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Heute gingen wir nach Schreibstubenschluß um drei Uhr auf spielen die Flammen aus den Kandelabern des Haymarket- Musett Erwerb aus. Mein Barbermögen betrug 85 Pfennig. Wir suchten tempels. Viele Damen, die das Stehen schlecht vertragen, nehmen das Bureau des Vereins Berliner Preffe in der Maaßenstraße. auf winzigen zierlichen Stühlchen, die sie mitbringen, Blah, ohne Auf dem Wege erzählte Longinus interessante Dinge von den stolzen daß die übrigen oder die feisten Riesenterle von Bolizisten etwas Häusern der vornehmen Viertel. Er tennt Berlin W. wie seine einzuwenden hätten. Nur wenn Neuankömmlinge die Schar vera Westentasche. Dem Geschäftsführer des Vereins Berliner Presse stärken, murmeln die Bobbies zu einer fortwährenden Bewegung mußte ich meine Geschichte hersagen. Er wies mich an den Schaß- mit den Handschuhen ihr gelassenes Move on, Move on"( weiter), meister des Vereins, Redakteur Bernhard bei der Ullsteinpresse. worauf sich die Kette stets etwas zusammenzieht. Doch herrschten Der würde jedenfalls etwas für mich tun, denn er wäre Sozial- fast immer Ruhe, Entgegenkommen, Höflichkeit, ja Liebenswürdig demokrat. Das scheint ein guter Vorwand für Nichtsozialdemo- teit vor, arges Gedränge oder gar Grabheiten gehören zu den fraten, nichts für arme Leute zu tun. Ich hatte mich dem Ge- Seltenheiten. schäftsführer nicht als Sozialdemokrat vorgestellt, da ich es noch nicht bin. Und ein sozialistisch gefinnter Bittsteller vor Bürgerlichen gilt doch sonst als Gans vor Füchsen.
Longinus als Kenner in Pfandhaussachen ging meine Bretiofen verseßen, einen Ring und eine Haarkette, Andenken an herzselige Zeiten. Weil ihr Wert keine drei Mark ausmacht, gab es nichts dafür. Longinus frug dann, wie viel ich ihm heute geben könne. Er durfte zwei Zigarren zu fünfzehn Pfennig kaufen und den Nest von siebzig Pfennigen teilten wir. Longinus schien beleidigt über feinen Anteil. Er steckte seine Zigarre ein und sagte:„ Ich rauche prinzipiell nicht auf der Straße. Es ist nicht fein."
Herrn Hans Weddo von Glümer.
Sehr geehrter Herr!
27. Mai.
Kaum haben wir so ein paar Augenblicke gestanden, als bor dem Theater ein Theater anfängt, wie wir es einzig nur hier erleben können. Denn das wartende Publikum soll zerstreut werden, und von diesem Zerstreungsbedürfnis vor Beginn der Bühnendarstellung und vor dem Aufgehen des eigentlichen Vorhanges fristen Hunderte von sogenannten Straßentüaftlern" ihr Dasein. Und manche dieser Straßentünstler sollen dabei viel besser fahren als Künstler auf den Brettern.
