Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 107.
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Donnerstag, den 5. Juni.
Das entfeffelte Schicksal.
Roman von Edouard Rod . Also," begann er, Frau de Pellice ging niemals zu Lermantes; in ein Haus, in dem ihr Mann so freundschaftlich verkehrte!... Das ist doch sonderbar; fanden Sie das natürlich?"
Sie glaubte sich aus der Affäre zu ziehen, wenn sie diese Meinung bestätigte.
War sonst außer Ihnen noch jemand darüber erstaunt?" Sie legte die Hand auf den Mund wie ein erschrecktes Kind, das nicht antworten will.
Fand niemand diese Sache eigentümlich?" fragte noch einmal Herr Motiers de Fraisse.
Dia. man fand es merkwürdig... aber wer. die Portierfrau... die Waschfrau... das waren Klatschereien!"
,, Hier haben Sie auch Klatschereien zu wiederholen, Frau Donnaz!... Hier ist nichts gleichgültig. Wir wollen wissen, im Interesse der Wahrheit, im Interesse aller, weshalb der General dem Angeklagten so viel Zuneigung bezeugte. Also was wissen Sie?"
" Ich war doch nur ein armes Dienstmädchen... ich wußte so wenig!"
Herr Motiers de Fraisse machte eine befehlende, unge. duldige Bewegung.
Sagen Sie alles, was Sie wissen!... Sie haben geschworen, die volle Wahrheit zu sagen, und Sie haben Ihren Schwur zu halten! An dem Punkte, an dem wir angelangt sind, können Sie nicht mehr schweigen. Warum hatte der General so viel Zuneigung für Lermantes? Sch verlange, daß Sie es sagen!"
Die alte Frau zog die Schultern ein und machte sich so flein wie möglich.
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Aber er war doch sein Pate, Herr Präsident... sein Bate! Er hat ihn doch zur Welt kommen sehen... Herr Lionel war doch der Sohn von... von seinem Freund!" Das alte Geheimnis, das so viele Jahre erstickt gewesen war, stieg aus dem Abgrund empor, es war da und zitterte auf diesen Lippen, die es gleich preisgeben würden. Alles wartete mit angehaltenem Atem. Lermantes war aufgeftanden und blickte über den Kopf von Brévine hinweg, der seinen schwarzen Aermel der Zeugin abwehrend entgegenstreckte. Chaussy hatte sich aufgerichtet, ihm traten die Augen aus dem Kopf heraus. Rutor hatte sich über sein Bult vorgeneigt, um das entscheidende Wort aufzufangen.
Sie sagen nicht alles!" rief der Präsident. Um Luise Donnaz herum begannen sich die Köpfe der Richter, der Gerichtsdiener, der Gendarmen, der Soldaten, alle diese Baretts, Helme, fable Schädel in wildem Tanze zu drehen. Die Kehle war ihr wie ausgetrocknet, ihre Stirn war mit Schweiß bedeckt, dicke Tränen rollten ihr die Wange herab, ihre alten Glieder begannen zu zittern.
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Ach," sagte sie ,,, ich... fagte alles, alles was ich sagen konnte."
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Eine Menge unflarer Erinnerungen zogen jekt an Lermantes' Geist vorüber. Diese Szene erklärte ihm plößlich unbestimmte Eindrücke, die ihn bisher kaum beschäftigt hatEr war wie von Phantomen umgeben, er sah Herrn de Pellice in den Salon treten an ihrem Tisch sitzen plaudern, rauchen, lachen; dann sah er ihn während der Agonie seiner Mutter jeden Augenblic fommen sich auf den Stuhl setzen, den man ihm wies- warten und beim Weggehen sah er einen solchen Schmerzenszug auf dem harten Gesicht, daß dieser Ausdruck sich dem Kinde eingeprägt hatte, und ihm heute vor Augen stand und ihm die Wahrheit zuschrie
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Warum können Sie nicht sagen, was Sie wissen?" fuhr Herr Motiers de Fraisse fort. Was hindert Sie." Die alte Frau rang stöhnend die Hände. " Ich habe geschworen... ich habe geschworen
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1913
,, Solche Schwüre haben hier keinen Wert. Hier gilt nur ein Schwur, und zwar der, den Sie soeben geleistet haben. Sie schworen, die volle Wahrheit zu sagen."
