburger Gefängnisverwaltung mich Schreibmaschine lernen ließ. Meine Handschrift bleibt verfemt in der Schreibstube, aber ich darf Formulare tippen.
Auch in die Gemeinschaft der Mitentlassenen bin ich gefommen. Die menschliche Gesellschaft ist wie ein Meer von Wellenfreifen. Den Zugehörigkeitsnachweis verlangt jeder Kreis. Ob er S. C., S. J., Jnnung, Gemeinde oder Bartei heißt. Es kommt keiner unbefehen in ein preußisches Gardekafino, in einen Stamm menschenfreffender Südseer oder in eine Verbrecherkolonie von Frisko: er muß die verlangten Lafter vorweisen.
Der Alte, der Dieißiger und der Junge sind noch in der Schreibstube. Der Alte war Rendant einer Raiffeisentasse in Rottbus und dann vier Jahre im Gefängnis dort, wegen Urkundenfälschung. Dreieinhalb Monate Untersuchungshaft sind ihm nicht angerechnet worden. Für ein( erfolglos gebliebenes) Gnadengesuch an den Kaiser mußte er siebenzig Mark zahlen. Butras sieht wie ein Begetarier aus und lebt von kondensierter Milch und Schrotbrot. Vier Jahre Gefängnis machen jeden normalen Menschen gum Simpel oder zum wilden Tiere. Putras haben sie fromm und weibisch gemacht., Ueber jede nicht gottergebene Bemerkung fährt er auf oder hält das Haupt wie ein Dulder. Seine lehte Hoffnung
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Da ist noch ein Bierter: Brügge , der Schwerhörige, fein Thy , sondern ein Tepp. Mangelnde Zurechnungsfähigkeit( eigene und richterliche) brachte ihn ins Gefängnis, wo er doch in eine Berforgungsanstalt für Halbsimpel gehörte.
Gestern fam ein Fünfter: Longinus , der Badener . Sprache ist wie Mufif. Die Silbe an", badisch gesprochen, flingt mir wie das Andante eines Liedes. Longinus fagt Landsmann zu mir, der ich doch ein Göttinger Kind bin, und wir tauschen Erinne rungen aus dem besten deutschen Lande, wie eine freundliche Ware. Er ist noch stolz gegen die andern, aber ich habe ihn schon beinahe ausgeschöpft. Longinus trägt ein Cäsarengesicht und geht in Lumpen. Er ist Oberamtmannssohn, alter Herr eines Heidelberger Feudaltorps, Reserveoffizier der Karlsruher Leibgrenadiere. Der gerfranzte graue Anzug und der zerknüllte Seidenfilahut erzählen bon alter Herrlichkeit. Aus dem von Regen und Dred verwaschenen braunen Schuhwerk schaut ein Hühnerauge zum Himmel. Longinus aber schreitet wie ein König auf dem Fleisch seiner Sohle. Der hohe Halskragen ist Schweiß und Schmuh. Wie tapfer die Schlägernarben über dem Kragen stehen. Longinus hat in Karlsruhe Mathematif, in Heidelberg Jurisprudenz studiert, Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in Berlin . Er ist Bantier und eine schwerreiche Breslauer Bankierstochter seine gewesene Braut. Sie ist mit einem amerikanischen Milliardär durchgegangen. Mit einem Multidollarmilliardär potenziert Longinus , und das Staunen der Schreibstubengenossen wird fast demütig. Er selbst tam auf den Hund durch Jagdvergehen. Man erfährt nichts Näheres über diese standesgemäße Geschichte und das große Loch zwischen einst und jest bleibt dunkel. Longinus gibt nur ruhmreiche Dinge von fich. Wegen Pistolenduells mit tödlichem Ausgang wurde er zu zweieinhalb Jahren Festung verurteilt und nach vier Monaten Rastatt ( der lustigsten Zeit seines Lebens) vom Großherzog begnadigt. Das ist schon lange her. Bei einer spätern Partie auf schwere Säbel ist der Gegner erst nach zwei Jahren gestorben. Kein Hahn und fein Kläger frähte mehr nach dem Totschläger. In der Bollstüche in der Stralauer Straße, wo unter zehn Gespeisten immer neun Entlaffene find, macht Longinus eine interessante Figur. Die Suppe verschlingt er mit der Schüssel am Mund. Wie einen Dierjungen. lebrig gebliebene Refter ladet er mit den Fingern auf seinen Teller. Erfahrene Sträflinge behaupten, so fönne nur ein langjähriger Zuchthäusler fressen. Longinus aber hodt erhaben und breit vor feinen Portionen und seine Blide haben nur flüchtige Berachtung für den Pöbel links und rechts. Wehe dem, der seine Ellenbogenweite stört. Gestern und heute ist Longinus wild geworden wie ein Kontrahagenfer! und seine Stimme hatte wenig mehr vom lieblichen Andante eines Liedes. 27. Mai.
Longinus , der Oberamtmannssohn, ist acht Tage obdachlos gewesen. Er hat sich nachts, wer weiß wo, herumgetrieben. Er sagt nicht wo. Das geht gegen sein Standesgefühl. Am Tage der Aufnahme in unserer Schreibstube hat er wieder ein menschliches Nachtlager bekommen, in einer der Herbergen des Fürsorgevereins. Das find vom Verein ständig gemietete Schlafstellen bei privaten Leuten, welche die Pflicht haben, den Schüßling unter solide Aufsicht zu nehmen. Er muß um sechs Uhr in der Frühe das Haus verlassen und bis zehn Uhr abends dort sein. Longinus kam zu einer alten Frau in der Urbanstraße. Er hat es aber nur drei Nächte ausgehalten. Die vielen Wanzen find gegen sein Standesgefühl und das alte Weib ist eine hundsgemeine Here, sagt er. Nun ist Lon ginus wieder obdachlos,