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Den Reigen eröffnet ein würdevoller Fiedelgreis von Hohent Wuchs, in einen weiten Mantel gehüllt und mit einem mächtigen Filz auf dem Haupte, den er ins Gesicht gedrückt hat. Der felige Wotan als Wanderer aus dem„ Ring des Ribelungen" ist doch nicht auferstanden? In seinem Arme hält er etwas, das eine Geige sein soll. Mit stattlicher Berbeugung tritt er vor sein Publikum. Nach langem, bangem Ueberlegen kommt in einer mutigen Und dann entlockt er feinem Marterinstrument dünne JammerStunde( der Mut der Verzweiflung) ein Träger Ihres Familien- klänge, die von Not und Hunger sprechen und uns durch Mark namens auf diesem Wege zu Ihnen mit der Frage, ob Sie sich und Bein gehen. Aber oft ertrinten diese Klänge im Verkehrvielleicht für seine Not, die man Schicksal oder Verschulden nennen gebrause des in ewiger Bewegung scheinenden Haymarket. An fann, intereffieren können. Ich bin der jüngste Sohn des. feinem Spiel berauscht sich der Greis. Manchmal hält er wie ver Bruder des.. Journalist, mit schriftstellerischen Aussichten, die zaubert inne. Endlich zielt Wotan den Filz vom Haupte, weiße ein Optimist möglicherweise als glänzende ansehen dürfte( Betäti- Locen quellen hervor. Kupfermünzen fliegen flirrend in den Hut. gungshindernis: Hunger und das Fehlen persönlicher Verbindungen) Eine Dame neben uns wischt sich die Augen. Wotan verbeugt sich und meiner sozialen Stellung nach entlassener Strafgefan- dankend und tritt ab. gener( 7 Monate Landesgefängnis Freiburg;§ 176, 3), der sich, als es nicht anders mehr gehen wollte, dem hiesigen Verein zur Besserung der Strafgefangenen" unterstellt hat, seit zwei Wochen in dessen Schreibstube das fümmerliche und fummerreiche Brot der Leidensgenossen genießt, mittags mittels Speisemarten der Boltsfüche fich fatteffen darf, am 1. Juni die Schlafherberge dieses Wereins beziehen muß und bis dahin noch alles versucht, 10 M. für seine jebige Zimmervermieterin aufzubringen.
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Möchten Sie, verehrter Herr Better, einmal etwas aus dem wilden Leben eines Verwandten erfahren, der nie leichtlebig war, ben aber der Fluch der Volksschulbildung und eine unselige RatTofigkeit seiner Kräfte bis hierher gebracht hat?
Ich grüße Sie, ratlos der schicklichen, schriftlichen Form eines Grußes Hans Glümer.
Der Brief ist so frei im Ton, weil ich annehmen mußte, daß der Empfänger aus eigenen Kämpfen das Verständnis der Bohème hat. Er mußte als werdender Künstler die ganze Strenge des adelsftolzen Baters erfahren, ist jetzt freilich diesem hohen oft preußischen Offizier als renommierter Bildhauer und Lieferant des Kaisers über den Kopf gewachsen, on dit: auch reich verHeiratet.
Anmerkung acht Tage später: keine Antwort an mich, feine Anfrage beim Verein. ( Fortsetzung folgt.)
Das Theater vor dem dem Theater.
Ein Londoner Herbstabend nach einem neblig- grauen, freudlosen Arbeitstag. Start belebte Herbstsaison ganze Bilgerzüge wallen ins Theaterland. Von allen Seiten flammen vielfarbige Lichter auf. Der während des Tages troftlos bleiche Himmel wird tief stahlblau. Offene Luxusautos raffeln mit eleganten Gentlemen im Frack und zarten Ladys in kostbarer ausgeschnittener Abendtoilette und Atlasschühlein zu den Musentempeln. Wir wenden uns dem Herzen der Theaterwelt zu, dem grell erleuchteten Haymarket. Rechts die Bühne Herbert Trees, zur linken Hand das Haymarket- Schauspielhaus, das mit einem stattlichen Säulenportal ein Stück Hellas in die Wüste Themsebabels zaubern möchte; bon der Höhe dieser Säulenhalle züngeln Opferflammen aus offenen Gaskandelabern auf und wälzen gespenstische Fluten von Licht über Straße und Menschen. Unser Besuch gilt jedoch den Brettern Trees His Majesty's Theatre". Dort wird jept ein nerventigelndes Flottendrama" ins Wert gesett, an dem sich jeder gute patriotische Englishman berauscht. Und als brave Londoner möchten wir einmal Drake", den wunderbaren Helden, von Angeficht zu Angesicht erblicken und den allgemeinen Begeisterungstaumel mitmachen. Eine schier endlose dunkle Kette spannt sich gleich einer Riesenschlange um den Theaterbau das Publikum, das sich zum Einlaß in die Galerie und in das" Pit"( Parterre) anftellt. In Reihen von bier oder fünf hat es sich unter der Bebachung aufgepflanzt und zeigt die für eine Londoner Schar so charakteristische See von Gefichtern und steifen Schwarzhüten der Männer. Doch fehlt es keineswegs an buntem Gefieder, hier wie bei allen übrigen Theatern der Themsestadt. Auf den Gesichtern
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Ihm folgt ein Ehepaar in seltsamer Kostümierung. Er trägt eine grasgrüne Haube, knallrotes Wams, Räubergurt, Kniehosen und Schnallenschuhe. Bon ihrem Scheitel flattern bunte Bänder, das Geficht ist stark geschminkt, die Augen glopen. Ihr Rod hat den Umfang einer Krinoline. Und nun geht ein Duett los zum Steinerweichen. Alle neuesten Mufikhall- Schlager ertönen im Diskant. Sie wechseln ab mit irischen und schottischen Balladen, zu denen das männliche Gespons eine Guitarre zupft, die ihm über die Schulter hängt. Sie versucht ihn zu überschreien, eilt ihm oft ein paar Takte voraus, und es entsteht ein wahres Wettrennen im Zwiegesang. Vor wilder Begeisterung schütteln sich die beiden. Oh Ihr Leute, die Ihr angestellt feid, werft Ihnen ein paar Bennies zu, auf daß fie endlich verftummen. Unsere Nerven haltens nicht mehr aus. Aber welche Fronie! Der Kupferregen ruft danka bare Gefühle im Busen dieser Beiden wach, und zuleht stimmen fie noch eine Art Huldigungsständchen an.