Ein wahnsinniger Schrecken erschütterte Lermantes. Ein berzweifelter Schrei„ Schweigen Sie!" erstickte in seiner Kehle, gleichzeitig ein übermäßiges Bedürfnis, bis in die Tiefen feines Schicksals zu tauchen, zog ihn zu dieser Frau, deren Aussehen, deren Stimme, deren Existenz er fast vergessen hatte. Sie wandte sich ihm flehend mit gefalteten Händen zu, als ob er allein sie aus dieser Falle befreien könnte, in die man sie gelockt hat. So starrten sie sich einige Sekunden an und mit gebrochener Stimme rief der Unglückliche gegen seinen Willen: Sprechen Sie...! Sprechen Sie doch!"
Luise Donnaz zögerte wieder. Schließlich ganz leise, als ob sie sich nur allein an ihn wandte, flüsterte sie wie in der Beichte: Er war Ihr Vater, Herr Lionel!..." Niemand hörte die Worte. Alle errieten sie. Dumpfes Gemurmel entstand, es schwoll nach und nach an und erfüllte das Prätorium. Den Kopf in den Händen, sank Lermantes auf die Bank zurück. In der allgemeinen Verwirrung beriet sich der Präsident mit seinen beiden Beisigern. Rutor war erregt aufgesprungen. Brévine erhob sich, um den Antrag zu stellen, daß die Untersuchung weiter ergänzt werden sollte. Der Gerichtshof zog sich zurück, um darüber au beratschlagen, der Saal wogte wie ein bewegtes Meer: nicht mehr wie im Anfang wisperte man, man bebte, atmete laut, man schrie. Die Blasierten, die nach ganz besonderen Erregungen jagten, waren hier auf ihre Kosten gekommen: Crévola. der überall einschlief, weil keine Erregung für seinen trägen Geist gepfeffert genug war; Valens, den sein Beruf zwang, großen Dramen, die sich auf der weiten Weltbühne abspielten, zu lauschen; Broz, Lavancher, die sich von jedem Bariser Familiengeheimnis unterrichtet glaubten, Montiorrat, dessen Kunst so gut die wahren Leidenschaften nachahmite: die vielen niedlichen Frauchen, diese geschwäßigen Papageien, fühlten einen geheimnisvollen, schaurigen Atem über sich hingleiten. Onfel Marner starrte vor Schande fassungslos auf den Erdboden, als ob er erwartete, daß er sich jeden Augenblick öffnen Frau sollte. Die Kinder wagten nicht, sich anzusehen. d'Entraque heftete ihre vor Erregung weit geöffneten Augen auf sie. Chaussy zivirbelte an seinem Schnurrbart. Das Unglück des Feindes, gegen den sein früherer Groll sich in polemischen Artikeln Luft gemacht hatte, war vielleicht noch größer als Haß.
Der Gerichtshof kehrte zurück; die Einwände der Verteidigung waren durch sehr gute Beweggründe abgelenkt worden: zwischen dem Opfer und dem Angeklagten bestand fein gefeßliches Band. Das Zeugnis von Luise Donnaz lieferte feinen juridischen Beweis für die Vaterschaft des Generals. Bestand diese Vaterschaft, so war Vermantes ein im Ehebruch erzeugtes Kind, für das gesetzlich weder Rechte noch Pflichten bestanden. In keinem Falle fonnte er des Watermordes bezichtigt werden. Wieder einmal triumphierte eine dieser Lügen, welche soziale Kunstgriffe geschaffen und die der Natur Gewalt antun. Ein solcher Firnis soll die schärfsten Unebenheiten des Lebens glätten, und unter dem Gewebe des Scheins werden die Schrecken der düsteren Wirklichkeit versteckt.
Die Verhandlung wurde auf den nächsten Tag vertagt. Wenn auch die Pläne des Präsidenten zusammengestürzt waren, die Anklage wurde dadurch nicht berührt; aber die Verteidigung war in tiefer Verwirrung.
9. Kapitel.
Als das Bublifum den Saal verließ. ftand es unter dem Eindruck der Enthüllungen: Arbeiter, Handwerker, Herren der Gesellschaft, Militärs, hübsche Frauen, alle, die Blasierten oder die Naiven, waren von demselben Schauder gepackt. Langsam verließen sie das Gericht und standen erst in Gruppen auf dem Plaz vor dem Gebäude, ehe sie sich trenn
Sie haben geschworen, nichts zu sagen? Wem haben ten. Nicht wie sie gekommen waren, gingen sie von dannen; Sie das geschworen?"
Ihm!..
ein wenig mofant, ein wenig grausam waren fie, wie zu einem Schauspiel, hierher geeilt. Ohne daß sie sich über die Gründe