Wie sich das gute Bärchen zum Abzug rüstet, atmen wir auf: Doch sollen wir feinen Moment zur Ruhe kommen. Denn blit schnell tritt ein schlanker Jüngling aus einer dunklen Ede hervor. Er schüttelt wild die schwarzen Haarsträhnen, die ihm vom Haupte wallen. Seine Augen sprühen. Dramatisch redt er die Rechte in die Höhe, die Linte holt wie zum Schlage aus. Er fängt an zu rezitieren. Was ist es nur? Bekannte Worte schlagen an unser Ohr: die Forumsszene ist's aus Julius Cäsar " und Markus Antonius von der Londoner Straße fteht feuerspeiend vor uns da. Er brüllt und grunzt, er flötet, winselt, heult und fäuselt. Stellenweise vermeint man ein wahres Talent zu hören. Aber kaum hat Mark Anton lauten Beifall für seine Beredsamkeit eingeheimft, als er sich auch schon in eine Komödienfigur verwandelt und mit Quieten, Poltern und Gelächter eine ganze Szene aus Sheridans .School for Scandal" aufführt. Der Schweiß rinnt dem Armen von der Stirn, wie er so mit Händen und Füßen arbeitet und die rollenden Augen fast aus den Höhlen zu treten scheinen. Seine paar Bence verdient er fich redlich. Doch ist er noch lange nicht fertig. Denn nun hebt er zum höchlichen Ergößen und Gaudium des ganzen Bublifums an, die bekanntesten und gefeiertsten Lon doner Mimen ernste und heitere, selbst Herbert Tree สน fopieren und dann in grausamer Weise zu farifieren! So weit geht die britische Freiheit. Wahrhaftig, gar kein übles Theater vor dem Theater!
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Zahlreiche Instrumentalmusiker lösen sich in buntem Wechsel ab. Da kommt ein Mann mit einer Flöte und seine Gattin mit einer Ziehharmonika. Ein dritter führt auf einem Schlagbrett mit Klöppeln, ein vierter an Gläsern ein erbauliches Konzert auf. Dazwischen geht an den Reihen der Wartenden ein Blinder mit einem Zäfelchen und einer Blechbüchse um den Hals auf und ab. Nach Art der Londoner Blinden schlägt er mit dem Stock rhythmisch auf das Pflaster. Ein Mädchen, bermutlich seine Tochter, führt ihn. Wir staunen ob der Eleganz, mit der fie fich trägt. Ein großer runder Federhut gibt ihr faft das Aussehen einer Lady. Und wir staunen, mit welch geschäftsmäßiger Stimme sie unermüdlich ruft: Blind man, please, blind man, please!", während sie den Blinden weiterschiebt und die Pennies in die Büchse fallen. In den Stimmenwirrwarr mischt sich das Gezeter der Programm- und Süßigkeitshausierer, das Gebrüll der Zeitungsjungen, die von farbigen Plakaten umhängt, aus Leibeskräften schreiend umherrennen und die leßten Neuigkeiten in alle elt hinausschmettern, und daran nicht genug, ziehen Tänzer in abenteuer